Künstler: Neil Diamond
Song: Sweet Caroline – veröffentlicht als Stand-Alone-Single, 1969 Uni Records
In den späten 1960er-Jahren bebte die Musikwelt: Der alte Sound verblasste und versank zunehmend in einem immer dichter werdenden „Rock-Nebel“; überall explodierten neue Klangkulissen.
Inmitten dieser Aufbruchszeit schrieb ein junger amerikanischer Sänger einen klassischen, unscheinbaren Popsong – so einfach, dass er in der „lauten“ Gegenwart zunächst kaum Gehör fand: Neil Diamonds „Sweet Caroline“.
Niemand ahnte, dass das Lied mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Veröffentlichung zur inoffiziellen Hymne einer ganz anderen Bühne werden würde: nicht im Scheinwerferlicht der Arenen, sondern in verrauchten Bars, zwischen Biergläsern und unter flackernden Neonröhren, erlebte es seine „goldene Zeit“.
Doch bevor das Werk seinen Sonderstatus erreichte, brauchte es eben jene Erfindung, die diese „Wiederbelebung“ überhaupt erst möglich machte … Die Rede ist von Karaoke – benannt nach einem Begriff japanischen Ursprungs, der so viel wie „leeres Orchester“ bedeutet. Entstanden ist es nicht als gezielte Erfindung in einem Forschungslabor, sondern vielmehr aus pragmatischen Gründen in privater Hand: Eine Kombination aus Problemlösung, technischem Tüfteln und der Liebe zur Musik führte zu seiner Entwicklung.
Der Erfinder war ein Japaner namens Daisuke Inoue – ein leidenschaftlicher Schlagzeuger mit engen Verbindungen zur lokalen Musikszene in seiner Heimatstadt Kobe. Als gefragter Mann der Musikwelt wurde er regelmäßig gebeten, Geschäftsleute auf Firmenfeiern musikalisch zu begleiten, die ihre Lieblingslieder singen wollten.
Da sich diese Anfragen zunehmend häuften, wurde es für ihn mit der Zeit irgendwann anstrengend, so oft live zu spielen. Deshalb blühte in Inoue der Erfindergeist auf – und er versuchte eine Maschine zu entwickeln, die Instrumentalversionen abspielen konnte, sodass die Gäste ganz ohne sein Zutun nach Herzenslust dazu performen konnten. Und nach einer gewissen Zeit der Tüftelei, kam sein Prototyp auch tatsächlich zum Einsatz.
Inoue ließ seine Erfindung nie patentieren – er betrachtete sie zunächst gar nicht als eine solche, sondern eher als einen kleinen Lifehack, der ihm das Leben einfacher machte. Es dauerte nicht lange, bis große Unternehmen von diesem Umstand profitierten – und, ohne Inoue daran zu beteiligen, eigene Versionen seiner Erfindung auf den Markt brachten …
Wegen diesem „Fehler“ wurde Inoue zwar nicht reich mit seiner Erfindung – er bekam jedoch trotzdem seinen Platz in der Geschichte: Das TIME Magazine ernannte ihn später beispielsweise zu einem der einflussreichsten Asiaten des 20. Jahrhunderts. Was Daisuke Inoue nämlich unbewusst geschaffen hatte, war nicht nur ein Gerät – sondern ein globales kulturelles Phänomen!
Karaoke ermöglichte es Menschen, sich erstmals in Songs hineinzuleben – nicht nur als Zuhörer, sondern als Darsteller auf ihren eigenen kleinen Bühnen. Man musste kein Star mehr sein, um für einen Moment in gewisser Weise im Rampenlicht zu stehen.
In diesem neuen Kontext der „Mitsing-Kultur“ entfaltete sich erst das wahre Potenzial vieler alter Songs – Neil Diamonds „Sweet Caroline“ stand dabei schnell, und international, mit an der Spitze dieser Liste.
Neil Diamond selbst, 1941 in Brooklyn geboren, zählt zu den erfolgreichsten Singer-Songwritern seiner Zeit. Mit seiner markanten Bariton-Stimme prägte er die Pop- und Softrock-Szene wie kein anderer vor ihm – wenn es auch zunächst viele Jahre bis zu seinem Durchbruch dauerte.
Ursprünglich als Songwriter im legendären Brill Building gestartet, wo er für die bekanntesten Künstler der Zeit tätig war (unter anderem schrieb er für Elvis Presley), verkaufte er später weltweit über 130 Millionen Tonträger!
„Sweet Caroline“ entwickelte sich über die Jahre zu dem einen magischen Song seiner Karriere. Dabei war er eigentlich nie für die große Bühne gedacht – eigentlich war es ein intimer Moment, in dem der Künstler ein tiefes Gefühl der Liebe festhielt; zu einer Zeit, in der ihm noch verhältnismäßig kaum jemand zugehört hatte …
Interessanterweise schrieb Diamond den Track damals, wie er einmal erzählte, inspiriert von einem Bild Caroline Kennedys – der Tochter des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy. Er sah jenes Foto in einem Magazin, das dieses damals kleine Mädchen auf einem Pferd zeigte – fröhlich, unschuldig, ein Symbol für eine amerikanische Familie, deren Geschichte tief in der nationalen Seele verankert war.
Aus dieser Verbindung heraus bündelte der Künstler alle liebevollen Gefühle, die er gegenüber den Frauen in seinem Umfeld empfand und versuchte, sie in Worten auszudrücken. Und so entstand diese intime Erzählung über Zuneigung, Hoffnung und dem Aufblühen einer Beziehung – ein Liebeslied, das also keiner realen Person galt, sondern mehr darauf konzentriert war, jene Emotionen eindringlich zu vermitteln.
Es mag zwar eine interessante Inspirationsquelle sein – bei „Sweet Caroline“ war es jedoch nicht der Songtext, der die Nummer zu solch einem Phänomen machte. Vielmehr war es die Struktur, die nahezu unbewusst zum Mitsingen animiert: Durch die Schlichtheit des Refrains und seine eingängige Melodie können die Konsumenten schon während dem ersten Mal Hören bereits mitsingen. Und genau diese stille Einladung zur Teilnahme, verbunden mit der Wärme der gesungenen Worte, machte den Track zu einem einzigartigen Erlebnis beim Karaoke.
„Sweet Caroline“ wurde in den späten 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Art wortlosen Verbindung zwischen Fremden. Ob in einem Londoner Pub, einem New Yorker Diner oder einer Bonner Kneipe – sobald die ersten Akkorde erklangen, entstand ein Gemeinschaftsgefühl unter den Singenden, selbst wenn sie sich nie zuvor begegnet waren.
Bereits seit damals, also mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten, zählt „Sweet Caroline“ in Karaoke-Rankings weltweit zu den Top 3 – und das hat sich bis heute nicht geändert. Allerdings muss man natürlich dazu sagen, dass der rückläufige Beliebtheitsgrad von Karaoke insgesamt sicherlich ebenfalls eine Rolle dabei spielt, dass Neil Diamonds Rekord nie abgelöst wurde …
Dennoch ist es auch definitiv nicht so, dass „Sweet Caroline“ nur im Kontext vergangener Trends stattfinden kann: In den USA ist die Nummer beispielsweise in Sportstadien tief verankert – am prominentesten wohl beim Baseball-Team der Boston Red Sox, bei denen er traditionell im 8. Inning gespielt wird.
Auch im englischen Sport hat sich der Song zu einem Kultlied entwickelt: „Sweet Caroline“ wird seit vielen Jahren von Fans und Spielern bei Spielen der englischen Fußballnationalmannschaft häufig gemeinsam gesungen – vor allem bei großen Turnieren.
In England wurde er 2012 sogar auch bei den Feierlichkeiten des diamantenen Thronjubiläums von Queen Elizabeth II. gespielt! Tausende Besucher, darunter auch Mitglieder der Königsfamilie, sangen das Lied gemeinsam im Chor – und es erzeugte genau jenes Gemeinschaftsgefühl, das die Nummer zuvor sowohl in Karaokebars als auch bei sportlichen Veranstaltungen schon so beliebt machte.
Der Song ist zur Brücke geworden: zwischen dem Erfinder in Japan, der nie den wirtschaftlichen Lohn seiner großen Idee sah – und dem amerikanischen Songwriter, der ein Bild in einem Magazin zu einem Welthit verwandelte. Zwischen Barbesuchern, die sich für drei Minuten fühlen durften, als gehörte ihnen die Bühne – und dem tiefen Wunsch des Menschen, gehört zu werden. Zwischen Sportlern, die um den Sieg kämpfen – und deren Fans, die sie dabei anfeuern. Und sogar zwischen dem englischen Königshaus und seinen Gästen.
„Sweet Caroline“ verbindet seit jeher Menschen weltweit – unabhängig von Herkunft, Lebensgeschichte oder Überzeugungen … Was gibt es, das so etwas bewirken kann, wenn nicht die Musik?