Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Wenn in den Ruinen einer untergehenden Welt alles ins Chaos zu stürzen droht, braucht es nicht nur Redner auf den Foren und Feldherren in glänzender Rüstung, sondern auch stille Baumeister einer Ordnung, die über Jahrhunderte trägt und den Aufstieg wie den Fall der großen Reiche überleben kann. Benedikt von Nursia war ein solcher Baumeister – kein politischer Revolutionär, sondern ein Revolutionär der radikalen Neuausrichtung des Menschen nach Innen.
In einer Zeit, als das weströmische Reich in Trümmern lag, die klassische Tradition im Nebel der Vergangenheit versank, Städte verfielen, der Handel versiegte, die Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, Barbaren durch das Land zogen und selbst der junge christliche Glaube im Sog von Häresien und moralischem Verfall zu erodieren drohte, entwarf Benedikt mit seiner Lebensregel ein Gegenmodell: die Klostergemeinschaft sollte zur Arche von Glauben, Disziplin und Kultur werden.
Das Leben in mönchischer Gemeinschaft ist dabei kein abendländisches Spezifikum: Ob es nun um das Christentum, den Buddhismus, den Islam oder den Daoismus geht; immer wieder haben jene, die sich ganz der Suche nach der absoluten Wahrheit in Gott und in sich widmen wollen, begriffen, daß neben dem Leben als Einsiedler auch das Leben in religiöser Gemeinschaft ein ideales Mittel sein kann, das ultimative Ziel eines Aufgehens in der Gottheit schon im Hier und Jetzt zu verwirklichen; ein Aufgehen, das eben nicht nur in den wenigen privilegierten Momenten absoluter Abgeschiedenheit erreicht werden soll, sondern auch in der praktischen Realität eines Alltags, der neben der Versenkung in das Höchste ebenfalls durch Arbeit und menschliches Miteinander geprägt ist. Immer wieder ist es daher aber auch nötig, diese Ideale in Erinnerung zu rufen und mit den dringenden Sorgen der Zeit zu verbinden, um erneut eine wirkmächtige Anziehungskraft zu entwickeln und den Menschen den Weg zum Höchsten zu weisen.
Vom Studenten zum Einsiedler
Um 480, also nur wenige Jahre nach der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers im umbrischen Nursia (heute Norcia) geboren, wuchs Benedikt in einer Welt auf, die äußerlich zwar noch die letzten Reste des alten Glanzes trug, innerlich aber längst zerfiel. Seine Eltern schickten ihn zum Studium nach Rom, doch dort stieß er weniger auf Weisheit als auf Verwirrung, Dekadenz und Zynismus. Ekel und Sorge trieben ihn wieder aus dem alten Zentrum der zivilisierten Welt fort – aber nicht in eine politische Reformbewegung, sondern in den Rückzug ins Innere. Er lebte zunächst in Enfide, dann drei Jahre als Einsiedler in Subiaco, verborgen in einer Höhle, einzig dem Gebet, der Schriftlesung und der inneren Läuterung verschrieben.
Dieser Rückzug war kein „Eskapismus“, wie Benedikt selbst wohl wußte, denn er hatte nicht nur begriffen, daß die Arbeit an der eigenen Gottesnähe Priorität vor jeglichem sozialen oder politischen Ehrgeiz haben mußte, sondern auch, daß der Kampf um die Zukunft nicht auf den Straßen entschieden werden würde, sondern in den Herzen, denn wer sich selbst nicht beherrschen kann, wird weder eine Familie noch ein Reich in Ordnung halten können. Diese Haltung war bereits ein stiller Widerstand gegen den Ungeist seiner Zeit: Statt sich in den Strudel von Machtkämpfen, Pöbelherrschaft und moralischem Relativismus ziehen zu lassen, formte er sich innerlich selbst, um eines Tages anderen Form geben zu können.
Gründung und Ordnung
Benedikts Ruf als geistlicher Lehrer zog bald erste Schüler an, zumal Benedikt sich bewußt war, daß zumindest der Westen des römischen Reiches mönchische Gemeinschaften eines neuen Typs benötigte, die im Gegensatz zu den östlichen Klöstern, die weitgehend auf Eremitentum und Askese ausgerichtet waren, vielmehr das Kollektiv, die Arbeit und die Bewahrung der Tradition in ihr Zentrum stellen sollten – echte kleine Republiken, die nach dem Vorbild der alten Stadtstaaten in sich ruhende Ankündigungen dessen sein sollten, was dereinst als himmlisches Jerusalem zur irdischen Realität werden würde. Nach ersten, teils dramatisch scheiternden Versuchen, Gemeinschaften zu führen – ein abgesetzter Abt wollte ihn gar vergiften –, begann er um 529 auf dem Monte Cassino mit dem Werk, das ihn unsterblich machen sollte. Dort verfaßte er auch seine „Regula Benedicti“, die zur direkten oder indirekten Grundlage der gesamten abendländischen Mönchstradition werden würde.
Herzstück dieser Regel waren die Verbindung von ora et labora – Gebet und Arbeit – mit geordnetem Tagesrhythmus, gegenseitigem Gehorsam, beständiger Schriftlesung und Gastfreundschaft. Benedikts Regel war mild im Vergleich zu den zeitgenössischen asketischen Exzessen des Ostens, aber kompromißlos in ihrem Ziel, nicht nur Gott in sich und allen Dingen zu suchen, sondern auch den Brüdern in Liebe und Arbeit zu dienen und somit das Risiko gnostischer oder intellektualistischer Selbstabkapselung von der Realität der Schöpfung zu vermeiden:
„Wer weniger braucht, danke Gott und sei nicht traurig. Wer mehr braucht, werde demütig wegen seiner Schwäche und nicht überheblich wegen der ihm erwiesenen Barmherzigkeit. So werden alle Glieder der Gemeinschaft zufrieden sein. “ (34,3-5)
Was damals als Teil einer innerkirchlichen Reform gedacht war, erwies sich im Lauf der Jahrhunderte als Meilenstein in der Übertragung antiken Wissens an die neuentstehende abendländische Kultur. Benedikts Klöster wurden zu Inseln der tätigen Ordnung in einem Meer der Anarchie: Sie rodeten und bestellten Land, unterrichteten Kinder, bewahrten und kopierten nicht nur die heiligen Schriften, sondern auch antike Autoren, hüteten die Reinheit der Liturgie, pflegten Kranke und speisten Arme. Diese durch das Christentum und die Erfahrung der Unbeständigkeit aller Dinge vergeistigten monastischen Stadtstaaten wurden somit zu den Keimzellen des neuen Gesellschaftsideals Europas – und die demokratische Wahl der Äbte und kollektive Abstimmung der wichtigsten Entscheidungen des Klosterlebens zur Blaupause partizipatorischer Mechanismen.
Benedikt selbst starb um 547, stehend im Gebet, nachdem er sein nahendes Ende vorausgesagt hatte, und hinterließ zwar weder Imperien noch Reichtümer oder Legionen, aber eine über den ganzen Westen sich verbreitende monastische Ordnung, die das Abendland tragen sollte, als Könige stürzten, Völker wanderten und Ideologien vergingen. Denn Benedikt führte keinen Aufstand gegen Goten oder Byzantiner, er schrieb keine Flugschriften gegen Häresien, er diente keinem barbarischen Kleinkönig, und doch war sein Werk „Widerstand“ im reinsten Sinn.
Er stellte dem Zerfall der alten Welt eine neue Ordnung entgegen, die nicht auf Gewalt, sondern auf Wahrheit und Treue gegründet war: Die Wahrheit jener Erkenntnis, daß nur die Transzendenz der einzig stabile Bezugspunkt unseres irdischen Daseins sein kann, und die Treue gegenüber einer kulturellen Tradition, die diese Erkenntnis seit Jahrhunderten immer wieder neu zu formulieren und auszukleiden suchte, sei es unter den Vorzeichen griechischer Philosophie, sei es unter dem Eindruck göttlicher Inkarnation. Seine Regel war somit aber auch ein Gegenentwurf sowohl zum Prinzip altrömischen Machtstrebens als auch barbarischen Eroberungsdranges: Hier galt nicht der Stärkste, sondern der in sich Gefestigte; nicht der Lauteste, sondern der Gott am nächsten Stehende; nicht der, der am meisten nahm, sondern der, der beständig gab.
Erbe und Auftrag
Im 20. Jahrhundert erhob Papst Paul VI. Benedikt zum Patron Europas – nicht wegen politischer Siege, sondern wegen seiner Rolle als „Vater des abendländischen Mönchtums“ und Hüter der christlichen Kultur. Seine Lebensregel hat Jahrhunderte überdauert, weil sie auf das Ewige zielt und uns daran erinnert, daß echter Widerstand nicht darin besteht, den Gegner zu besiegen, sondern das Wahre zu leben – konsequent, auch wenn die Welt es verspottet oder vergißt.
Gerade heute, in einer Zeit beschleunigter Entwurzelung, in der Tradition als Ballast gilt, Wahrheit als Ansichtssache und Glaube als Folklore, bräuchten wir dringender denn je als Antwort auf die Frage „Was tun?“ eine Neubesinnung auf das, was Rod Dreher einmal die „Benedict Option“ genannt hat: Menschen, die in kleinen Gemeinschaften oder im eigenen Leben Oasen der Ordnung schaffen, wo Gottesdienst, Arbeit, Studium, Gastfreundschaft und Treue zur Wahrheit den Rhythmus bestimmen.
Denn die Geschichte zeigt: Wer nur auf den Sieg im Hier und Jetzt zielt, verliert früher oder später immer, sobald der Wind sich dreht. Wer aber wie Benedikt das Ewige im Blick behält und unermüdlich die Grundlagen des Wahren, Guten und Schönen bewahrt, baut für eine immerwährende Zukunft, auch wenn diese vielleicht erst in Jahrhunderten erntet, was heute in stillem Widerstand gesät wird.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Widerstand und Ehre – 12 neue Lebensbilder der Freiheit“ veröffentlicht.
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1 Kommentar. Leave new
Ich habe das Gefühl, dass jemand, der die Regeln des „Hl. B.“ so über den grünen Klee lobt, sie nicht alle gelesen hat.