Der politpsychologische Frühstückssmoothie #43
Die sprachliche Mobilmachung geht stets der militärischen voraus. Und darin besteht eine Riesengefahr. Auch der 1. und 2. Weltkrieg kamen nicht aus dem Nichts. Ihnen ging jeweils eine langjährige mentale Mobilmachung voraus. Mit viel Propaganda, um Gefühle von Bedrohung und Angst zu erzeugen.
Auch heute werden Angst- und Bedrohungsgefühle intensiviert und potenziert. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich in westlichen Medien ein Ton durchgesetzt, der nicht nur informiert, sondern der formatiert und selektiert: Die Rede ist von „Zeitenwende”, „Schicksalskampf”, „Waffenhilfe”, „Sieg”, „Niederlage” – alles Begriffe, die in die Irre führen, das Denken manipulieren und emotional aufhetzen.
Im Ukraine-Krieg war es niemals im Bereich des Möglichen, dass die Ukraine den Krieg hätte gewinnen können. Wenn führende Politiker und Journalisten heute die Bevölkerung Glauben lassen wollen, dass Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit alternativlos sind, so muss dies als manipulative Lüge entlarvt werden. In den öffentlich-rechtlichen Medien werden mit schöner Regelmäßigkeit immer nur die bellizistischen „Experten“ präsentiert. Die klügeren, differenzierten Stimmen – auch aus dem Lager der Ex-Militärs – kommen systematisch nicht zu Wort. Wer solche Medien hat, der sollte sie abschalten!
Dabei handelt es sich bei der medialen Förderung der Kriegstüchtigkeit um ein altes Muster: Kriegspropaganda lebt von Wiederholung, Polarisierung, Emotionalisierung und – vor allem – von Lügen. Wo früher von „Verlusten” die Rede war, spricht man heute von „Kosten”. Soldaten sind Menschenmaterial und notwendige Opfer. Für was und für wen?
Wo einst Neutralität und Diplomatie wichtige Werte waren, werden sie heute als falscher Standpunkt oder Feigheit diskreditiert. Und wer deeskalieren will, wird rasch als naiv oder „Putinversteher” etikettiert.
Die Medienrhetorik speist sich aus einem dualistischen, undifferenzierten Weltbild: Hier das Gute, dort das Böse. Sie kennt keine Ambivalenz, keine historischen Tiefenschärfen, keine strukturelle Komplexität. Stattdessen: moralischer Furor, verkürzter Aktivismus, narrative Kriegsmobilisierung.
Nicht nur dass im Krieg die Wahrheit das erste Opfer ist, sie ist es schon in kriegsvorbereitenden Zeiten. Wichtig ist zu erkennen, dass dieser Krieg kein Krieg im deutschen und europäischen Interesse ist. Dass er endlich mit einer Friedenslösung beendet werden muss. Und dass Aufrüstung im Umfang von Hunderten von Milliarden Euros nicht nützlich und schon gar nicht zukunftssichernd ist.
Was fehlt, ist ein Journalismus der Friedensfähigkeit: ein Erzählen, das differenziert, zuhört, fragt, einordnet und um historische und kulturelle Zusammenhänge weiß. Ein Diskurs, der nicht nur das „Wie” des Krieges, sondern das „Warum”, das „Wozu” und das „Wie lange noch” ins Zentrum stellt.
Die Frage des „Cui bono“, wem das Ganze nützt, muss kritisch und mutig gestellt und einer Antwort zugeführt werden. Ein Ethos der Aufklärung statt der Mobilisierung muss einkehren. Und wenn es dann Politiker und Journalisten immer noch nicht begreifen, soll es auch um Emotionen gehen: Sterbende Soldaten, vor allem mit langem Todeskampf, rufen in ihren Schmerzkrämpfen und Todeskämpfen allzu oft nach ihrer Mutter. Wer das als fühlender Mensch einmal miterlebt hat, wird nie mehr nach Kriegstüchtigkeit rufen, sondern nach Friedenstüchtigkeit.
In einer Gesellschaft, die Friedenstüchtigkeit als Tugend begreift, muss auch die Sprache entmilitarisiert werden. Wer mit Worten den Krieg herbeiredet, bereitet den Boden für tatsächliche Gewalt. Wer mit Moral bombardiert, zerstört das Gespräch. Friedenstüchtigkeit beginnt hier – im Widerstand gegen kriegsverliebte Rhetorik.
Das umgedrehte Pazifismus-Versprechen
Besonders irritierend für viele Bürger war das abrupte Rollenswitching prominenter Politiker der Ampelregierung, die sich über Jahre hinweg als pazifistisch, abrüstungsbeseelt und friedensbeseelt profilierten – um seit 2022 zu engagierten Verfechtern schwerer Waffenlieferungen, Aufrüstung und geopolitischer Härte zu werden.
Beispielhaft genannt sei Anton Hofreiter, lange Zeit Vertreter einer wertebasierten Außenpolitik, ökologisch-ethisch argumentierend, heute einer der lautesten Befürworter militärischer Unterstützung für die Ukraine. Auch Ex-Außenministerin Annalena Baerbock, die noch 2021 mit dem Slogan „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ warb, zählte wenig später zu den vehementesten Stimmen für militärische Stärke – verbunden mit einer Sprache, die Kampfgeist mit Moral vermischt („Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“, 2023). Solche „Spitzenpolitiker“ hat unser Land nicht verdient. Ihre Agitation, ihr kognitiver Horizont und ihre falsche Seele sind eine Gefahr für den Frieden.
Diese ideologischen Volten werfen Fragen auf: Handelt es sich um Anpassung an Realpolitik, um ein Verlassen moralischer Prinzipien oder um einen neuen Typus post-ideologischer Karrierepolitik, der von vornherein auf Lügen und Bullshit-Rhetorik gebaut ist? In jedem Fall unterminieren solche Richtungswechsel die Glaubwürdigkeit von Politikern allgemein und rhetorischen Friedensversprechen speziell – und damit auch das Vertrauen in eine außenpolitische Ethik.
Für eine ernst gemeinte Debatte über Friedenstüchtigkeit braucht es nicht nur das Eingeständnis geostrategischer Realität, sondern auch den Mut zur kritischen Selbstprüfung. Wer vorher Frieden predigte und heute Kriegsrhetorik betreibt, sollte erklären, was sich geändert hat – und ob diese Veränderung von Erkenntnis oder Opportunismus getragen ist.
Denn Friedenstüchtigkeit heißt auch: Erinnerungstüchtigkeit. Wer glaubwürdig für Frieden einstehen will, muss zuerst mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Wandel ehrlich umgehen.
Voraussetzungen für Friedenstüchtigkeit
Frieden ist nicht nur eine politische Entscheidung oder ein geopolitisches Arrangement. Frieden ist auch ein innerer Zustand – individuell wie kollektiv. Was also macht einen Menschen, eine Gesellschaft fähig zum Frieden?
Aus tiefenpsychologischer Perspektive liegt die Wurzel der Friedensfähigkeit in der Ich-Stärke des Individuums. Nur wer ein stabiles Selbstgefühl entwickelt hat, ist in der Lage, andere Positionen auszuhalten, ohne sich bedroht zu fühlen. Er braucht keinen Nationalismus, Chauvinismus oder Revanchismus. Nur wer mit der eigenen Aggression umgehen kann, ohne sie einerseits verdrängen oder andererseits ausagieren zu müssen, kann Gewaltverzicht und Friedensgespräch als bewusste Haltung und Handlung leben.
Erich Fromm, Psychoanalytiker und Humanist, unterschied zwischen der „nekrophilen Orientierung”, die Macht um jeden Preis, Kontrolle; Beherrschung, Gewalt und letzten Endes Tod anstrebt, und der „biophilen Orientierung”, die auf Leben, Wachstum und Verbundenheit zielt.
Die Friedensfähigkeit eines Menschen hängt laut Fromm davon ab, ob er die Angst vor der Freiheit überwunden hat. Denn Friedensfähigkeit verlangt: Selbstverantwortung, Ambivalenztoleranz, Selbstreflexion – all das, was autoritäres Denken meidet. Freiheit im Denken ist der Anfang jeder Friedenstüchtigkeit.
Alfred Adler, zunächst Schüler von Sigmund Freud und Begründer der Individualpsychologie, betonte die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls: Wer sich als Teil eines größeren sozialen Ganzen begreift, wer Mitgefühl und Kooperationsbereitschaft entwickelt hat, wird Konflikte anders verarbeiten können. Entweder in offener Auseinandersetzung ohne Gewalt oder als Entwicklungschancen für sich selbst.
Ein weiteres zentrales Element der Friedenstüchtigkeit ist die Fähigkeit zur „inneren Dialogfähigkeit” (nach Thomas Fuchs): Nur wer mit sich selbst im offenen, mutigen Gespräch ist, kann den Dialog mit anderen führen. Häufiger werden nur Monologe geführt. Gerade sogenannte Spitzenpolitiker sind Experten im Monologisieren und Versager im Führen von Dialogen.
Selbstreflektion ist die Voraussetzung für dialogische Begegnung und Tiefe. Wer hingegen von Schuldabwehr, projektiver Identifikation und Schwarz-Weiß-Denken dominiert wird, wird sich schwer tun, zwischen Konflikt und Feindschaft zu unterscheiden.
Friedenstüchtigkeit bedeutet demnach:
- die eigene Aggression und Gewaltbereitschaft kennen, aber nicht ausagieren;
- das Fremde nicht idealisieren, aber auch nicht dämonisieren;
- dem Anderen ein Gegenüber sein, nicht ein Feindbild.
Wo diese inneren Bedingungen fehlen, kann auch die beste Friedenspolitik nur brüchig bleiben. Deshalb beginnt die Arbeit an der Friedensfähigkeit nicht im Parlament, sondern in der Seele. Sie ist nicht bloß politische Tugend – sie ist ein Reifungsprozess.
Konsequenzen für Bürger, Politik und Medien
Friedenstüchtigkeit ist keine abstrakte Zukunftsvision und kein idealistischer Luxus, den man sich nur in Zeiten des relativen Friedens leisten kann. Sie ist heute notwendiger denn je. Denn die westlichen Demokratien, besonders Deutschland, stehen an einem Wendepunkt: bei Aufrüstung und Kriegsvorbereitung mitmachen oder den Weg der politischen Klugheit, der Diplomatie und Kriegsverhinderung gehen. Wohlwissend, dass es dazu keine Alternative gibt.
Was also folgt konkret aus alldem?
- Wir müssen uns radikal rückbesinnen auf die Grundwerte einer aufgeklärten Demokratie – Freiheit, Differenzfähigkeit, Debattenkultur. Frieden beginnt im Kopf und in der Sprache. Das bedeutet: Wehrhafte Friedensfähigkeit muss auch wehrhaft gegenüber Propaganda, Lügen, Feindbildnarrativen und autoritären Versuchungen sein.
- Wir brauchen eine neue politische Sprache – eine Sprache der Deeskalation, des Verstehens, des respektvollen Dissenses. Eine Sprache, die nicht wie ein moralischer Hammer wirkt, sondern als Einladung zum Dialog. Journalismus, Pädagogik, Psychologie und politische Bildung müssen Friedensarbeit leisten – nicht bloß informieren, sondern bewusst entpolarisieren. Und Friedensarbeit ist keine Domäne der Linken. Im Gegenteil. Diese haben Friedenstüchtigkeit einmal mehr nachhaltig verraten. Friedensarbeit ist Domäne der Freiheitlichen.
- Es braucht eine psychologische Bewusstseins- und Reifungsarbeit, individuell wie kollektiv. Wer Frieden will, muss bereit sein, sich innerlich zu verändern. Das betrifft die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz, Selbstreflexion, Widerstandsfähigkeit gegen Propaganda
- Friedenstüchtigkeit heißt, Alternativen zu Bellizismus und Militarismus zu denken. Diplomatie muss nicht Schwäche bedeuten, sondern Reife. Deeskalation ist nicht Kapitulation, sondern kluge Gestaltung. Eine Gesellschaft, die nur zwischen Angriff und Abwehr unterscheidet, verliert ihre Fähigkeit zur Vermittlung.
- Wir brauchen neue Rollenvorbilder – insbesondere für Männer. Der friedensfähige Mann ist nicht schwach, sondern stark. Nicht willfährig, sondern verantwortungsvoll. Nicht blind folgsam, sondern urteilsfähig, kritisch und selbstbewusst. Er weiß, dass die Mächtigen sein Leben wollen. Sie selbst werden ihres niemals für ihre Ziele opfern. In einer kriegstüchtigen Welt braucht es starke, friedensfähige Persönlichkeiten, um die Hybris und Verlogenheit der Kriegstreiber auf allen Seiten abzuwehren.
Fazit: Friedenstüchtigkeit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Kein Idealismus, sondern eine Reifeform politischer Mündigkeit. Sie beginnt mit Klarheit – und mündet in Kompetenz zu Konfliktlösungen. Im privaten wie im öffentlichen Leben.
Der erste Schritt? Den Mut zu haben, Nein zu sagen.
Nein zu allem, was jetzt an Kriegsrhetorik und Aufrüstung geschieht. Und Ja – zu einer anderen, lebensfähigeren Kultur des Miteinanders. Am besten nicht alleine, sondern im Chor mit anderen Humanisten und Freiheitsliebenden.




