Wie die Schweiz ihre Neutralität revitalisiert

In den eleganten Konferenzräumen der Vereinten Nationen in Genf haben sich Vertreter der USA, der Ukraine und der Europäischen Union kürzlich versammelt, um über einen möglichen Friedensplan für den Ukraine-Krieg zu beraten. Die Gespräche, die als „hochproduktiv” bezeichnet wurden, finden jedoch ohne Russland statt – ein Umstand, der die Glaubwürdigkeit des Prozesses in Frage stellt. 

US-Außenminister Marco Rubio und ukrainische Offizielle wie Andrij Jermak haben Fortschritte gemeldet, doch Kritiker sehen in dem Plan, der angeblich russische Elemente enthält, eine Form der Kapitulation für Kiew. Die Wahl Genfs als Ort unterstreicht ein Paradoxon: Die Schweiz, einst Symbol für unerschütterliche Neutralität, wird zunehmend als parteiisch wahrgenommen. Russland ist nicht eingeladen, und Moskau hat die Schweiz bereits auf seine Liste „unfreundlicher Staaten” gesetzt, da sie EU-Sanktionen gegen Russland übernommen hat.

Schweizer Neutralität – ein Glanzstück mit Patina

Dieser Konflikt wirft ein Schlaglicht auf die Erosion der schweizerischen Neutralität, die von Historikern mit der „Stillesitzen”-Vereinbarung der Kantone Bern und Solothurn mit dem Markgrafen von Hochberg im Jahr 1399 oder dem Frieden von Freiburg 1516 verbunden wird und im kollektiven Bewusstsein mit dem Wiener Kongress von 1815 verankert ist. 

Im Ukraine-Krieg hat die Schweiz ihre traditionelle Rolle als neutraler Vermittler aufgegeben, indem sie Sanktionen verhängte, russische Vermögen einfrierte und sich der NATO annäherte. Beispiele hierfür sind der Beitritt zum europäischen Luftverteidigungsprogramm „Sky Shield” im Oktober 2024, die Erlaubnis für NATO-Truppen, das Land zu durchqueren (Military Mobility Initiative), gemeinsame Luftübungen mit der US-Armee und der Besuch der schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd auf einem NATO-Nordantlantikrat. 

Zudem wurde in Genf ein NATO-Verbindungsbüro eröffnet, was die Wahrnehmung verstärkt, dass die Schweiz nicht mehr unparteiisch ist. Russlands Außenministerium hat dies klar kritisiert: Die Schweiz könne „nicht länger den Anspruch erheben, als Vermittler aufzutreten”, da sie sich den westlichen Sanktionen angeschlossen habe. Das Glanzstück „Neutralität” wurde allenthalben geschrammt, zumindest hat es Patina angesetzt.

Leuchtendes Beispiel – der Friedensvertrag vor 100 Jahren

Historisch gesehen hat die Schweiz jedoch eine beeindruckende Bilanz als Friedensstifterin. Ein leuchtendes Beispiel sind die Locarno-Verträge von 1925, die in der idyllischen Tessiner Stadt Locarno verhandelt wurden. Damals, nur sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, kamen Deutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien zusammen, um die Grenzen in Westeuropa zu sichern und einen „Rhein-Pakt” zu schließen. Die Schlüsselfiguren waren der französische Außenminister Aristide Briand und der deutsche Außenminister Gustav Stresemann, die für ihre Bemühungen 1926 den Friedensnobelpreis erhielten – gemeinsam mit dem britischen Außenminister Austen Chamberlain, der bereits 1925 ausgezeichnet worden war. Die Verträge markierten den „Geist von Locarno”, eine Ära der Entspannung, die den Weg für Deutschlands Beitritt zum Völkerbund ebnete und vorübergehend den Frieden in Europa stabilisierte. Locarno symbolisierte die Kraft neutraler Vermittlung: Die Schweiz bot einen sicheren, unvoreingenommenen Raum, fernab der Machtzentren, wo verfeindete Nationen offen reden konnten.

Heute steht diese Tradition auf dem Prüfstand. Die Schweiz hat seit der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 ihre Neutralität „differenziell” interpretiert, wie es der Bundesrat formuliert. Sie übernahm EU-Sanktionen, blockierte russische Vermögen in Milliardenhöhe und lehnte es ab, Munition für Leopard-Panzer an die Ukraine zu liefern, was zu internationaler Kritik führte. 

Dennoch: Für Russland ist die Schweiz „nicht mehr neutral”, wie Sprecherin Maria Zakharova betonte. Öffentliche Debatten in der Schweiz spiegeln diese Spaltung wider: Während einige, wie der ehemalige NATO-Analyst Jacques Baud, die Sanktionen als Abkehr von der Neutralität kritisieren, argumentieren andere, dass Neutralität nicht Isolation bedeute, sondern aktive Friedensförderung. Eine Umfrage des Schweizer Instituts für Demokratie und Rechtsstaat zeigte, dass 60 Prozent der Bevölkerung die Neutralität als „beeinträchtigt” empfinden, doch eine Mehrheit unterstützt die Sanktionen aus moralischen Gründen.

Konsequente Diplomatie und strikte Neutralität

Was müsste die Schweiz also tun, um ihre Neutralität wieder vollständig herzustellen und als vertrauenswürdiger Vermittler wahrgenommen zu werden? Zunächst einmal müsste sie die Sanktionen gegen Russland aufheben oder zumindest nicht automatisch EU-Maßnahmen übernehmen. Dies würde ein klares Signal senden, dass Bern unabhängig handelt und nicht als Erweiterung des Westens agiert. 

Zweitens sollte die Schweiz ihre NATO-Annäherung rückgängig machen: Den Beitritt zu Sky Shield kündigen, das NATO-Büro in Genf schließen und keine militärischen Übungen mit Allianz-Mitgliedern mehr erlauben. 

Drittens könnte eine Rückkehr zu „integraler Neutralität” – wie sie vor 2022 praktiziert wurde – helfen: Keine Beteiligung an Sanktionen, keine Waffenexporte in Krisengebiete und eine aktive Rolle als Gastgeber inklusiver Verhandlungen. Experten wie der Schweizer Politologe Laurent Goetschel von der Universität Basel plädieren dafür: „Neutralität ist kein Relikt, sondern ein Asset. Die Schweiz muss ihre Unparteilichkeit demonstrieren, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.” 

Durch konsequente Diplomatie und strikte Neutralität kann die Schweiz wieder „Boden gut machen” auf internationalem Parkett. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, echte Friedensverhandlungen zwischen Russland, der Ukraine und den USA nicht in Genf, sondern in Locarno abzuhalten. Genf, als Sitz der UN und zahlreicher internationaler Organisationen, ist zwar logistisch ideal, doch es verkörpert heute eine westlich dominierte Arena. Das NATO-Büro und die Nähe zu EU-Institutionen machen es für Russland unattraktiv – Moskau hat bereits klargemacht, dass es die Schweiz als Gastgeber ablehnt, solange sie „nicht neutral” ist. 

Locarno hingegen evoziert positive historische Assoziationen: Es ist ein Ort des Erfolgs, wo einst unversöhnliche Feinde – Deutschland und Frankreich – Frieden schlossen. Die malerische Lage am Lago Maggiore, fernab der urbanen Hektik Genfs, könnte eine entspannte Atmosphäre schaffen, die für sensible Gespräche förderlich ist; zudem ist das Tessin selbst im Winter ein angenehmerer Ort als das nebelverhangene Genf. 

Eine Reset-Option

Symbolisch würde Locarno die Schweiz als „ewig neutral” positionieren und Russland einladen, ohne das Gefühl der Unterlegenheit. „Locarno könnte der ‚Reset-Knopf‘ für die Schweizer Diplomatie sein”, meint der Historiker Jonathan Steinberg, Autor eines Buches über die Locarno-Verträge.

Gegner argumentieren, Locarno sei zu abgelegen und es fehle an Infrastruktur für große Delegationen. Zudem ist der Ukraine-Krieg komplexer als die Grenzstreitigkeiten von 1925: Er involviert territoriale Ansprüche, NATO-Erweiterung und globale Sanktionen. Dennoch: Inklusive Verhandlungen, bei denen alle Parteien – inklusive Russland – am Tisch sitzen, sind essenziell. Der aktuelle Genf-Prozess, der Russland ausschließt, erinnert an vergangene Fehlschläge wie die Minsk-Abkommen, die ohne echte Umsetzung scheiterten. Experten wie Glenn Diesen warnen: Waffenlieferungen und einseitige Pläne verlängern den Konflikt, statt ihn zu lösen.

Die Schweiz steht an einem Scheideweg. Um ihre Neutralität wiederherzustellen, muss sie mutige Schritte unternehmen: Sanktionen lockern, NATO-Distanz wahren und Orte wie Locarno für echte Dialoge nutzen. Nur so kann sie ihre Rolle als Friedensmakler zurückgewinnen und vielleicht einen Beitrag leisten, den Krieg in der Ukraine zu beenden. In einer polarisierten Welt ist Neutralität kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit – und Locarno könnte der Schlüssel sein, um sie neu zu beleben.

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