Künstler: Enya
Song: Boadicea – veröffentlicht auf ihrem Debütalbum „Enya”, 1987 BBC Records
Musik ist immer Inspiration. Sie ist eine schier unendliche Kette von Spiegelungen. Kein Klang entsteht im luftleeren Raum, kein Lied steht ganz für sich selbst … Jede Melodie, die Sie hören, trägt die Spuren ihrer Herkunft in sich – auch, wenn Sie sie nicht immer sofort erkennen.
Ein Beispiel dafür liefert eine mich beeindruckende Geschichte, die mit dem französischen Komponisten Erik Satie beginnt: Ende des 19. Jahrhunderts erschuf er mit seinen leisen, schwebenden Klaviermelodien eine Klangwelt voller Geheimnis und Intimität – eine frühe, beinahe mystische Ästhetik …
Ein Jahrhundert nach seinem Schaffen griff die irische Künstlerin Enya dieses Erbe auf und verwandelte es mit ihrer Debütsingle „Boadicea“ – später auch generell – in ihre eigene, unverwechselbare musikalische Sprache.
Und was als diese stille, meditative Komposition Enyas begann, entwickelte sich wiederum zu einem globalen Phänomen: „Boadicea“ wurde inzwischen in rund 70 Songs gesampelt – und prägt seit den 1980er-Jahren Pop, Hip-Hop und R&B nachhaltig.
So beeindruckend diese Zahl auch klingt, wird Enyas Stück doch weit übertroffen von „Amen, Brother“ der US-Band The Winstons – das in sage und schreibe rund 6.000 Songs Verwendung fand; und als meistgesampeltes Lied der Musikgeschichte gilt!
Was „Boadicea“ jedoch besonders macht, ist die erstaunliche Vielfalt, mit der das Stück in den unterschiedlichsten Stilen eingesetzt wurde. Das Sample taucht in den unterschiedlichsten Kontexten auf: als Oldschool-Rap-Klassiker bei den Fugees, als eingängige R&B-Version bei Mario Winans, als düsterer Trap-Track bei Troyboi, als Pop-Hit bei The Weeknd, als Latin-Rhythm-Nummer bei Natti Natasha und sogar auf Deutsch, bei Rappern wie Nate57 – und das ist längst nicht alles.
Das Original, benannt nach der keltischen Königin Boudica, erschien 1987 als erste Single des Debütalbums der damaligen Newcomerin Enya. In dieser Zeit, in der Popmusik von dichten Synthesizerwänden, Drumcomputern und absichtlich überladenen Produktionen geprägt war, wirkte das Stück wie ein bewusster Gegenentwurf: Mehrfach übereinandergelegte Stimmen schweben atmosphärisch über schimmernden Harmonien und erzeugen eine einzigartige Klangwelt. „Boadicea“ kommt dabei vollständig ohne Songtext, Schlagzeug oder jegliche rhythmische Erdung aus – eine schlichte, meditative, fast „schwebende“ Komposition.
Bei seiner Veröffentlichung blieb die Nummer zunächst weitgehend unbeachtet. Kenner, die Enyas Schlichtheit und ihre aus der Zeit gefallene Ästhetik zu schätzen wussten, fanden darin zwar einen besonderen Reiz – doch für die Charts oder den Mainstream spielte der Song nahezu keine Rolle.
Dennoch sollte Enya später zu einer der erfolgreichsten Musikerinnen Irlands werden: Mit Hits wie „Orinoco Flow“, „Only Time“ oder „May It Be“, dem Song für den Film „Der Herr der Ringe: Die Gefährten“, erreichte sie weltweite Bekanntheit. Ihr minimalistischer, mystischer Stil konnte also trotz der anfänglichen Skepsis am Ende die breite Masse nachhaltig faszinieren.
Fast ein Jahrzehnt nach dem Release änderte sich auch das Bild ihrer Debütsingle erstmals grundlegend: Nach ersten, eher unbekannten – und nicht zuletzt auch nicht offiziell genehmigten – Samples im Rap-Genre, entdeckte 1996 die Hip-Hop-Gruppe The Fugees „Boadicea“ und machte es zum Herzstück von „Ready or Not“ – einem ihrer größten Erfolge. Lauryn Hill, Wyclef Jean und Pras Michél legten ihre Flows über Enyas Klangfläche, und was einst wie mystische Meditation klang, wurde nun zur düsteren Hip-Hop-Energie.
Das Interessante: Enya war von dieser Idee zunächst eigentlich alles andere als begeistert. Tatsächlich gab sie erst nach mehreren langen Verhandlungen – beinahe widerwillig – ihr Einverständnis!
Rückblickend erwies sich diese Entscheidung aber als goldrichtig: Die Bedeutung dieses ersten prominenten Samples lässt sich kaum überschätzen. Das „Ready or Not“-Instrumental entwickelte sich über Jahre hinweg zu einer Art „Pflichtbeat“, auf dem sich gefühlt jeder aufstrebende Rapper einmal beweisen wollte. Viele bekannte Musiker griffen auch Zitate und Anspielungen aus „Ready Or Not“ auf – und so wurde der Track, samt Enyas Sample, zu einem international anerkannten Fundament der Hip-Hop-Kultur.
Im Jahr 2004 griff dann der R&B-Sänger Mario Winans erneut auf das Sample zurück und veröffentlichte, mit Unterstützung des Rappers P. Diddy, seinem damaligen Labelboss, das Lied „I Don’t Wanna Know“. Winans interpretierte den Klang von „Boadicea“ in einem völlig neuen Licht: wehmütig, verletzlich, intim. Der Song behandelt die Angst vor Untreue, die der Protagonist ahnt, aber lieber nicht bestätigt sehen möchte. Enyas schwebende Harmonien verliehen dem Stück diese markante, unmittelbar spürbare Melancholie, die den Track unverwechselbar machte. Das Ergebnis war ein internationaler Mega-Hit, der in zahlreichen Ländern Spitzenplätze der Charts erreichte.
Gleichzeitig löste er eine neue Welle an Ablegern aus, ähnlich wie schon bei den Fugees. So veröffentlichte das Pop-Duo Nina Sky beispielsweise eine Art direkte Antwort, die die andere Perspektive der Geschichte erzählte. Und auch darüber hinaus entstanden wieder zahlreiche weitere Songs, die das Sample aufgriffen – auch wenn sie allesamt kommerziell nicht denselben Erfolg erzielten. Stattdessen prägte das Sample erneut die Kultur – nun in einem neuen Kontext und für eine neue Generation.
Fast zwei Jahrzehnte später erklang Enyas Original erneut als Welthit, als US-Sänger The Weeknd die Tradition fortführte. Zusammen mit Rapper 21 Savage veröffentlichte er 2022 „Creepin’“, eine Neuinterpretation von Winans’ Track. Wieder bildete Enyas Stück das Fundament, diesmal jedoch in moderner Produktion, geprägt von The Weeknds typischer Mischung aus düsterer Sensibilität und melancholischer Eleganz. „Creepin“ brachte Enyas Melodie wieder einer neuen Generation nahe – einer Generation, die weder sie selbst noch die Fugees oder Mario Winans bewusst erlebt hatte – und löste spannenderweise erneut eine Welle zahlreicher Ableger aus!
So entstand unter anderem „No Quiero Saber“, ein Latin-Pop-Song von Natti Natasha, einer der bekanntesten Sängerinnen der Dominikanischen Republik. Ihre Interpretation hat mich regelrecht umgehauen – weniger, weil sie meinem persönlichen Geschmack entspricht, sondern weil das neue Arrangement das Sample tatsächlich erneut in ein völlig anderes Licht rückt: Es transformiert „Boadicea“ in ein lebendiges, tanzbares Klangbild!
Wir sehen: Enyas Debütsingle zieht wie ein Schatten durch die Musikgeschichte … Selbst noch von einem Künstler aus dem 19. Jahrhundert inspiriert, wandelte sie sich von der stillen Meditation einer irischen Musikerin über die goldene Ära des Hip-Hop und des R&B bis hin zu den globalisierten Poplandschaften von heute. Jede Generation entdeckt darin etwas Eigenes – Bedrohung, Trauer, Schönheit, Melancholie – und nutzt das Stück als Leinwand, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. „Boadicea“ ist wie ein musikalischer Geist, der sich mit jeder neuen Verwendung verwandelt und zugleich bewahrt!
Die Geschichte von „Boadicea“ zeigt auch eine grundsätzliche Erkenntnis: Innovation ist selten völlig neu. Meist entsteht sie als Umdeutung, Fortführung oder Variation eines Bestehenden. Dass ein globaler Clubhit von 2022 auf einer mystischen Komposition von 1987 basiert, macht diese Kontinuität lediglich besonders sichtbar – und verdeutlicht, wie kreativ und nachhaltig kulturelle Einflüsse über Generationen wirken können …
Hören Sie den Sound, der die Musikgeschichte geprägt hat – hier „Boadicea“ von Enya auf Youtube.