Solschenizyn: Lücken für das Böse

In der Erinnerung ist meine frühpubertäre Russophilie, als ich in nur wenigen Jahren von Puschkin und Dostojewski über Tschechow und Gogol bis hin zu Tolstoi und Gontscharow alles verschlang, was mir irgendwie zwischen die Finger kam, untrennbar von der ersten, noch verwirrten Auseinandersetzung mit dem totalitären Grauen der Sowjetunion, die gerade vor meinen Augen zerfiel. 

Trotz der offensichtlichen praktischen Kontinuitäten zwischen dem robusten Umgang des Zarismus mit seinen Dissidenten und dem Gulag-System der frühen Sowjetunion schien mir doch die Stimmung des grauenvollen Verlassenseins, die mir aus den Romanen von Bulgakow und Pasternak entgegenscholl und in der Entdeckung Alexander Issajewitsch Solschenizyns für mich ihre traurige Krönung fand, lange Zeit völlig unverständlich: Rodion Raskolnikow mochte freiwillig zahllose Jahre in Sibirien auf sich nehmen, um mit sich und Gott ins Reine zu kommen und seine Schuld zu büßen; es war mir allerdings nur schwer vorstellbar, daß jemand in den 1930ern gewissermaßen aus freier Entscheidung zur Selbstläuterung in den Archipel Gulag übersiedelt wäre.

Erschreckende Aktualität

Der Versuch, diese plötzliche Entmenschlichung einer gesamten Zivilisation zu begreifen, die in nur wenigen Jahren dem Kälteschock von Materialismus, Modernismus, Progressivismus und Kollektivismus erlag, bzw. bildlich gesprochen den emotionalen Übergang zwischen der Gefühlswelt Rachmaninows und derjenigen Schostakowitschs nachzuvollziehen, kostete mich große Anstrengungen, und auch heute kann ich ihn wohl kaum als abgeschlossen betrachten. Denn das „Wieso“ der freiwilligen Aufgabe von Gottesnähe und Mitmenschlichkeit bleibt mir weiterhin unverständlich, das „Wie“ allerdings wird mir immer deutlicher, seitdem der kalte Schreck, der mir bei der frühen Lektüre Solschenizyns in die Glieder gefahren ist und mich nie ganz verlassen hat, aufhörte, einer rein abstrakten Leseerfahrung zu entspringen, und sich vielmehr immer häufiger erneuert, wenn ich heute um mich herumblicke und die Zeichen unserer eigenen Zeit zu deuten versuche. Solschenizyn hat für mich daher aufgehört, eine rein „historische“ Lektüre zu sein, eine Art Schauergeschichte aus dem Dunkel längst vergangener Zeiten, sondern ich nehme zunehmend seine erschreckende Aktualität wahr.

Denkt man an „Widerstand“, so ist Solschenizyn daher wohl eines der berühmtesten modernen Beispiele, und zwar sowohl, was die Lichtseiten, als auch, was die „problematischen“ Facetten des Widerständlers betrifft, auf die wir in dieser Rubrik immer wieder hinweisen. 

1918 geboren, studierte er Mathematik und Physik, als er 1941 in die Rote Armee eingezogen wurde. Trotz mehrerer Auszeichnungen wurde er 1945 überraschend festgenommen, weil er sich in einem Brief kritisch über Stalin geäußert hatte, und zu acht Jahren Haft und lebenslanger Verbannung verurteilt. Bis 1953 wurde er trotz schwerer Krebserkrankung durch mehrere Gefangenenlager geschleust und schließlich in einem kasachischen Dorf als Schullehrer untergebracht, wo er auch die Nachricht vom Tod Stalins erfuhr. 

Nach erneuter Krebserkrankung wurde Solschenizyn 1957 im Rahmen der „Tauwetter-Periode“ rehabilitiert und verbrachte zunehmend Zeit mit der Niederschrift von Novellen, Berichten und Romanen, in denen er seine Erfahrungen verarbeitete, allen voran die Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, die 1962 publiziert wurde und für die Solschenizyn 1970 den Literaturnobelpreis erhielt, und das 1963 erschienene „August Vierzehn“, erster Teil der Romanreihe „Das rote Rad“. 

Zunächst schien es ihm zu gelingen, sich in der neuen politischen Konfiguration als anerkannter Autor zu etablieren, doch sein Engagement für ein Ende der Zensur bewirkte 1969 den baldigen Ausschluß aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband; und als 1974 der Geheimdienst von dem als Tamisdat veröffentlichten ersten Band des „Archipel Gulag“ erfuhr, wurde Solschenizyn umgehend aus der Sowjetunion ausgewiesen. 

Es folgte eine Zeit des intensiven Reisens durch Europa und die USA, wohin er 1976 auch übersiedelte, und des Schreibens, unter anderen an den weiteren Bänden von „Archipel Gulag“ und „Das rote Rad“.

Der Schwund des Göttlichen

Doch schon bald sollte sich abzeichnen, daß Solschenizyn, dessen Widerstand gegen den sowjetischen Terror in den westlichen Medien gerne zur Selbstlegitimierung als der einzigen realistischen Alternative zum Kommunismus herangezogen wurde, sich kaum in simple Kategorien pressen ließ. Denn so penibel genau Solschenizyn auch immer wieder den Apparat von Macht, Erniedrigung, Zensur, Folter und Mord schilderte, so kritisch blieb doch auch sein Blick auf die Zustände im Westen. 

Mit der Übersiedlung hörte also die Widerstandsgeschichte Solschenizyns nicht auf; ganz im Gegenteil: Einmal in den USA angekommen und zunehmend mit der damaligen Zeitstimmung vertraut geworden, erwachten in Solschenizyn immer größere Zweifel daran, inwieweit der damalige Westen tatsächlich jenes Ideal verkörpere, für das ihn viele jener Menschen hielten, die hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt waren. Gerade seine berühmte Harvard-Rede von 1978 ist als Quintessenz seines Denkens hervorzuheben. So schreibt er ganz offen, daß ihm – trotz Freiheit, Sicherheit und Wohlstand – das westliche Modell keine ultimative Alternative zur UdSSR scheint:

„Aber sollte jemand mich fragen, ob ich den Westen, so wie er heute ist, meinem Land als Modell ans Herz legen wollte, würde ich offen gesagt mit Nein antworten müssen. Nein, ich könnte eure Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form nicht als Ideal für die Veränderung meiner Gesellschaft empfehlen.“

Der Grund hierfür ist die Tatsache, daß die natürliche Fortentwicklung von Modernismus und Rationalismus im Verbund mit dem allmählichen Schwinden des religiösen Empfindens überall im Westen, allen voran in den USA, ein bedenkliches Vakuum an Transzendenz hinterlassen hat:

„Alles, was über das körperliche Wohlbefinden und die Anhäufung materieller Güter hinausgeht, alle anderen menschlichen Bedürfnisse und Eigenschaften subtiler und höherer Natur, wurden außerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs der staatlichen und sozialen Systeme gelassen, als ob das menschliche Leben keine höhere Bedeutung hätte. So wurden Lücken für das Böse offen gelassen, und seine Winde wehen heute ungehindert. Die bloße Freiheit an sich löst nicht im Geringsten alle Probleme des menschlichen Lebens und fügt sogar eine Reihe neuer hinzu.“

Die Konsequenz hierfür wird, Solschenizyn zufolge, früher oder später eine Selbstangleichung des ultraliberalen Westens an die Zustände des sozialistischen Ostens sein; und wenn diese Entwicklung im Westen auch freilich aus einer anderen Stoßrichtung kommt und ein anderes Gewand tragen wird, leiden die beiden damaligen Weltmodelle ihm zufolge doch am selben tödlichen Problem, nämlich dem Schwinden des Göttlichen:

„Wir haben zu viel Hoffnung in die Politik und die sozialen Reformen gesetzt, nur um dann festzustellen, dass wir unseres wertvollsten Besitzes beraubt wurden: unseres geistigen Lebens. Es wird im Osten vom Parteipöbel, im Westen vom Kommerzpöbel mit Füßen getreten. Das ist das Wesen der Krise: Die Spaltung der Welt ist weniger erschreckend als die Ähnlichkeit der Krankheit, die ihre wichtigsten Teile befällt.“

Unbefleckt im Tal der Tränen

Kein Wunder, daß der Applaus auf diese Botschaft eher verhalten blieb, aber die Aureole des anti-kommunistischen Widerständlers schien Solschenizyn damals noch so mächtig zu überstrahlen, daß seine Kritik des Westens gerne als überspannte und quasi-mystische, gewissermaßen entrückte Weisheit gedeutet werden konnte, mit deren genauen Konsequenzen man sich dann nicht wirklich auseinanderzusetzen hatte. 

Dies sollte sich bald ändern: 1989 wurde der Nobelpreisträger im Rahmen der Glasnost und Perestroika wieder in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen und 1990 auch rehabilitiert. 1994 kehrte Solschenizyn dann auch sofort nach Rußland zurück und wurde rasch zu einer Leitfigur in nationalen und konservativen Kreisen (teils mit eigenem Fernsehmagazin); 1997 folgte die Aufnahme in die Russische Akademie der Wissenschaften. 

In der Folgezeit, wo es Solschenizyn publizistisch immer weniger um die Verarbeitung des Stalinismus als vielmehr die Neubestimmung der russischen Identität und die Förderung eines patriotischen allrussischen Kurses ging, geschah nicht nur eine deutliche Annäherung an die politische Elite des Landes, sondern auch eine klare Entfremdung von seinen bisherigen westlichen Befürwortern, denen der 2008 Verstorbene mittlerweile als „umstritten“ gilt und nur noch sehr selektiv wahrgenommen wird.

Und in der Tat wird derjenige, der nur den anti-kommunistischen Kritiker des stalinistischen Totalitarismus kennt und nur wenig mit der allgemeinen russischen Geistesverfassung vertraut ist, zweifellos erstaunt sein, denselben Autor auch als kompromißlosen Verfechter der russischen Gebietsansprüche auf die meisten ehemals sowjetischen Gebiete zurückzufinden: Schon immer sind in der russischen Kultur Anarchismus und allmenschliche Bruderliebe eng verbunden mit Autoritätsgläubigkeit und quasi-messianischem russischem Sendungsbewußtsein, wie bereits Dostojewski zeigt. 

Doch freilich: Wer genug am Lack überzogener medialer Verherrlichung kratzt, wird wohl noch bei jedem „Helden“ Seiten entdecken, mit denen er sich nicht immer zu identifizieren vermag, und die doch, wie der Historiker ebenso wie der Psychologe weiß, immer wieder einen nicht zu vernachlässigenden Anteil der Motive geliefert haben, überhaupt erst den Widerstand gegen die Unterdrückung zu proben: Rein, unbefleckt und voraussetzungslos ist in diesem Tal der Tränen letztlich niemand, und wer einen Menschen verstehen will, darf auch die ihm unangenehmen Seiten weder unterdrücken noch aufblasen, sondern muß sie in ihrem organischen Verhältnis zum Gesamten sehen.

Von der Verhausschweinung zur Schlachtung

Wie auch immer man aber nun zu den russisch-nationalen Überzeugungen von Solschenizyns sogenannter „Spätphase“ stehen mag, die wohl schon immer mehr oder weniger latent vorhanden gewesen sind: Seine Analyse nicht nur des Totalitarismus, sondern eben auch des inneren geistigen und geistlichen Vakuums des Westens trifft voll ins Schwarze. Denn dem kritischen Leser dieser Kolumne dürfte die Aktualität der Analysen und Prognosen Solschenizyns nicht entgangen sein, zumal der Westen der Gegenwart schon einen großen Schritt weiter auf dem Weg in den Kollektivismus ist als die USA der 1970er und 1980er Jahre: Immer weiter entfernt davon, den Bürger noch tatsächlich durch Wohlstand und Aufschwung zu sedieren, wie es damals noch der Fall war, ist es seit dem Fall des Kommunismus und somit dem Verschwinden der Angst vor einem sozialistischen Umschwung im Westen zu einer massiven wirtschaftlichen Umverteilung von der Mitte an die Ränder gekommen, denn die herrschenden Eliten haben nunmehr kaum noch Anreize, einen starken und somit potentiell störenden Mittelstand zu fördern, um die Arbeiterschaft ruhigzustellen. 

Vielmehr arbeiten sie mittlerweile aus Leibeskräften daran, ihre nunmehr gewonnene und von niemandem ernstlich bedrohte Machtposition dadurch zu festigen, daß die Bürgerschaft zu einem verarmten, infantilisierten, entseelten, identitär aufgesprengten und unsolidarischen Kollektiv transformiert wird, von dem keine ernsthafte Bedrohung für die Regierenden mehr ausgehen kann: Auf die Mästung und oft erwähnte „Verhausschweinung“ des Abendländers folgt nun allmählich, ebenso bildlich gesprochen, seine Schlachtung durch systemische Umverteilung von Wohlstand und politischer Macht. 

Und wie Solschenizyn bereits erkannte, handelt es sich hierbei nicht um einen „Unfall“ des Liberalismus, sondern vielmehr um die ultimative Konsequenz einer Entwicklung, die sich logisch aus der materialistischen Grundannahme ergibt, auf welcher eben auch der westliche Liberalismus errichtet ist. Ob man aus dem Materialismus nun die Superiorität des Kollektivs ableitet wie der Sozialismus, die des radikalen Individuums wie der Liberalismus oder die der „Natur“ wie die grüne Bewegung – im Endeffekt folgt aus der Ablehnung der Transzendenz früher oder später immer auch die des Naturrechts und der Tradition und die ungebändigte Transformation der Gesellschaft in ein Laboratorium des Rechts des Stärkeren, in dem alle Solidargemeinschaften schrittweise ihrer inneren Essenz beraubt werden und die atomisierten Massen unter die Kontrolle einer kleinen Machtelite geraten, ob man sie nun die „Partei“, die „Oligarchen“ oder eben grün-rote „Global Leaders“ nennt.

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