Verderben positivistische Regelungen unser Menschenmaß? Sorgen normative Verhaltenssätze zum Verlust individueller Handlungskompetenz? In diesem Artikel untersuche ich das Rote-Ampel-Phänomen.
Was ist das? Das ist rotes Licht.
Szenenbeschreibung | Später Abend. Einsetzende Dämmerung. Kaum Verkehr. Innerstädtische Kreuzung. 500m Sichtweite in jede Richtung. Rote Ampel. Kein Verkehrsteilnehmer weit und breit. Stille.
SSB | „Rot. Stehen bleiben. Warten auf grün.“ … „Das dauert aber schon wieder lange. Kommt denn überhaupt was?“ … „Mist, es kommt gar nichts.“ … „Egal, stehen bleiben.“
DRADS | „Ampelphase ist Ampelphase. Das hat weder etwas mit der Uhrzeit noch etwas mit dem tatsächlichen Verkehrsaufkommen zu tun. Du bleibst gefälligst da steh‘n!“
SSB | „Es kommt ja immer noch nichts. Das gibt es doch nicht.“ … „Es ist ja auch schon spät und eigentlich nicht mehr viel los, oder?“
DRADS | „Stehen bleiben!“
SSB | „Stehen bleiben – rot. Rot – stehen bleiben.“ … „Aber es kommt doch immer noch nichts, oder?“ … „Ob ich vielleicht …“
DRADS | „NA! Du wirst ja wohl nicht …“
SSB | „Schon gut, schon gut. Entschuldige. Natürlich nicht. Rot – stehen bleiben. Stehen bleiben – rot.“
DRADS | „Der braucht wohl mal eine erinnernde Erziehungsmaßnahme? Die gebe ich gerne – das Licht bleibt rot.“
SSB | „Ohhhh – es kommt ja immer noch nichts.“ … (nervöses Umherblicken) … „Aber es geht auch sonst niemand, oder? Ne, hier ist gar keiner – Mist!“ … (Das Rufen eines Kuckucks ertönt in der Abendstille) … „Komm schon, werd‘ jetzt grün.“
DRADS | „Oh nein, du wartest noch etwas!“
SSB | „Ich mache einfach ganz lange meine Augen zu – dann wird es bestimmt grün.“ … „Hach, das bringt nichts.“ … „Na gut, dann warte ich halt.“
DRADS | „Na also, geht doch! Die Lektion ist erteilt.“ … (Ampel schaltet auf Grün)
SSB | „Na endlich! Siehst du, man muss nur lange genug warten – irgendwann wird es immer grün. Aber wäre die Ampel noch ein bisschen länger rot geblieben, wäre ich wirklich einfach gegangen – ganz sicher!“
DRADS | „Träum weiter. Du stündest da in drei Tagen noch.“
(Wenn Sie sich noch fragen, für was eigentlich die gebrauchten Abkürzungen stehen, hier die Auflösung: SSB ist natürlich der Schlaf-Schaf-Bürger und DRADS ist mithin Die rote Ampel des Staates.)
Das Rote-Ampel-Phänomen
In meinem Notizbuch ist das Rote-Ampel-Phänomen wie folgt kommentiert: „Wenn Menschen die Autorität eines Lichtchens über das Zutrauen in die eigenen Sinneswahrnehmungen sowie ihre unabhängige Handlungskompetenz stellen.“
An Ampeln können Sie kuriose Szenen erleben. Etwa ein junges Pärchen, das auf eine zwei Meter breite, wenig befahrene, einspurige Straße zusteuert – der Mann, den Blick nach links wendend, macht den ersten Schritt, um die augenscheinlich freie Straße zu überqueren; die Frau, den Blick starr auf die Ampelmännchen gehalten, bleibt stur stehen und zieht ihren Freund zurück, der sich gehorsamst fügt. Verdrossen der Mann, ungeduldig die Frau, stehen die beiden dort geschlagene vier Minuten, bis sich schließlich die erwartungsvoll beobachtete Lichtsignalanlage erbarmt. Mir blieb bloß das Kopfschütteln angesichts dieses etatistischen Fügens. Schade, dass innerhalb dieser vier Minuten nicht schon die Straßenbahn gekommen ist. Mit Freuden hätte ich den entstandenen Interessenkonflikt beobachtet. Doch die Bahn kam zu spät und damit gerade spät genug für die Staatstreuen – vielleicht ihre Belohnung, gewissermaßen von Staats wegen.
Doch das allgemeine Verhalten an Ampeln ist nicht zu unterschätzen und schon gar nicht zu vernachlässigen – es ist nachgerade Ausdruck des etatistischen Betreuungsverhältnisses, dem sich doch viel zu viele Menschen unterordnen. Währenddessen derjenige, der unbeachtet der Lichtsignalanlage an eine Straße herantritt, zunächst und vor allem einen Blick auf alle übrigen Verkehrsteilnehmer wirft, um seine Überquerungsmöglichkeitem real abzuwägen, blickt der Ampeltreue unentwegt und häufig lediglich auf seine Lichtgottheit, steht verlässlich bei Rot und geht eifrig bei Grün und vergisst dabei doch tatsächlich die Realität um sich herum, die potentiell herannahenden Kraftfahrzeuge – im Falle eines Zusammenstoßes lautete der erste Gedanke dieser Staatskinder wohl: „Aber ich hatte doch Grün!“
Der sich auf die Ampel Verlassende stellt das eigenständige Wahrnehmen seiner Umgebung sowie das eigenverantwortliche Entscheiden unter Bezugnahme auf seine Sinneswahrnehmungen ab. Für den Ampelhörigen haben sich also die Bezugspunkte zur Realität verschoben – er fällt hinab in einen passiven Modus des Dahintreibens, in vollem Vertrauen auf die maschinelle Betreuungseinrichtung, geschubst und gestoppt durch die etatistische Steuerungs- und Planungsanlage.
Doch wer einmal in diesen passiven NPC-Modus verfällt, der ruht sich bald immer öfter in ihm aus, verlernt das aktive Gebrauchen der eigenen Sinnesorgane, verliert das Zutrauen in die selbstständige Handlungskompetenz und vergisst die Realität um sich herum. Wer statt des Straßenverkehrs seine Wahrnehmung auf die Lichtsignale beschränkt, der ist schon bald nicht mehr in der Lage, abseits der Wegweiser auch den Wald, die wohligen Laute der Vögel oder das wehende Rauschen der Blätter zu bemerken, zu erleben, zu genießen.
Mit Menschenmaß durch den Alltag
In einer hochinteressanten Fair-Talk-Runde (https://youtu.be/rswpfilY5rg) entfaltete sich Carlos A. Gebauer über das der Gesellschaft abhandengekommene Menschenmaß. Doch was ist damit gemeint? Mit Menschenmaß agiert derjenige, der in seinem Handeln natürlichen Kontext berücksichtigt und subjektives Ermessen einschließt. Menschenmaß erfordert also Realitäts- und Menschenbezug.
Zwischenmenschliches Miteinander entmenschlicht, wenn sich der Umgang miteinander anonymisiert, normativ überlädt, hyper-technologisiert oder im Wege der Hyper-Normalisierung (Thorsten Polleit: https://youtu.be/YEpwq3_Et7M) ideologisch moralisiert.
Eine ursächliche Beantwortung der Frage nach dem verloren gegangenen Menschenmaß verlangt überdies nach einem kurzen Ausflug in rechtliche Ausführungen. Die heutige Rechtsdogmatik umfasst die Auseinandersetzung mit dem positiven Recht. Das positive Recht sind indes die tatsächlich geltenden Gesetze und Normen, die vom Gesetzgeber gegeben wurden. Geltung erlangen sie gemäß des juristischen Geltungsbegriffes durch ordnungsgemäße Setzung.
Hans Kelsen konnte folglich sagen: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“
In diesem rechtspositivistischen Umfeld richtet sich das menschliche Sein nach dem normativen Sollen. Lässt der Einzelne nun sein subjektives Wahrnehmen von diesem in einen starren Gesetzeswortlaut gegossenen Sollen überlagern, so entledigt er sich zum einen seines Menschenmaßes und zum anderen liefert er sich der Willkür von Gesetzgebung und Gesetzesauslegung aus.
Verstehen wir die rote Ampel pars pro toto im Sinne des Straßenverkehrs, der wiederum nur beispielhaft das Miteinander in der Gesellschaft abbilden soll. Die Straßenverkehrsordnung als Allegorie normativer Verhaltensregeln ermöglicht im hiesigen Kulturraum ein geordnetes Miteinander in dem potentiellen Konfliktraum Straße. Jedoch führt – wie bereits erörtert – eine weitreichende normative Kleinstregelung des menschlichen Verhaltens zu einer Ablegung menschlichen Ermessens, zu einem regeltreuen Blindgehorsam.
Sind es nicht oftmals jene, die pedantisch jedwede Regel befolgen, welche in Situationen, die außerhalb des normativ Geregelten liegen, panisch und manisch reagieren, weil ihnen in ihrem Regelbefolgungswahn alles menschliche Ermessen verloren gegangen, ihnen ihr Menschenmaß abhandengekommen ist?
Sind es wiederum nicht regelmäßig solche, die menschliches Ermessen dem normativ Gesetzten voranstellen, welche in konfliktbergenden Situationen rasch zu einer friedvollen und vernünftig erscheinenden Lösung finden?
Handelt die Frau, die – aus einer Einbahnstraße kommend – das infolge eines Wendemanövers eines Lkw erforderlich erscheinende Zurücksetzen verweigert, mit Menschenmaß? Ist das regelkonforme Strafticketverteilen an einen Schüler, der dem Kontrolleur gut bekannt ist und jeden Monat ein neues Monatsticket erwirbt, um zur Schule zu gelangen, es an diesem Ersten des neuen Monats allerdings vergessen hatte, Recht? Von was wird ein älteres Ehepaar getrieben, das in einer Nacht- und Nebelaktion das Motorrad eines Nachbarn abschleppen lässt, der in Unkenntnis der Eigentümerlage seit vier Jahren unbeanstandet auf diesem Parkplatz gestanden hatte, um im Anschluss an diese einen Schaden von 500 Euro verursachende Abschleppung den Parkplatz frei und unbesetzt zu lassen?
Sehr verehrte Leser, dies sind keine erdachten, sondern Beispiele aus meiner eigenen, jüngsten Erfahrung. Ihnen wird es nicht anders gehen … Wo in Ihrem Lebensumfeld mangelt es im Miteinander an Menschenmaß?
Wer an roten Ampeln steht, guckt zu viel Tagesschau
Wir brauchen in unserem täglichen Miteinander also weniger Normen und mehr Wirklichkeitsbezug. Diesen muss sich jeder Einzelne erhalten und bewahren, ihn ausleben und pflegen. Mitunter ist menschliches Ermessen vielerorts aus dem Alltag verschwunden. Es erschien gemeinhin doch zu leicht und angenehm, das variable, unstetige, allzu sehr flexible Abwägen der menschlichen Betrachtung durch das starr normierte Gesetz zu ersetzen.
Wie viele Fußballfans wünschen sich nicht unlängst die ehrlich-fehlerbehaftete Ermessensentscheidung des vor Ort anwesenden Schiedsrichters zurück, um nicht mehr dem undurchsichtigen starren Regelgewirr des computerartigen Kölner Kellers ausgeliefert zu sein, der es fertigstellt, in seiner Normenkorrektheitswut jede Emotion aus dem Sport zu jagen?
Wie trainieren wir unser Ermessen? Genau wie ich es mir zu eigen machte, während der Windeln-Vor-Dem-Gesicht-Zeit grundsätzlich in keiner Straßenbahn eine Maske aufzuziehen – diese panisch-entsetzten, schier ungläubig-empörten, doch zugleich ratlos-überforderten Blicke werde ich nie vergessen … einzigartig herrlich –, so habe ich es mir angewöhnt, als Fußgänger grundsätzlich an keiner roten Ampel stehen zu bleiben und überhaupt Lichtsignalanlagenfußgängerüberwege zu vermeiden.
Ich kann Sie nur zu selbigem Verhalten ermutigen. Erstens schärft das unglaublich die Sinne, an großen Kreuzungen in vier Himmelsrichtungen sowohl den Auto- als auch den Straßenbahn- sowie den Fahrradverkehr im Blick zu behalten, zweitens macht es ungeheuren Spaß die empörten Blicke der Am-Rotlicht-Wartenden zu spüren, und drittens stärkt es ungemein das Selbstvertrauen, eigenständig und wider den Staatsregeln an sein Ziel zu gelangen. Manchmal ertappe ich mich sogar dabei, an grünen Ampeln stehen bleiben zu wollen – um des Trotzes willen und der Widerspenstigkeit halber.
Jedenfalls wage ich die These, dass Menschen, die eigenständig handlungskompetent an eine Kreuzung herantreten und die dortige Verkehrssituation wirklichkeitsbezogen statt normenergeben begutachten, ihrem übrigen Alltag mit erheblich mehr Menschenmaß begegnen.





1 Kommentar. Leave new
Schöne Geschichte, sehr bezeichnend. Das Problem ist nur: wenn es Grün wird, wird ja nichts besser; gar nichts.