Polens Freiheit – ein Stadtbild

Es hat etwas von Melancholie, wenn man an einem Punkt steht, an dem man vor zwölf Tagen das erste Mal war und nun das letzte Mal ist, und weiß, was sich in diesen zwölf Tagen an Eindrücken, Emotionen und Erkenntnissen gesammelt hat. Die Rede ist vom Stettiner Hauptbahnhof, auf Polnisch Szczecin Główny. Nicht zu verwechseln übrigens mit gówno, das heißt auf Deutsch nämlich das, was auf Französisch merde heißt.

Stettin ist nicht nur schön, es ist vor allem die Antwort auf die deutsche Stadtbilddebatte. Eine Stadt, die Sie sich irgendwo zwischen Berlin, Lübeck und Bamberg vorstellen können und keinerlei Zweifel entstehen lässt, eine Hansestadt zu sein. Der Hafen wirkt bei Sonnenschein geradezu spektakulär, die farbenfrohen Fachwerkhäuser am Heumarkt bieten jedem Mann und jeder Frau, der oder die diese Bauwerke das erste Mal sieht, eine unmittelbare Mundstarre bei offenem usta, wie der Pole zur menschlichen Speiseöffnung sagt.

Je länger man vor Ort ist, desto besser versteht man Polen. Gerade in der Hauptstadt Pommerns, einer Stadt, in der das Polnischsein im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft wurde. 

Wer Stettin heute besucht, vergisst leicht, dass diese Stadt bereits zur Reichsgründung 1870 eine tragende Rolle spielte. Die Verbindung aus preußischer Disziplin, hansestädtischer Handelslust und strategischer Lage machte Stettin zu einem der ökonomischen Motoren des jungen Kaiserreichs. Hier wuchsen Werften, Speicher und Eisenbahnknoten zu einer Großstruktur zusammen, die den Aufstieg des Reiches nach außen absicherte. Von Stettin aus liefen Handelsströme nach Skandinavien, Großbritannien und ins Baltikum; das Kaiserreich wusste genau, welchen Wert diese Stadt für seine maritime Selbstbehauptung besitzt. Ohne Häfen wie Stettin wäre die wirtschaftliche Grundlage der Reichsgründung unvollständig geblieben.

Undenkbar, dass Stettin seinen polnischen Charakter aufgibt 

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg brachten dann jene politische Unsicherheit, die Stettin tief erschütterte. Die Stadt blieb industriell bedeutend, doch Weimars wirtschaftliche Schwächen trafen sie hart. 

Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wurde Stettin in die militarisierte Kriegswirtschaft eingepasst, die das Gesicht der Stadt nachhaltig veränderte. Der Bombenkrieg zerstörte große Teile des Stadtbildes, und mit dem Einmarsch der Roten Armee 1945 begann eine neue Phase der Fremdherrschaft. 

Die sowjetische Verwaltung setzte ein, die Stadt wurde entvölkert, neu besiedelt, verschoben – ein Beispiel dafür, was es bedeutet, wenn äußere Mächte die nationale Selbstbestimmung aushebeln und die ethnisch-kulturelle Ordnung eines Raumes vollständig neu definieren.

Gerade diese historischen Erfahrungen erklären die polnische Sensibilität für nationale Souveränität. Stettin ist ein Mahnmal dafür, wie oft Polen im Laufe der Geschichte zerrissen, übergangen und fremdbestimmt wurde. Die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit nach 1918, nach 1945 und erneut 1989 war jedes Mal ein Kampf gegen politische Übermacht von außen. 

Aus dieser Perspektive ist Polens Beharren auf einem starken Nationalstaat nicht Ausdruck von Verschlossenheit, sondern von historisch gewachsener Selbstbehauptung. Freiheit ist in Mitteleuropa nie selbstverständlich gewesen – in Polen schon gar nicht. Es waren mutige Bürger, die die Freiheit immer wieder erkämpft haben. Nicht weil sie Europäer waren oder Stettiner, sondern weil sie sich als Polen sahen.

Daher ist es völlig undenkbar, dass sich ein Land wie Polen seine nationale Identität durch eine unkontrollierte Massenmigration verunmöglicht. Dabei ist das Land beileibe nicht steril autochthon. In Stettin wird vieles auf Deutsch und so gut wie alles auf Ukrainisch übersetzt. Dönerläden gibt es, ebenso wie Barbershops. Nur eben nicht an jeder Ecke. Man findet ukrainische, italienische, thailändische oder türkische Restaurants, nur eben nicht zur völligen Unkenntlichmachung polnischer Kultur, so wie in vielen westdeutschen Großstädten deutsche Kultur kaum mehr wahrnehmbar ist.

Deutschland könnte von Polen lernen 

Und so war es für mich denklogisch, meinen Aufenthalt zu verlängern. Die Hotels sind teilweise 50 Prozent günstiger als in Deutschland und oftmals 100 Prozent gastfreundlicher. Wenn man mal davon absieht, dass ein randvoller Pole einmal nachts um drei in meinem Zimmer stand, wurde ich völlig in Ruhe gelassen. 

Das letzte Hotel bot einen ganz besonderen Charme. Von außen wie eine Kaserne der NVA – hoher Zaun, Kameras, Trimm-dich-Geräte im Garten und strenge Tischtennisplatten aus Beton – gestaltete sich der Innenraum wie der Innenraum einer Polizeiwache. Links der verglaste Schalter, geradeaus die Tür, rechts die Sitzgelegenheit. Der uniformierte Mitarbeiter musste zunächst ein Gespräch über Walkie-Talkie beenden, also hatte ich Zeit, mich umzusehen. Der Kasernenvorsteher saß auf einem Gaming-Stuhl und sein Tower sah aus wie ein Gaming-PC. Prioritäten, so wichtig. Doch auch hier gilt: Gastfreundschaft und echte Zugewandtheit waren vorhanden. Etwas, was dem zunehmend kalten Deutschland immer mehr fehlt – und das, obwohl das Wetter von Stettin nach täglichem Abgleich dieser zwölf Tage mit dem Wetter im echten Norden, wie Lübeck, durchaus vergleichbar ist.

Also stehe ich nun ein wenig melancholisch an dem Punkt, an dem ich vor zwölf Tagen das erste Mal stand: Szczecin Główny, nicht zu verwechseln mit gówno, denn das heißt auf Deutsch, was auf Spanisch mierda heißt. 

Polen hat sich seine Freiheit redlich verdient und erfolgreich zurückerkämpft. Deutschland macht hingegen das Gegenteil. Die geschenkte Freiheit nach ’45 und die erarbeitete Freiheit ab 1989 drohen, sich zu verabschieden. In Deutschland herrscht der Salonstalinismus. Ob Polizeigewalt, Hausdurchsuchungen wegen Wortverbrechen, systematische Aussperrung Andersdenkender durch Cancel Culture oder Massenmigration, die nicht nur, aber auch jüdisches Leben erschwert: Deutschland könnte von Polen lernen. 

Doch stattdessen schaut das Land des europäischen Wokismus argwöhnisch auf den slawischen Nachbarn, der wie selbstverständlich eine rechte Regierung gewählt hat. Auch hier würden die Deutschen am liebsten mitwählen – doch das ist im Land des weißen Adlers seit 1945 vorbei. Gott sei Dank.

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1 Kommentar. Leave new

  • Nordlicht
    25/11/2025 13:36

    Zu:

    „Gerade in der Hauptstadt Pommerns, einer Stadt, in der das Polnischsein im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft wurde.“

    Das ist undeutlich formuliert. Es wurde von den Roten Armee erkämpft, und danach wurden die Deutschen von den Polen vertrieben.

    „Undenkbar, dass Stettin seinen polnischen Charakter aufgibt“

    Warum nicht? Mit Gewalt geht alles; Stettin hat ja auch seinen deutschen Charakter aufgeben müssen.

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