Diesen Text gibt es auch als Episode im Podcast des Sandwirts: Hier.
Gula meint Völlerei, Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Unmäßigkeit, Selbstsucht. Und wer jemals ein Baby beobachtet hat, das sich fröhlich alles in den Mund steckt, was nicht schnell genug auf einen Baum kommt, weiß, was Freud mit der oralen Phase gemeint hat. Der Schlund ist der Königsweg der Aneignung der Welt – was einmal drin ist, kommt zwar teilweise wieder heraus, aber ein anderer kann’s nicht haben. Die Welt wird mein und ist, beim Schlingen und Füttern, im Körperinneren – mehr jedenfalls als die Goldbadewanne des Habgierigen oder die wechselnden Partner des Sexsüchtigen.

Essen ist nicht nur ein Grundbedürfnis, sondern Ausdruck von Zuwendung, Quelle von Glück, insbesondere in der Form von Zucker, und gleichzeitig Ursache vieler Übel. Der Hunger, der ihm zugrunde liegt, symbolisiert den Urhunger, den Antrieb, sich die Welt untertan zu machen und sie sich einzuverleiben. Er kann kontrolliert und gezügelt werden, aber weggehen wird er nie.
Ich rufe mir gerne unsere Medien in Erinnerung – und klar ist: Das Gastronomische spielt eine Hauptrolle, neben Sex und Sport. Spitzenköche und Sommeliers werden gefeiert wie Stierkämpfer oder Fußballstars. Für eine bestimmte Schicht kann in diesem Bereich nichts teuer genug sein. Von der Inszenierung leckerer Speisen leben Unmengen von Fotografen, und kulinarische wie vinologische Reisen erfreuen sich wachsender Beliebtheit.
Dazu kommen noch die Kochshows: oft Wettkämpfe für den Zuschauer, der nebenbei Popcorn oder Fritten in sich hineinschaufelt, während vor ihm visuell eine Art Paradies zelebriert wird.
Die andere Seite der Medaille dieser Fressmessen ist dann der Diätwahn, der mindestens im Jahresabstand eine neue Art Religion hervorbringt: einmal nur mit Fleisch, dann ohne Ei, dann mit, dann keine Kohlenhydrate, dann Mittelmeerdiät, die bekanntlich Nudeln als Basis hat, dann Butter oder keine. Was man da im fortgeschrittenen Alter schon erlebt hat, sprengt die Vorstellungskraft. Eines aber ist klar: Schweinsbraten mit Knödel ist „Nazi“ – das geht gar nicht, sagen viele – außer es ist vom Hohenloher Schwein.
Überhaupt, im Zuge zunehmender Unverträglichkeiten verschiedenster Art, wird die Nahrungsaufnahme vom sozialen Ereignis zum Genuss in einer Art Einzelzelle. Die um den großen Spaghettitopf herumsitzende Wohngemeinschaft gibt’s nicht mehr. Trinkt einer Alkohol und weigert sich, Bier oder Wein unter diesem lieblosen Begriff zu subsumieren, so wird er in bestimmten Kreisen angeschaut wie ein Kannibale.
Das Essen wird moralisiert: Veganer gegen schlichte Vegetarier, Fleischfresser Söderschen Kalibers gegen Salatisten – nicht Salafisten –, Rohköstler gegen Griller. Die Gesellschaft zerfällt, und die Barrieren zwischen den Gruppierungen werden immer höher. Rauchen – vielleicht auch eine Abart der Gula – gilt längst als moralisch verwerflich, und Gespräche übers Aufhören sind abendfüllend. Ein kleiner Gewichtsverlust wird herausposaunt wie ein Olympiasieg, ungeachtet dessen, dass der Jo-Jo-Effekt grausam droht.
Vorbei die Zeiten des Barocks, dicker junger Frauen mit weißem Fleisch, vorbei die Zeit der Bäuche und Wänste, über die sich der Vollbart wölbte, vorbei die Ära der Meistertrünke.
Paradoxerweise hat sich die Gula mit der Askese vereint – mit fast ebenso fatalen Folgen. Die Zentrierung auf die eigene Oralität ist nicht weniger geworden; sie macht nur weniger Spaß.
Darauf einen Barolo. Oder vielleicht doch einen Burgunder? Egal!
Essen und Trinken ist noch eine relativ einfaches Feld, auf dem man Widerstand leisten kann. Also: Rettet die deutschen Winzer! Macht mit Freunden ein paar Fläschchen auf! Tut immer das Gegenteil dessen, was man Euch einzureden versucht!
Das Geheimnis guten Essens ist Fett, meinte einmal eine Freundin. Und mein Bruder sagte einem, der zu Coronas Zeiten sich über den Mangel an Antibiotika beschwerte: „Dann friss doch einen Schweinsbraten, du Depp!“
Schlimm ist nur die allgegenwärtige Moralisierung oraler Freuden. In längst vergangen Zeiten waren immer die Raucherzimmer die Ecken, wo es lustig zuging.
Man muss es ja nicht übertreiben!
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