Es gibt Fragestellungen, da glaubt man von vornherein zu wissen, dass sie an sich interessanter sind als jede mögliche Antwort. Meine ist die folgende: Ich habe mich peu à peu davon überzeugt – dank oder aufgrund von Aussagen der Herren Otte, Krall, Homs, Hopf und Freunden –, dass die Deindustrialisierung und der logisch folgende wirtschaftliche und finanzielle Zusammenbruch Deutschlands unvermeidlich und nicht mehr aufzuhalten sind.
Unter dieser Annahme ist vieles, was man denkt und schreibt, obsolet: Alles läuft nach dem Denkschema, dass, wenn sich dies oder jenes ändern würde oder diese oder jene politischen Kräfte ans Ruder kämen, die Talfahrt gestoppt werden könnte und das Staatsschiff einem neuen Sonnenaufgang entgegenliefe.
Das passiert aber nicht – und selbst wenn es passierte, würde eine Reform sofort verpuffen.
Damit stellt sich die Frage: Was kommt nach dem Absturz, nach der Katastrophe, die eher unmerklich als mit großem Knall eintritt? Ein historisches Beispiel für einen derartigen Prozess scheint mir das Spanien der Neuzeit zu sein.
Spanien war unbestritten im 16. Jahrhundert die dominierende Weltmacht, zumindest in unserem westlichen Beobachtungsbereich. Die Reconquista, die Kolonisierung Amerikas und von Teilen Afrikas und Ostasiens zeigten dies deutlich. Die wirtschaftlich wichtigsten Teile Europas, wie der ehemalige burgundische Herrschaftsbereich und Teile Italiens, standen unter spanischer Herrschaft. Das Königreich war der defensor fidei, der ultimative Verteidiger des katholischen Glaubens – ein Grund seines Niedergangs. Denn Herr Luther trat schon im Moment des Aufstiegs Kaiser Karls V. zu Worms gegenüber und zeigte sich renitent: „Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!“ soll er gesagt haben. Und zumindest teilweise hat Gott – oder seine irdischen Handlanger – ihm geholfen.
Immerhin: Das spanische Kolonialreich erstreckte sich um 1600 über weite Teile Süd- und Mittelamerikas, den Süden der heutigen Vereinigten Staaten und die Philippinen. Als Engländer und Franzosen ebenfalls ihre Kolonialbemühungen verstärkten, verlor Spanien allmählich seine Vormachtstellung. Militärische Niederlagen, wie der Untergang der Armada und der Verlust der Niederlande, die Befreiungskriege der amerikanischen Staaten, insbesondere der mexikanische und die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege Anfang des 19. Jahrhunderts, brachten den meisten Kolonien die Unabhängigkeit. 1898 gingen im Spanisch-Amerikanischen Krieg die letzten größeren Besitzungen an die Vereinigten Staaten verloren – das bedeutete das Ende des Kolonialreiches.
Doch solange das gut ging, also bis Ende des 18. Jahrhunderts, funktionierte eines: die Finanzierung des teuren Staates und seiner übergroßen Armee durch amerikanisches Silber und Gold. Ursprünglich musste der gesamte Handel mit den Kolonien ausschließlich über Sevilla abgewickelt werden. Die Stadt war höchst sehenswert – eine Art „Wall Street“ des Goldenen Zeitalters. Am Torre de Oro, dem Goldturm, entluden die Schiffe das Metall, das unverzüglich umgemünzt wurde. Gelddrucken ging damals noch durch Münzgießen – mit ebenso desaströsen Folgen.
Denn: Warum produzieren, wenn man einfach kaufen kann? In der klassischen spanischen Mentalität war Arbeit ohnehin nicht hoch angesehen. Ein wahrer Hidalgo machte sich die Finger ebensowenig schmutzig wie hierzulande manche Experten und Beamte – und Hidalgos gab es gefühlt ohne Ende.
Neue Produkte wie Kartoffeln, Tomaten und Mais hatten langfristige Auswirkungen auf die spanische Wirtschaft, aber noch wichtiger auf die europäische Demografie (Tortilla, papas bravas und ähnliche Leckereien lassen grüßen). Gold- und Silberbarren aus den amerikanischen Minen wurden eingesetzt, um Armeen in den Niederlanden und Italien zu bezahlen, Flotten gegen die Osmanen auszurüsten, die Truppen des Kaisers zu unterhalten und Transporte zu finanzieren – sowie, um die steigende Nachfrage im Inland zu befriedigen.
Allerdings führte die enorme Menge an Edelmetallen zu einer Inflation, die vor allem die ärmeren Schichten traf, da die Warenpreise stiegen. Gleichzeitig wurde der Export behindert, da teure Güter auf internationalen Märkten nicht konkurrenzfähig waren. Zudem lähmte der Zustrom von Silber die industrielle Entwicklung: Unternehmertum schien nicht notwendig.
Mir deucht, wir blicken in einen fernen Spiegel. Die deutschen „Hidalgos“ streben vorzugsweise eine Beamten- oder NGO-Laufbahn mit Pensionszusage an. Placken mag sich auch hier kaum jemand mehr, schuften sollen die Anderen.
Die inländische Produktion wurde stark besteuert, besonders in Kastilien, wo die Steuerlast am höchsten war. Heutzutage kränkelt ob der hohen Extrakosten und der überbordenden Bürokratie auch ein „Exportweltmeister“ – und woran liegt’s? Zu hohe Staatsquote!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Spanien ein rückständiges Agrarland, geprägt von feudalen Strukturen. Industrie gab es im Wesentlichen nur in Katalonien und im Baskenland. Die Analphabetenquote war dramatisch hoch, die Armut in Landesteilen wie Andalusien unhaltbar.
Die Konkurrenz schlief nicht: England und die Niederlande bauten mit spanischem Gold ihre Industrie auf. Die Dukaten schwanden, die Fabriken blieben. Dann kam die napoleonische Besetzung, gefolgt von den Unabhängigkeitserklärungen der amerikanischen Staaten – nichts ging mehr vorwärts.
Die Kommunalverwaltung wurde unterdrückt, kreative Schichten vertrieben (1609 wurden auf Betreiben eines Herzogs rund 275.000 Morisken ausgewiesen – mitsamt ihrem landwirtschaftlichen Wissen). Philipp II. unterdrückte politische Freiheiten, die permanenten Kriege verschlangen Kolonialeinnahmen und führten zu drei Staatsbankrotten. Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts war Spanien keine Großmacht mehr.
Fassen wir zusammen: Spanien war ein Staat, der sich – ähnlich wie heutige Ölstaaten – aus Bodenschätzen finanzierte, aber kaum in die Binnenwirtschaft investierte. Ein Weltreich ging verloren, nicht zuletzt durch militärische Überdehnung und eine Serie von Staatskonkursen.
Vergleicht man Spanien mit der Bundesrepublik Deutschland, so könnte das Äquivalent des amerikanischen Goldes das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts akkumulierte Wissen und seine technische Anwendung sein. Und natürlich in den Jugendjahren der Republik die Ruhrkohle und später die billige russische Energie. Doch diese Ressource scheint erschöpft oder wurde durch eine deplorable Politik zum Versiegen gebracht. Gesellschaften wie die chinesische und die japanische eilen Deutschland und Europa davon: Die Wissensdynamik ist tot, die Ressource Bildung und Ausbildung erschöpft.
Und warum das alles? Das Wachstum des Sozialstaates wurde nicht begrenzt, man glaubte sich im Besitz unendlicher Ressourcen und merkte nicht, dass schon mit der immer weiter gehenden Ausdehnung der EU eine Überdehnung eingesetzt hatte. Fühlte sich Spanien für den europäischen Katholizismus verantwortlich, so Deutschland für die Finanzierung seiner europäischen Nachbarn. Im Moment scheint das zu kulminieren: Soll man jetzt auch noch die Pleite-Franzosen raushauen, bzw. kann man das überhaupt?
Verschuldung und Überdehnung waren immer schon die Gründe für den Niedergang einer Macht: Beides wird nun auch für Deutschland dramatisch, und der Kapitalabfluss durch eine irrsinnige Politik gegenüber der Rohstoffgroßmacht Russland und dem neuen Industriezentrum China tut ein Übriges. Sogar der Papst in Washington zeigt sich nicht mehr dankbar und verlagert seine Gunst gen Polen oder sonstwohin.
Und was passiert kulturell? Spanien, einst das geistige Zentrum der barocken Welt mit großartigen Malern, Dichtern und Theaterleuten, versank in Provinzialität. Neben den Genies Frankreichs konnte man nicht bestehen, musikalisch brachte das Land keine ganz großen Werke hervor.
Als Beispiel sei der wohl wichtigste psychologische Roman des späten 19. Jahrhunderts genannt: La Regenta (1884/85) von Clarín, beeinflusst von Flauberts Madame Bovary. Er schildert den übermächtigen Einfluss der Kirche auf das kleinstädtische Leben und das Schicksal einer schönen, reichen Frau, die schließlich von der Gesellschaft verstoßen wird. Clarín, ein Vertreter der „Generación del 98“, interessierte nicht nur der erotische Konflikt, sondern vor allem die geistige Enge, Gleichgültigkeit und Mittelmäßigkeit der spanischen Provinz.
Also: Es dürfte langweilig werden in Deutschland. Ein paar Kartoffeln wird es noch geben, aber die munteren Zeiten sind vorbei. Sind sie nicht jetzt schon vorbei? Abseits flacher Satire und feministischer Bekenntnisliteratur der neuen „Heidis“ ist da doch nicht viel. Bei allem medialen Getöse – das Elend der Öffentlich-Rechtlichen im Vergleich zu Netflix & Co. muss man nicht einmal erwähnen.
Aber die zentrale Krux war diese: Spanien hatte eine wertegeleitete Außenpolitik. Das klingt zunächst absurd, ist aber eigentlich umso treffender. Spaniens Staatsraison seit der Reconquista bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Verteidigung der katholischen Religion und die Propagierung der Gegenreformation. Die Feinde waren die moros, die Türken und die Protestanten – und zwar nicht aus nüchternen Gründen der Staatsraison, wie zum Beispiel in Frankreich im Fall der Hugenotten, sondern im blutigen Ernst: Die Ketzer mussten durch auto-da-fé zum wahren Glauben zurückgeführt werden, und dafür waren alle Mittel recht.
Teilweise waren die Spanier erfolgreich: Die Reconquista hat zwar gedauert, aber am Ende funktioniert; Lepanto war ein wichtiger Sieg, und von den Generalstaaten blieb immerhin der belgische, katholische Teil habsburgisch. Doch insgesamt ging es bergab.
In England war die Religion eher den ehelichen Bedürfnissen Heinrichs VIII. untergeordnet. In Frankreich, der ältesten Tochter der Kirche, durfte der Papst zwar bei der Krönung Napoleons erscheinen, aber der setzte sich die Krone bekanntlich selbst aufs Haupt. Auch die Engländer und Franzosen hatten Kolonialreiche – dort wurde „Zivilisation“ verbreitet, jeder trug seinen Teil bei unter dem „Burden of the White Man“, untermalt von Gin und Gurkensandwiches oder Petits Fours und Champagner. Und profitabel war es für beide. Draufzahlen mit ihren Kolonien, das war – wie man hört – die Sache der Deutschen, aber geschenkt.
Im Hintergrund des spanischen Abstiegs steht also auch ein überbordender Idealismus: Man sah sich als Repräsentant des wahren Glaubens. Vielleicht hatten die Iberer diese Haltung sogar von den Mauren übernommen – Feindschaft färbt ab. Jedenfalls ging man über Leichen und traf Entscheidungen, die wirtschaftlich alles andere als förderlich waren, wie die Vertreibung der Juden und Moriscos, immerhin produktiver Bevölkerungsschichten. Unsere Unternehmer und Unternehmen wandern aus – und wenn’s auch nur zu den benachbarten Eidgenossen ist.
Und wie gesagt: Das „bedingungslose Grundeinkommen“ durch das amerikanische Gold tat sein Übriges. Mussten sich die Konquistadoren noch durch allerlei Widrigkeiten quälen, so lebte eine breite Schicht im Mutterland bald fröhlich und frei von Arbeit – was auf lange Sicht nach hinten losging. Die Einsicht, dass Wohltaten erst verdient werden müssen, scheint sich auch hierzulande noch nicht allgemein durchgesetzt zu haben.
Wertegeleitete Außenpolitik hat eben teilweise mit Staatsraison nichts zu tun – und kostet. Feministisch angehaucht war sie damals wie heute: In Spanien fand sich allüberall unsere Jungfrau Maria. Sie wurde mit vielen Feiertagen bedacht, was neben der Siesta auch das Bruttosozialprodukt schmälerte. Aber das wäre ein weites Feld.
Die Projekte, die zur Staatsraison wurden – wie die Unterstützung der Ukraine oder die Ausdehnung der EU, begleitet von Russophobie – werden mit einer Inbrunst weitergeführt, die den eigenen wirtschaftlichen Untergang billigend in Kauf nimmt. Eine Inquisition gibt’s auch: den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Mainstreammedien, die für die allfälligen Ketzer ihre Tribunale veranstalten. Wer als Ungläubiger identifiziert wird, ist ein Nazi – und das ist schlimmer als ein Ungläubiger. Verbrannt wird er nicht mehr, eher kaltgestellt.
Lang wird das nicht mehr gutgehen.




