Hochmut und Mittelmäßigkeit

„Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie am Kragen hätte“, heißt es in Goethes Faust. – Wohl kaum ein Konzept hat sich so definitiv auch aus dem religiösen Denken verabschiedet wie das der Sünde. Dass der alliebende Gott der evangelischen und katholischen Kirchentage an seine Gläubigen dezidierte Anforderungen stellen könnte, bevor man durch das weit geöffnete Tor ins (schon irdische) Paradies eingeht, scheint – außer bei einigen hartnäckigen Evangelikalen – auch für die wenigen verbleibenden Schäfchen obsolet geworden zu sein.

Früher war das noch ganz anders. Grimmige Reformatoren waren jederzeit bereit, den Un- oder Falschglaubigen den Morgenstern über den Schädel zu hauen, die Holzköpfe mit der Axt zu spalten und darein den Honigseim der Schrift und des wahren Glaubens zu gießen.

Dass der Mensch defizitär, sündhaft und im Kern „falsch“ war, wurde noch mir in meiner Jugend eingetrichtert, und so bekannte man seine kleinen Sünden in „Demut und Reue“.

Das hat sich überlebt. Zwar gibt es noch die Listen der sieben Todsünden oder der sieben Gaben des Heiligen Geistes – aber wer kennt die noch? 

Kurz sollen sie in Erinnerung gerufen werden:

  1. Superbia – Hochmut (Stolz, Eitelkeit, Übermut)
  2. Avaritia – Geiz (Habgier, Habsucht)
  3. Luxuria – Wollust (Ausschweifung, Genusssucht, Begehren, Unkeuschheit)
  4. Ira – Zorn (Jähzorn, Wut, Rachsucht)
  5. Gula – Völlerei (Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Unmäßigkeit, Selbstsucht)
  6. Invidia – Neid (Eifersucht, Missgunst)
  7. Acedia – Faulheit (Feigheit, Ignoranz, Überdruss, Trägheit des Herzens)

Eine bemerkenswerte Liste, bei deren Lektüre einem sofort dämmert, dass sie als Struktur einer Gegenwartsbeschreibung durchaus geeignet wäre. Die Medien sind voll davon – aber eher im Sinne einer Verteidigung und Promotion derselben als umgekehrt.

In diesem Beitrag geht es um die Superbia, den Hochmut.

Grandiose Vollpfosten

Hochmut, das klingt erst mal harmlos. Dennoch wird dieser sozusagen als die Wurzel oder Mutter aller Sünden betrachtet: die Überschätzung des eigenen Ichs gegenüber einer gedachten göttlichen Ordnung.

Einerseits fallen einem sofort Beispiele aus Geschichte und Gegenwart ein: das Diktum des französischen Ludwig – „Der Staat, das bin ich“ – aber auch die Grandiosität unseres Donalds, mit der er in der Weltpolitik herumfuhrwerkt, gepriesen von seinem Hofstaat und umschmeichelt von seinen Vasallen.

Aber gibt es auch einen Hochmut der Mittelmäßigkeit oder gar der Unterkomplexität? Auch da fallen Ihnen schnell prominente Beispiele ein. Das Phänomen nimmt zu – das muss ich aus meiner langjährigen Erfahrung als Lehrer sagen: Menschen, die mit einem Selbstbewusstsein durch das Weltgeschehen pflügen, dem die Folgen ihrer Selbstüberschätzung völlig egal zu sein scheinen.

Zu jener Zeit, als ich noch die Schulbank drückte, wusste man genau, wo man sich im Klassengefüge einzuordnen hatte. Es gab welche, die immer die korrekte griechische Form kannten, wenn alle anderen versagten, und da war einer, den sogar der Mathelehrer zu Hilfe rief, wenn er sich an der Tafel verhedderte. Im Sport war ich eine Niete – und wusste es auch. Im schlimmsten Fall wurde man von Herrn oder Frau „Professor“ angeraunzt und fand eine Sechs auf dem Test. Alles relativ klar.

Heutzutage ist das anders. Noten sagen nichts bis wenig. Prüfungen werden vorher eingeübt, und wenn die Fragestellung auch nur ein Fitzelchen über das Bekannte hinausgeht, gibt’s Beschwerden und Klagen von Schülern und Eltern. Eine Drei ist schon ein Todesurteil, das mit dem Rechtsanwalt beantwortet wird, und eine klare Ansage gegenüber einem Schüler kann unangenehme Folgen haben.

Nicht erstaunlich, dass Maßstäbe verloren gehen – und man es gefühlt nur noch mit Genies zu tun hat. Dazu kommt der nahe Spiegel: das Display. Im Kern gehorcht das Handy immer und gibt letztlich immer eine positive Rückkopplung. Wem hätte sein Device jemals das vernichtende Urteil entgegengeschleudert: „Du Vollpfosten!“?

Verwöhnung, Einzelkind-Situationen, materielle Fettlebe tun das Übrige. Sich als einzigartig und fehlerfrei zu fühlen, wird fast schon zur therapeutischen Anforderung. Bodyshaming? Nein danke! Shaming überhaupt – nie.

Ziemlich gestört

Die Abkehr von der Meritokratie zeigt sich am deutlichsten im oft eher mittelmäßigen politischen Personal. Beklagt wird das allenthalben – vermutlich nur nicht von denen, die gemeint sein könnten. Man erduldet deren Hochmut und fühlt sich dank einschlägiger Satiresendungen dann doch wieder etwas schlauer.

Die Welt des Bösen ist ja bekannt: Trumpisten, QAnon-Propagandisten, Putinisten, Faschisten, Querdenker … Dass die Guten da selbst auf einem ziemlich hohen Ross sitzen, ist klar.

Bei meinen Recherchen zum Narzissmus bin ich auf Aussagen im Buch von Otto F. Kernberg / Michael Ermann: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (Kohlhammer Verlag, 2011) gestoßen, die interessant scheinen.

Sehen wir Superbia einmal als eine gewisse Persönlichkeitsstörung, so löst diese „primitive Abwehrmechanismen bei schweren Persönlichkeitsstörungen“ aus:

  • Spaltung der Beziehungen in idealisierte und verfolgte
  • Verleugnung, d. h. affektive Trennung von kognitiv zusammenhängenden Umständen
  • Primitive Idealisierung und primitive Entwertung
  • Omnipotente Kontrolle der Umwelt
  • Projektive Identifikation, d. h. Zuweisung eines Aspekts des Selbst, der innerlich nicht toleriert werden kann, an andere

Das kommt einem doch bekannt vor.

Weiter heißt es im zitierten Buch: „Spaltung bedeutet, dass alle Menschen aufgeteilt werden in die Idealen und die Bösen. Ohne besonderen Grund können Personen von einem Segment in das andere überwechseln. Man sieht das Überwiegen des negativen, aggressiven Segments.“

Paranoide Persönlichkeitsstörung

Bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung identifiziert sich der Patient mit einem idealen Selbst, während er sein ganzes negatives Segment nach außen projiziert. Die paranoide Persönlichkeit sieht sich als gut, gerecht und immer im Recht in einer Welt, in der die Menschen schlecht, böse und gefährlich sind – und kontrolliert werden müssen. Sie lebt mit der Vorstellung, die Welt sehr gut zu kennen und sich keine Illusionen zu machen. Es besteht eine Hypersensitivität gegenüber allem Negativen, Kritischen, das zum Beweis dafür wird, dass jemand Recht hat.

Diese paranoide Einstellung geht mit einem Charakter einher, der eine große Bereitschaft zum Hass hat. Dieser wird allerdings verleugnet und nach außen projiziert. So wird die Welt als potenziell böse, hasserfüllt, schlecht, nicht vertrauenswürdig gesehen.

Aus der Notwendigkeit, diese Welt zu kontrollieren, erwachsen typische Situationen, in denen Wut- und Hassausbrüche und Angriffe auf andere gerechtfertigt zu sein scheinen – weil es ja die anderen waren, die einen zuerst beleidigt, verletzt oder angegriffen haben.

Paranoide Persönlichkeiten sind also misstrauisch, hypersensibel und kontrollierend und geben anderen sehr leicht die Schuld für alles Mögliche Böse.

Aufgezeigt wird hier das Pathologische des Hochmuts, der nach außen gezeigt wird. Dass dieser eine weniger strahlende Rückseite hat, kann in den meisten Fällen erwartet werden.

Die Superbia weist auf ein biographisches Loch hin, das gefüllt werden will – aber vermutlich nie befriedigend gefüllt werden kann.

Dazu bieten sich nun die restlichen Todsünden an: Von Kaviar bis Sex oder Gefühlsausbrüchen – da gibt’s eine ganze Palette von Möglichkeiten. Und: Hans Magnus Enzensberger hat es schon vor Jahren in seinem Band: “Mittelmaß und Wahn” vorausgeahnt. Respekt!

Gute und schlechte Regierung

Aber was kann man tun – abgesehen von individueller Selbstreflexion – in Anbetracht der Tatsache, dass diese Beschreibung des Hochmuts nur allzu gut auf führende Köpfe der politischen Klasse passt?

Nun, zunächst kann man gegen den allgegenwärtigen Manichäismus ankämpfen: das Bedürfnis, die Welt simpel in Gut und Böse einzuteilen, wobei die Qualifikation „gut“ ausschließlich auf einen selbst zutrifft. Freiheit, Werte, alles Positive vertritt man selbst, und das Schlechte ist immer beim Gegner verortet: Putin, die AfD, die Rechten, die Nazis – you name it.

Dagegen anzukämpfen ist eher eine Aufgabe der alternativen Publizistik, und wie gesagt: völlig hoffnungslos ist es nicht. Zu stark bröckeln inzwischen die Narrative des „juste milieu“.

Dann wäre da noch die nötige Forderung, dass für verantwortliche Politiker – wie auch immer – ein gewisses Bildungsniveau vorausgesetzt werden sollte, das viele offensichtlich nicht haben. Die Engländer und Franzosen haben ihre Eliteuniversitäten, die Amerikaner ihre Thinktanks; nur hierzulande kann aufgrund des Geschlechterproporzes und der Parteienlisten nahezu jede unbedarfte Person zu den höchsten Spitzen des Staates aufsteigen und ist dort praktisch unkündbar beziehungsweise wird auch nach Totalversagen mit Direktoren/Direktricenposten belohnt.

Es mangelt vielen Politikern an Einigem. Sollte man nicht, wie die Franzosen, eine Art École normale für Führungspersonal gründen, die den Leuten zumindest grundlegende historische und allgemeine Kenntnisse vermittelt, damit sie sich in anders gestrickten Ländern wie China oder Russland nicht völlig lächerlich machen?

Im italienischen Siena, im Stadtpalast, gibt es einen großen Freskenzyklus, die Allegorie und Wirkungen der guten und schlechten Regierung, der zwischen 1337 und 1339 von Ambrogio Lorenzetti gemalt wurde.

Die Fresken sollten die damaligen Herrscher inspirieren und stellen zwei Städte dar: Die eine wird gut verwaltet und gedeiht; alles funktioniert, der Boden ist bestellt, und die Bevölkerung ist reich und glücklich. In der anderen Stadt hingegen, die von der schlechten Regierung verwaltet wird, herrschen Gewalt, Armut und Hungersnot.

Die Fresken wurden von der Regierung der Neun bei Lorenzetti in Auftrag gegeben und haben eine einfache Bedeutung: Wenn die Stadt auf gute Weise verwaltet wird, profitieren alle davon. Dazu bedarf es bestimmter Tugenden, die personifiziert dargestellt werden. Eine davon ist temperantia, die Mäßigkeit: keine Selbstüberschätzung, keine illusionären Ziele, keine Überforderung des eigenen Staates und seiner Bevölkerung, kurz: den Ball etwas flacher halten und Äußerlichkeiten weniger betonen.

Schöne Ziele – aber die Verfasstheit des heutigen Parteiensystems fördert eher das Gegenteil. Die Frage wäre, wie eine Neufassung unserer Verfassung – die ja nach der Wiedervereinigung eigentlich gefordert war – die Auswüchse der superbia verhindern könnte. Auf Lorenzetti werden wir noch zurückkommen.

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