Diesen Text gibt es auch als Episode im Podcast des Sandwirts: Hier.
Natürlich war es eine Schnapsidee, Heiligabend mit fremden, einsamen Menschen verbringen zu wollen. Aber schließlich war ich selber einsam: Seit ich geschieden war, hatte ich mich vom Rummel des Christkindlmarkts so fern gehalten wie von der ganzen Familie. Sie war – sofern noch am Leben – übers Land zerstreut, meine Ex hatte längst wieder geheiratet und inzwischen die erwünschten Kinder bekommen; obendrein war ihr Mann vermögend. Mich traf, was Frank Wedekind, der Bürgerschreck und Hallodri, vor mehr als hundert Jahren verhieß:
Just die Kühnsten, Elegant’sten
Werden früh zu müden Krüppeln
Und die einst am tollsten tanzten
Müssen lahm zur Grube trippeln:
War mir nicht in den wilden 80er Jahren davor bange gewesen, als grämlicher alter Single in einer Abrissbude im Prenzlauer Berg zu verkümmern? Gut, es ist nicht der Prenzlberg geworden, der heute in weiten Teilen Schickeria beherbergt, sondern ein „Wohnklo mit Kochnische“ in einem Plattenbau; das Geld reicht für Miete, Heizkosten, Rundfunkbeitrag und Internet – so lässt sich’s leben, selbst wenn man völlig einfallslos ist. Aber zur Sache: Weihnachten ist für mich eher unersprießlich, weil die Programme immer dieselben sind. So kam ich darauf, den einzig bezahlbaren gastronomischen Betrieb in unserem Kaff aufzusuchen, der Raucher empfängt. Er hat sogar an Heiligabend geöffnet.
Sicherheitshalber versah ich mich mit einem Witzvorrat für allfällige Gespräche. Derlei findet einer leicht in den „sozialen Medien“, selbst wenn er keiner einschlägigen Chatgruppe angehört. Es ist sowieso längst üblich, Unterhaltungen mittels herumgereichter Smartphones zu beleben. Was politische Witze anlangt, bin ich nicht auf der Höhe, schon garnicht bei deftigen Zoten. Da ich immerhin weiß, was verlässlich Gelächter erzeugt – Schadenfreude – richte ich mich in der Praxis danach, welche Menschengruppe gerade besonders mit Häme bedacht wird. Freilich muss einer bei Politikern inzwischen sensibel sein wie bei Erich & Erich, bei Schmuddelkram gendersensibel. Zumindest sollte er wieder wissen, wer zuhört.
„Zur feuchten Ecke“ heißt das Lokal, über dessen fürs Fest dekoriertem Eingang der Spruch prangte: „Christmas alone? – Get In!!!“. Als ich an der massiven Holztür mit einem Gitter vor Butzenscheiben stand, öffnete sie sich. Nach außen.
„Oh!“, sagte der knapp zwei Meter große Herr mit Vollbart, wich etwas zurück, zog seine Begleiterin vorbei und brummte noch „Sorry!“
Dann geschah etwas Seltsames: Die auffällig gekleidete, stark geschminkte Frau – ich schätzte sie auf Mitte dreißig – entließ eine Flut polnischer Flüche, trommelte dem Mann auf den Brustkorb, wandte sich mir zu, schlug die Hände vors Kinn und sagte: „Boże, tak strasznie mi przykro! Sind Sie okay?“
Sie machte sich offensichtlich Sorgen. Ich hatte inzwischen ein Tempo aus der Tasche gefischt, schätzte den Blutverlust aus der Nase als unbedenklich ein und antwortete: „Nie ma problemu, lubię jak mój ogórek trochę rośnie.“ Ich verzog dabei keine Miene, das habe ich bei Buster Keaton gelernt, und es funktioniert meistens. Die beiden lachten los.
Falls Sie sich jetzt fragen, was vorging: Ich bin nicht der einzige Ostler, der etwas Polnisch spricht: Es kann Leben retten. Wut tut’s eher nicht. Stellen Sie sich einfach vor, ein Deutscher schlüge einem Ausländer eine Kneipentür ins Gesicht. In solchen Situationen lauern Missverständnisse buchstäblich vor jeder Nase; wenn man die jüngere Geschichte nicht kennt, können sie sogar ins Auge gehen. Mir geschah anderes: Der Hüne legte mir die Linke auf die Schulter, streckt die Rechte hin und sagte in akzentfreiem Deutsch: „Tut mir echt leid, Mann, aber von drinnen konnte ich dich einfach nicht sehen. Magst du mit uns einen trinken? Ich bin Paul.“
„Ja bitte“, jetzt lächelte der polnische Weihnachtsengel, denn tatsächlich trug die Frau ein Kostüm mit an den Schultern befestigten Flügelchen, einer goldblonden Perücke, jeder Menge Glitter und Flitter nebst roten Overknees – das alles war mir über Zusammenprall und Schmerz entgangen.
Die Gesellschaft in der „Feuchten Ecke“ wendete nur kurz die Köpfe, als wir eintraten. Es schien, dass man einander kannte, allein und einsam saß niemand, wir setzten uns an einen der freien Tische. Die Wirtin brachte alsbald eine Flasche Sekt, die zu spendieren der Türschwinger angekündigt hatte.
„Frohe Weihnacht“, sagte der Engel, charmant lächelnd und das „r“ rollend, „Nase nicht schlimm, gibt nur Brillenhämatom, vierzehn Tage wieder heil.“
Der Hüne grinste. „Małgorzata versteht was davon. Nenn sie einfach Gosia, sie ist Krankenschwester“.
„Als Weihnachtsengel verkleidet? Ich heiße übrigens Gustav.“ Während ich mir eine Zigarre anzündete, ließ sich der Engel von mir Feuer geben. „Und wo ist der Weihnachtsmann?“
„Is er auf Weihnachtsinsel“, kicherte die Raucherin. „fier Mamusia.“
„Aha. Du amüsierst dich mit Paul, und der Weihnachtsmann beschert auf einem Atoll im Pazifik bei 30 Grad dessen Mamusia, also die Mutter – oder wie?“ Jetzt lachten beide los.
„Es ist etwas kompliziert.“ Paul rauchte anscheinend nicht. „Meine Mutter ist daheim in der Uckermark. Normalerweise feiern wir bei ihr. Sie darf nicht wissen, dass ich hier bin.“
Gosia legte ihr rechtes Bein auf seinen Oberschenkel. Ihre Stimme klang etwas verächtlich: „Uckermark! Du kannst Polnisch von da, Gustav?“
„Nein, ähhmmm, ich hatte mal ne Freundin, in Berlin … Ist schon lange her. Anfang der 80er.“
„Schlimme Zeit in Polen. Zwischen Polen und DDR. Du warst DDR?“
„Leider. Noch schlimmer: Ich war als Reservist bei der Armee. Kurz vor Weihnachten 1981 hätte ich mir beinahe in die Hosen gemacht vor Angst, dass wir nach Polen einmarschieren müssten. Dass Jaruzelski in der Nacht von 12. zum 13. Dezember dort das Kriegsrecht ausrufen ließ, ohne Hilfe der sozialistischen ‚Bruderarmeen‘ die Opposition niederwarf, hat mich gerettet. Die deutsche Attacke über die Oder, über die ‚Friedensgrenze‘, wurde abgeblasen. Wir durften, nachdem wir stundenlang in Gefechtsausrüstung gezittert hatten, die Kalaschnikows wieder in der Waffenkammer abgeben.
Weihnachten stapfte ich stattdessen auf Wache bei Minus 20 Grad um ein Munitionslager bei Potsdam herum. In der Finsternis sahen wir die Christbäume in den Häusern unterm Hügel schimmern. ‚Weihnachtsinseln‘ sozusagen. Danach riss der Kontakt zu meiner Polin völlig ab. Ich weiß nicht einmal mehr ihren Namen … Halt, warte … sie hieß Salomea.“
„Nicht nur polnisch auch jiddisch!“ Gosia blies die Backen auf. „Du hast Glück, Paul. Małgorzata ist deutsche Margarete.“
Der Weihnachtsengel sprang auf, tanzte zu „Jingle Bells“ eine Runde um den Tisch, zauste Pauls Bart und gab ihm einen Kuss. „Was hat deine Mama damals gemacht?“
„Keine Ahnung. Ich war gerade drei. Eine Anhängerin der Solidarność war sie bestimmt nicht. Hat immer noch Vorurteile gegen Polen – und Polinnen.“ Er wandte sich zu mir. „Weihnachten auf dem Feldzug gen Osten – wärst du da mitmarschiert?“
„Nein, ich hätte mich geweigert, auf den LKW zu steigen. Meine Weihnachtsinsel wäre der Armeeknast in Schwedt an der Oder gewesen.“
„In der Uckermark“, kicherte Gosia und drückte ihre Zigarette aus, um sogleich eine neue zu zücken, ich hielt ihr die Flamme hin. „Also du, Gustav“, sie kicherte immer noch, „warst für Solidarność?“
„Ja. Ich habe deine Landsleute bewundert für ihren Mut. Die SED schoss aus allen Rohren Propaganda dagegen. Im Sommer 81 war ich von meinem Betrieb zu einer Schulung delegiert. Ein Funktionär der Bezirksleitung ließ uns wissen, dass, ginge es nach ihm, schon längst ‚damit aufgeräumt‘ worden sei. Ich sagte, diese Ausdrucksweise gegen Polen erinnere mich an finstere Zeiten. Danach wurde ich zum Chef gerufen. Der Genosse habe sich ungeschickt geäußert, ließ er mich wissen, und ich möge die Angelegenheit als erledigt betrachten. Ein paar Wochen später bekam ich die Einberufung als Reservist.“
Jetzt brach der Weihnachtsengel in derart lautes Gelächter aus, dass sich sämtliche Köpfe ihm zuwandten. Paul schwieg, stand dann auf, fasste seine Liebste bei der Hand und um die Taille, lächelte:
„Es ist Weihnachten, mein Engel. Lassen wir die alten Geschichten? Ich war drei und du noch gar nicht auf der Welt. Meine Ma wird sich schon mit dir anfreunden, nur Geduld.“
„Du versteckst dich vor ihr. Warum nicht gleich emigrieren? Auf Weihnachtsinseln?“
Paul schnaufte, zog seinen Engel zurück an den Tisch, schüttelte den Kopf, murmelte zu mir gewandt: „Nimms nicht krumm, dass wir hier unsere Probleme ausbreiten. Ich habe meiner Mutter mitgeteilt, dass ich dieses Jahr nicht wie gewohnt zum Fest bei ihr sein kann, weil ich auf See bin, Kurs Australien, Zwischenstopp Weihnachtsinsel. Aber das ist nicht das Atoll, das du meinst, Gustav – Kiritimati (sprich Krismäs), mit durchschnittlich 30 Grad zwischen Sonne im Dezember und üppiger Regenzeit, wenn bei uns Sommer ist. Das gehört zum Inselstaat Kiribati im Pazifik. Ich habe meiner Mutter gefakte Bilder vom zu Australien gehörigen Christmas Island im Indischen Ozean geschickt. Dort bin ich mit den berühmten roten Weihnachtsinsel-Krabben zu sehen, sogar mit einem Palmendieb, auch Kokosnussräuber genannt. Der Riesenkrebs wird bis zu einem Meter groß und hundert Jahre alt, mit seinen Scheren kann er nicht nur dicke Nüsse knacken, sondern sogar Rohre verbiegen. Ich bin Seemann, weißt du, aber ich habe gerade von meiner Reederei den Abschied bekommen. Das und zugleich Streit ums Heiraten und Kinderkriegen wollte ich der alten Dame nicht zumuten. Drum sind wir hier, wo Gosia leider wieder vor, nun auch an den Feiertagen Dienst schieben muss. Personal ist knapp, keine Zeit für große Deko und aufwändiges Essen, kochen kann ich nicht, auf dem Frachter werden wir versorgt. Wurden wir.“

„Lerne kochen, lerne Nüsse knacken und geh mit mir zur Kirche.“
Der Weihnachtsengel setzte sich, schlug die Arme unter und legte die roten Stiefel auf den Tisch. Die Gesichter der Gesellschaft wandten sich uns wieder zu.
„Das ist ja ein Ding“, rutschte es mir heraus. „Mein Großvater Karl war auch Seemann, Schiffsingenieur. 1914 wurde sein Dampfer „Rappenfels“ im Hafen von Melbourne beschlagnahmt, die Mannschaft als Kriegsgefangene interniert. Ob Christmas Island damals schon Internierungslager hatte, weiß ich nicht – es war noch britisch, kam erst 1958 zu Australien – aber interniert wurden seither dort unerwünschte Zuwanderer und Einreisende unter Coronaverdacht. Opa Karl landete jedenfalls in einer Wellblechbaracke in der australischen Wüste, für fünf Jahre. Das war übel, aber besser als im Schützengraben an der Front. Übrigens hieß meine Oma Margarete. Sie wäre jetzt 123.“
Das Pärchen amüsierte sich. „Hast du die Bilder mit den Krabben an deine Mutter per E-Mail geschickt, Paul?“
„Nönö. Glücklicherweise war ein Kollege auf dem Weg nach Sydney. Er hat australische Marken auf den Brief geklebt – sieht einfach echt aus. Meine Mutter hat inzwischen WhatsApp, da ist egal, woher Bilder kommen, und das hätte sie womöglich misstrauisch gemacht. Sie wittert Gosia dahinter, wenn ich Weihnachten nicht komme.“
„Was hat sie denn gegen Gosia? Mir ist sie sehr sympathisch.“
Gosia grinste: „Krankenschwester, Polin und katholisch – mag sie alles nicht. Besser Thai oder Maori? Prost Porno.“ Die Sektflasche leerte sich zusehends.
„Nanana, übertreib’s mal nicht. Sie hat es nicht leicht, nur mit dem Hund ganz allein – und dass ich Weihnachten mit ihr feiere, ist das Mindeste.“
„Aber Söhnchen arbeitslos – das bringt sie um.“
Paul war das peinlich. Ich versuchte, ihm beizuspringen. „Alte Menschen ertragen einsame Weihnachten schwer. Für mich, meine Schwester, Mutter und Großmutter war das Christfest immer ein Höhepunkt. Die alten Frauen mochten sich auch nicht besonders, aber Glockenläuten zur Christvesper, Lichter am Baum, Heringssalat an Heiligabend, Äpfel und Gans in der Ofenröhre, selbst die bescheidenen Gaben in den 50er, 60er Jahren heilten alle Streitereien. Es war wie auf einer warmen Insel im Ozean von Mangel und Verdruss. Die Weihnachtsinsel in einem alten, Fachwerkhaus, das zwei Weltkriege überlebt hatte. Als Karl 1919 zurückkehrte, folgten viele schlechte Jahre, aber Weihnachtsbräuche und Weihnachtsschmuck überlebten – sogar den Abriss des Altstadtviertels. Ich habe das später nie mehr so intensiv erlebt. Ist das nicht in Polen ähnlich, Gosia?“
„Is Altersfrage, aber Familien halten normal zusammen. Heiligabend geht großes Essen los, nachdem erster Stern am Himmel brennt – oder wie sagt man? ‚leuchtet‘. Zwölf Gerichte ist ‚Wigilia‘ – Tradition.“
„Hollah! Habt ihr heute schon alle zwölf geschafft zu zweit?“
„Phhhhh! Heute Dienst bis sechs. Aber gab guten Fisch – und Oblate davor. Symbol für Abendmahl, Sünden vergeben.“
Paul stand auf, pflückte seine Liebste vom Tisch und wollte sie küssen, aber sie legte ihm die Finger auf den Mund. Paul lachte: „Drei Heringsgerichte – das musst du jetzt aushalten.“
„Fleisch erst am Feiertag.“ Gosia griff sich ihren Seefahrer, aus dem Lautsprecher erklang gerade „White Christmas“, und die beiden drehten eng umschlungen Runden zwischen den Tischen, die Rauchergemeinde applaudierte.
„Jadę na wakacje w przyszłym roku. Wir feiern in Polen mit Familie.“
„Oder bei 30 Grad auf Kiritimati, dort sind auch die meisten katholisch.“
„Erst heiraten, dann Seereise!“
„Das wär doch mal ein Weihnachtsgeschenk“, warf ich ein, „und ich werde Trauzeuge – oder? Trinken wir noch ne Flasche Sekt?“
„Verschieben wir’s – bis Brillenhämatom geheilt. Czy pójdziemy teraz na pasterkę, Paulchen?“
„Jasne, a potem będziemy świętować na twojej ‚Weihnachtsinsel‘!“
Das war ein Moment, in dem ich wünschte, noch jung genug zum Auswandern zu sein. Nein, nicht unbedingt auf eine Weihnachtsinsel. Mir reichte ein Ort ohne Rauchverbote und Moralapostel.
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