Protokolle der Aufklärung #49
Nachdem uns die Presse – mit der verbeamteten Wissenschaft als intellektuelle Einbläserin an der Seite – nacheinander die Generationen bis hin zum Buchstaben Z präsentiert hatte, wird jetzt die „Generation Krise“ ausgerufen. (Über Z kann man nämlich nicht mehr hinaus, wenn anders man uns nicht die Generationen Ä, Ö und Ü zumuten wollte. Aber wie hört sich das denn an: Generation Ä?)
„Millionen Heranwachsende sind psychisch belastet. Sie leiden unter Ängsten, Magersucht oder Depressionen“, schreibt der SPIEGEL in einer seiner letzten Ausgaben (50/2025). Wenige Wochen zuvor widmete das Blatt diesen Erscheinungen ein Sonderheft mit dem Titel „Was ist los mit mir?“.
Nun könnte man sich mit dem Spruch beruhigen: Wer von Propaganda lebt, muss hin und wieder eine neue Sau durchs Dorf treiben. – Aber ganz so einfach liegen die Dinge diesmal nicht.
Die Krisengesellschaft
Seit Jahren gelangen Nachrichten an die Öffentlichkeit, die stutzig machen. Der SPIEGEL meldete in seinen Ausgaben 12/2023 und 43/2023: 73 Prozent der 30- bis 40-Jährigen Deutschen bezeichnen sich als ausgelaugt. Die ZEIT spricht von einer „erschöpften Gesellschaft“ (1/2023). Der TV-Sender ARD berichtet am 26.1.24: Es gab 2023 durchschnittlich 19,6 Fehltage pro Person in der arbeitenden Bevölkerung. Die Techniker-Krankenkasse bestätigt diese Zahl. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos spricht von psychischen Störungen bei 54 Prozent der Altersgruppe der 18 bis 24-jährigen.
Wenn man das hört und liest, denkt man: Na ja, die Pandemie hinterlässt halt ihre Spuren. – Nur: Bereits im Jahr 2017, also vor dem organisierten Corona-Niedergang, gab der TV-Sender ZDF bekannt, dass ca. fünfzehn Millionen erwachsene Deutsche mehr oder weniger depressiv seien. Dazu kämen noch fünf Millionen, die ihre Depression wegdrücken bzw. verheimlichen oder hinter Nikotin-, Alkohol- und anderen Süchten verstecken.
Zur gleichen Zeit meldete der Versicherungsverband GDV, dass bei 35 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer mentale Krankheiten die Ursache für deren Berufsunfähigkeit seien. Die Zahl derer, die nach relativ kurzer Arbeitsphase das Handtuch warfen, war schon zu jener Zeit rapide angestiegen. Wohlgemerkt: Wir sprechen von Leuten, die in der Regel nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich für ihren Lebensunterhalt arbeiten.

Die kalendarisch Erwachsenen
Weiteres ist zu beobachten: Vielen von uns fällt es schwer, mit ganzer Seele und aus vollem Herzen erwachsen zu sein. Vielleicht weil wir es niemals mit Herz und Seele sein durften? Einen beschwingten und optimistischen Entschluss gab es in unserem Entwicklungsprozess nicht. Bei den Taktgebern des Prozesses sind Entschlüsse solcher Art nicht auf dem Schirm. Dies kontrastiert mit der Tatsache, dass ansonsten jeder Schritt unserer sogenannter „Bildung“ bis ins Kleinste durchgeplant ist.
Ob wir wollen oder nicht, jeder von uns wird nach Erreichen eines bestimmten Alters zum Erwachsenen gestempelt. Ab einem bestimmten Lebensalter erhalten wir unseren „Personalausweis“. Der freie Entschluss wird ersetzt durch einen staatlichen Beschluss Der macht kalendarisch Erwachsene aus uns. Das Erwachsensein wird zur Sache des Abreißkalenders. Wir werden behandelt wie Kinder, die eine kleine Belohnung erhalten für die Nichtigkeit, achtzehn oder einundzwanzig Jahre alt geworden zu sein.
Wie aufgesetzt wirkt das Verhalten von Menschen, die – nie richtig erwachsen geworden – es nun aufteufelkommraus sein sollen. Die Rollenerwartung im Beruf oder im öffentlichen Amt verlangt es ihnen ab. Das „normale Leben“ in unserer Gesellschaft zwingt, einen mehr oder weniger verdrießlichen Erwachsenenstatus zu akzeptieren.
Beatrix Pirchner schreibt: „Immer häufiger beobachtet man heute bei Erwachsenen ein Reaktionsgebaren, welches eher dem eines Kindes entspricht, das von der Realität überfordert ist“; vernunftbegabte, voll ausgewachsene Menschen erstrebten nichts Besseres, „als in dem infantilen Lebenszirkus [unserer heutigen Gesellschaft] ein treuer Mitspieler zu sein“.
Ausmalbücher für Erwachsene haben Hochkonjunktur. Buntstifthersteller melden Lieferengpässe. Der ZEIT-Autor Jan Ross beobachtet „eine Art trotziges Heimweh nach der Dreijährigkeit“ (54/2020). Dem Gebot des Erwachsensein-Sollens steht eine fortschreitende „Infantilisierung der Gesellschaft“ gegenüber (Johannes Beck).
„Spielplatz-Events für Erwachsene werden überrannt … Dem Trend hat die Marketingindustrie einen neuen Namen verpasst. Sie spricht von ‚Kidulting‘, was sich aus den Wörtern ‚Kid‘ und ‚Adult‘ zusammensetzt …Längst richten die Spielwarenkonzerne Design und Marketing gezielt auf die Älteren aus … Hasbro macht mittlerweile 40 Prozent seiner Umsätze mit Erwachsenen … In Disney World in Orlando lag der Anteil der erwachsenen Besucher, die nicht in Haushalten mit Kindern leben, schon 2018 bei über 60 Prozent“ (SPIEGEL 51/2023).
Man kann über solche Erscheinungen witzeln, sich von oben herab darüber amüsieren, sie zynisch kommentieren oder schlicht ignorieren. Man verkennt dann aber das Eigentliche am Problem: den irrlichternden Geist, der nach Ausweichverhalten dürstet, um dem durch Fehlbildung und innere Leere bewirkten seelischen Unmut zu entrinnen.
Vorausgesetzt, die oben zitierten Informanten haben sorgfältig recherchiert, dann sind wir mit äußerst bedenklichen Fakten konfrontiert. Angesichts solcher Fakten sollte doch einmal hart und schonungslos gefragt werden: Was ist von den emanzipatorischen Impulsen, z.B. der Aufklärer des 18. Jahrhunderts, heute übrig geblieben? Sind wir auf dem richtigen Weg?
Einige Philosophen und Sozialkritiker weiten die Fragen auf die gesamte abendländische Lebensweise aus. Ihre Antwort lautet: Nein, mit unserer Kultur stimme Grundsätzliches nicht. So besteht zumindest der Verdacht, dass Autoren wie Arthur Schopenhauer, Max Stirner oder Friedrich Nietzsche mit ihren Diagnosen nicht daneben lagen.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt die Buchreihe „Die freie Gesellschaft und ihre Entstellung, Band 1-4“ veröffentlicht.




