Jacques Baud – ein neuer Tell?

Frei nach Schiller: Durch welches hohle Hirn der Gedanke kam, den Schweizer Oberst Jacques Baud zu sanktionieren, ist unklar. Was der Gesslerhut bedeutete, vor dem Baud sich nicht verbeugt hat, ist hingegen offensichtlich: Er krönte keine Stange auf dem Marktplatz, sondern tauchte als stereotype Einleitung zu nahezu jedem Artikel über den Ukrainekrieg auf: Der Diktator Putin habe völkerrechtswidrig und völlig überraschend die wehrlose Ukraine überfallen, die nun unsere Werte, unsere Demokratie und unsere Sicherheit verteidige.

Dass es hierzu einiges zu bemerken, ja einzuwenden gäbe, ist sicher. Schon die gebetsmühlenartige Wiederholung dieses Textes – nicht unähnlich dem „Bismillah“ der Muslime – zeigt, dass man sich seiner Sache offenbar doch nicht ganz sicher war, wollte man auf die Wirkung dieses Slogans, der von Anfang an Unterwerfung unter ein bestimmtes Narrativ verlangte, nicht verzichten.

Jacques Baud hat wider diesen Stachel gelöckt. Nicht als russischer Propagandist – die gibt es durchaus –, sondern als ausgesprochen unparteiischer und neutraler Beobachter des Geschehens.

Zunächst jedoch zum Vorgang selbst, der mich – das muss ich gestehen – entsetzt hat wie nur selten eine Maßnahme unserer Politik.

Was ist passiert? Die Berliner Zeitung schreibt am 16. Dezember:

„Die Europäische Union hat am 15. Dezember 2025 Sanktionen gegen 14 Personen und zwei Organisationen beschlossen. Die Maßnahmen richten sich gegen mutmaßliche Unterstützer russischer Desinformationskampagnen. Zu den Betroffenen gehört der ehemalige Schweizer Oberst Jacques Baud. Laut EU-Ratsbeschluss tritt der 69-jährige Baud regelmäßig in ‚prorussischen‘ Fernseh- und Radioprogrammen auf. Die EU-Behörden werfen ihm vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten. In der Begründung heißt es, er behaupte etwa, die Regierung der Ukraine habe die Invasion Russlands in Kauf genommen, um ihre Chancen auf einen NATO-Beitritt zu erhöhen. Die EU sieht darin eine Unterstützung von Handlungen, die die Sicherheit in Drittländern bedrohen könnten.“

Dazu sofort: Die inkriminierte Behauptung, „die Regierung der Ukraine habe die Invasion Russlands in Kauf genommen, um ihre Chancen auf einen NATO-Beitritt zu erhöhen“, ist laut Baud ein Zitat des ehemaligen Selenskyj-Vertrauten Oleksij Arestowytsch aus dem Jahr 2019, in dem dieser einen Krieg für Ende 2021/22 prognostizierte. Es scheint bei unseren Interpreten nicht einmal dazu zu reichen, ein Zitat von einer eigenen Aussage zu unterscheiden.

Was bedeutet diese Sanktionierung für Baud, der seit Jahren in Belgien lebt?

Baud wird ohne Vorwarnung, ohne Anklage und ohne jede Möglichkeit der Verteidigung sanktioniert. Das heißt konkret: Er darf die EU nicht mehr betreten, sein Vermögen innerhalb der EU wird eingefroren. Damit kehrt die EU-Führung in Zeiten der metternichschen Demagogenverfolgung zurück und tritt ihre eigenen Werte – insbesondere die Meinungsfreiheit – vollständig mit Füßen. Selbst die mittelalterliche Rechtsprechung erscheint mir fortschrittlicher als das, was hier betrieben wird.

Strafrechtlich kann man gegen Autoren wie Baud nicht vorgehen. Sie haben nichts Illegales getan, sondern lediglich die strategische Kommunikation der EU-Kommission irritiert. Also greift man zu Sanktionen, die Menschen vom Geldfluss abschneiden:

„Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum von natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen stehen oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.“

Zudem werden Reisebeschränkungen verhängt:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen die Maßnahmen, die erforderlich sind, um zu verhindern, dass in Anhang I aufgeführte natürliche Personen in ihr Hoheitsgebiet einreisen oder durch ihr Hoheitsgebiet durchreisen.“

Großzügigerweise können Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen die Einreise verweigern – müssen es aber nicht.

Begründet werden die Sanktionen mit „den anhaltenden böswilligen Aktivitäten Russlands als Teil umfassender, koordinierter und langjähriger hybrider Kampagnen, die darauf abzielen, die Sicherheit, Resilienz und demokratischen Grundlagen der Union, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Partner zu bedrohen und zu untergraben“. Für all das sollen auch Autoren wie Baud verantwortlich sein. Ergänzend heißt es, die Lage sei derzeit „sehr ernst“.

Man muss also damit rechnen, dass EU-Rat und EU-Kommission das Verbotsnetz weiter ausbreiten, sollte es nicht bald zu einem Kriegsende und einem Friedensvertrag kommen.

Im Klartext: Baud kann nicht reisen, er kann nicht einmal legal ein Brötchen kaufen, darf keine finanzielle Unterstützung annehmen, seine Konten sind gesperrt. Für den Autor von mehr als einem Dutzend Büchern ist das ein erheblicher Nachteil. Wie er an seine Schweizer Pension gelangen soll, ist mir unklar.

Wie gesagt: Anklagepunkte im rechtlichen Sinne gibt es nicht. Die EU-Kommission braucht sich auch gar nicht zu bemühen, den Nachweis zu führen, dass Baud für Russland arbeitet. Er wird verantwortlich gemacht „für Handlungen oder politische Maßnahmen, die der Regierung der Russischen Föderation zuzurechnen sind und die die Stabilität oder Sicherheit eines Drittlandes (Ukraine) untergraben oder bedrohen, durch Beteiligung an Informationsmanipulation und Einflussnahme …“.

Wer also nicht für die EU ist, ist gegen sie – und damit ein russischer Agent.

Man erlaube mir einen Blick in die Geschichte: Im Kern sind die Folgen für Baud dieselben wie bei einer Exkommunikation im Mittelalter. Nur eines darf man heute nicht mehr: ihn einfach totschlagen. Rechtsgrundsätze wie habeas corpus oder elementare Formen der Anklage scheinen in der EU nicht mehr zu gelten.

Wir sind, wie gesagt, wieder in den Zeiten der metternichschen Demagogenverfolgung. Und es bleibt nur dieser Satz: Die Göttinger Sieben kennt man bis heute – vor allem die Brüder Grimm. Die subalternen Beamten, die sie verfolgten, kennt niemand mehr.

Zuerst einmal noch einiges zu Bauds Biographie und militärischer Erfahrung. Jacques Baud, geboren am 1. April 1955, ist ein ehemaliger Oberst der Schweizer Armee, strategischer Analyst sowie Spezialist für Nachrichtendienste und Terrorismus. Zwischen 1983 und 1990 war er Mitglied des Schweizer Strategischen Nachrichtendienstes und zuständig für die Streitkräfte des Warschauer Pakts östlich des Eisernen Vorhangs sowie weltweit.

1995 wurde er aufgrund seiner Kenntnisse über Afrika und über Antipersonenminen als Missionsbeauftragter zum Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen nach Goma (damals Zaire) entsandt. Dort war er für die Sicherheit der ruandischen Flüchtlingslager in Zaire verantwortlich, um ethnische Säuberungen zu verhindern.

1997 erhielt er den Auftrag, ein Projekt zur Bekämpfung von Antipersonenminen aufzubauen, und wurde als Experte zum Minenaktionsdienst der UN-Friedensmissionen nach New York entsandt.

2002 trat er dem neu gegründeten Zentrum für Internationale Sicherheitspolitik (CPSI) im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten bei.

2005 baten ihn die Vereinten Nationen, das erste zivil-militärische und multidisziplinäre Analysezentrum (Joint Mission Analysis Centre – JMAC) der UN-Mission im Sudan (Khartum) zu leiten.

Von 2009 bis 2011 war er in New York Leiter für Politik und Doktrin im Büro für Militärangelegenheiten des UN-Departments für Friedenssicherung. Dort arbeitete er unter anderem an zivil-militärischen Operationen, der Verbesserung der operativen Nachrichtengewinnung, der Integration von Frauen in Friedensmissionen sowie am Schutz der Zivilbevölkerung.

2011 wurde er von der Afrikanischen Union zum Leiter der Forschungsabteilung des International Peace Support Training Centre (IPSTC) in Nairobi ernannt. Nach Ablauf seines Mandats wurde er bei der NATO in Brüssel Leiter für die Bekämpfung der Verbreitung leichter Waffen und von Landminen in der Abteilung für politische Angelegenheiten und Sicherheitspolitik.

Vergleicht man diese Karriere mit denen unserer selbsternannten „Sicherheitsexperten“, die von den Medien propagiert werden, dürfte der Unterschied ins Auge fallen. Baud ist ein Soldat, der sich für den Frieden eingesetzt hat. Die Genfer Konventionen – er stammt aus Genf – sind für ihn kein irrelevanter Text, sondern die Richtschnur seines Handelns. Festzuhalten ist auch, dass Baud versichert, für seine Bücher und Auftritte ausschließlich westliche und ukrainische Quellen zu verwenden. Jede Verbindung zum russischen Staat bestreitet er vehement.

Nach der russischen Invasion der Ukraine 2022 veröffentlichte Baud das Buch „Poutine, maître du jeu?” (auf Deutsch: „Putin: Herr des Geschehens?”), das von Medien als systematische Verteidigung Wladimir Putins kritisiert wurde. Mehrere Journalisten werfen ihm vor, russische Kriegsverbrechen zu relativieren, klassische Kreml-Narrative zu übernehmen und Fakten selektiv darzustellen. Er stellte unter anderem das Massaker von Butscha infrage und äußerte unbelegte Behauptungen über eine angebliche Inszenierung durch westliche und ukrainische Geheimdienste.

Damit rührt Baud naturgemäß an Kernthesen des westlichen Narrativs: an die eindeutige Zuschreibung von Grausamkeit an Putin und die russische Armee bei gleichzeitiger moralischer Makellosigkeit der Ukraine.

Ich habe Jacques Baud in zahlreichen Videos sprechen hören: ein älterer Herr, dessen Beherrschung von Englisch und Deutsch von seiner Genfer Herkunft geprägt ist, stets nachdenklich und überlegt, gelegentlich mit einem Anflug eines leisen Lächelns. Für mich strahlt er im Kern Neutralität aus – jene wohl bekannteste Schweizer Tugend. Nur selten wird er emotional, interessanterweise vor allem bei scharfer Kritik am Vorgehen der israelischen Armee gegen Zivilisten in Gaza. Wohlgemerkt: nicht gegen das Recht Israels auf Selbstverteidigung, sondern gegen das Vorgehen gegenüber der Zivilbevölkerung.

Am Fall Baud scheinen sich bereits jetzt die Geister zu scheiden. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes gilt: Die Schweizer Regierung unternimmt bislang nichts für ihren Bürger, Deutschland bekennt sich offen zu den Sanktionen. Weite Teile der Presse unterdrücken den Vorgang oder schweigen vollständig – sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz. Eine Ausnahme bildet Roger Köppel von der Weltwoche, der ausführlich berichtete und ein langes, sehr interessantes Interview mit Baud führte. In Deutschland haben die NachDenkSeiten positiv berichtet. Ansonsten: dröhnendes Schweigen.

Baud wird gegen die Maßnahme vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgehen. Entweder blamiert sich dieser vollständig – oder die Gegenseite wird vorgeführt.

Interessant ist zudem, dass Baud berichtet, weltweit Solidaritätsbekundungen erhalten zu haben: von E-Mails ehemaliger Soldaten, die heute überwiegend Führungspositionen in Schweizer Unternehmen innehaben, bis hin zu afrikanischen Sympathisanten, die sich an seine Vermittlungsbemühungen erinnern. Ihm wurden sogar Wohnungen angeboten – doch er kann nicht einmal auf legalem Weg in die Schweiz einreisen.

Das Ganze könnte – oder ist bereits – eine massive Blamage für die EU. Auffällig bleibt, dass auch alternative Publikationen, die sonst bei jeder Gelegenheit „freie Meinungsäußerung“ einfordern, sich hier auffallend bedeckt halten.

Ich gehe jetzt meinen Bademantel bügeln.

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