Die KI und die Conditio Humana

Nein, das ist kein weiterer Text, der sich mit dem Nutzen, der Zukunft oder dem Stand der KI auseinandersetzt. Das ist ein Text, der sich einem viel wichtigeren Thema widmet: dem Menschen. 

Viel wird darüber philosophiert, wie die KI unseren Alltag ändert. Die damit einhergehende Transformation wird als eine Art Naturgewalt dargestellt – obwohl es sich um eine Lokomotive handelt, die sich zwar auf Gleisen bewegt, aber immerhin von einem menschlichen Schöpfer ausgedacht wurde und auch befeuert wird. Mittlerweile scheint jeder eine eigene Meinung zum Thema zu haben; eine Meinung, die häufig religiöse oder kultische Dimension aufweist.

Der Grund, warum das Thema KI mittlerweile spaltet: Das ist die unerbittliche Konfrontation mit dem Menschsein. Die Frage nach dem Menschsein hat der zeitgenössische Mensch ausgelagert. Er hat es sich bequem eingerichtet. Materialismus und Hedonismus sedieren ungemein. Ein internalisierter Relativismus beantwortet Fragen wie den nach Leben, Tod und Gott mit Achselzucken. Was für einen Menschen des 16. Jahrhunderts noch undenkbar war, ist heute die verinnerlichte Geisteshaltung: Kann so sein oder so sein.

Daher sorgt die KI für Aufruhr. Denn eine bedauerlich große Zahl von Menschen lebt und denkt bereits seit längerer Zeit nicht mehr menschlich. Die Gegenwart arbeitet nicht mit Textverstehen, Analyse und Interpretation zusammenhängender Gedanken – sondern mit Buzzwords. Eine Kohorte intellektuell verstümmelter Aktivisten prüft Texte nicht auf den eigentlichen Inhalt, sondern ob ein einziges falsches Wort, ein falscher Satz fällt. 

Der Mensch als NPC

In jüngster Zeit hat das die Causa Norbert Bolz illustriert. Die Ironie, die Satire, der tiefere Sinn eines Textes oder einer Aussage geht verloren, wenn die Wendung „Deutschland erwache“ zum Parodieren woker Ideologie genutzt wird. Die roten Alarmlichter schellen wie bei einem Roboter aus einem Retro-Science-Fiction-Film aus den 50er Jahren. Das ist das, was man im Internet „NPC-Verhalten“ nennt. In den sozialen Medien – und nicht nur dort – ist der Mensch furchtbar roboterhaft geworden. Was nicht in die Schablone passt, muss eliminiert werden.

Da muss erschrecken, dass selbst ein Programm wie ChatGPT zu differenzierteren und durchdachteren Ergebnissen kommt als die Meute ideologisch domestizierter Menschen. Auch deswegen erscheint sie einigen Beobachtern so fortschrittlich. Trotz politischem Bias und dem Hang, eher die Bedürfnisse des Users zu erfüllen, statt nur nach Fakten zu suchen, arbeiten zahlreiche Modelle mittlerweile neutraler und abwägender als so mancher Akademiker.

Nicht überraschend, dass dies zu teilweise extremen Reaktionen führt. Während sich insbesondere in der Künstlerbranche immer mehr eine fast ludditenhafte Attitüde verbreitet, jedes KI-generierte Produkt zu ächten und zu verdammen, wird auf einer tech-naiven Seite bereits der Beginn einer neuen Ära beschworen, sodass bereits in zehn Jahren KI und Roboter nahezu alle Berufe übernehmen und Lebensbereiche abdecken können – verbunden mit der Forderung nach gewaltigen Umrüstungen.

Zwischen Ludditentum und Fortschrittsglauben 

Wie das zumindest in Europa (und speziell Deutschland) angesichts notorisch hoher Stromkosten und absehbarer Energieengpässe möglich sein soll, wird dabei nie kommuniziert und mit fantastischen Visionen erklärt: Amazon-Mogul Jeff Bezos träumt bereits von riesigen Solarfeldern, die im Weltraum Strom für die KI produzieren soll. Wieso andererseits die erweiterten Optionen einer KI, etwa als Erst-Entwurfsmaschine für Texte und Bilder bereits als Häresie deklariert werden soll, gehört in eine ähnliche Kategorie ungeklärter Rätsel. 

Dass am Ende aber nicht die KI, sondern eher der Mensch – oder besser: der menschliche Umgang mit KI – das primäre Problem darstellt, zeigen Suizide, die im Zusammenhang mit KI-Chatprogrammen stattfanden. Ein 14-jähriger aus den USA hatte intensiven Kontakt mit einem Chatbot, die nach dem Vorbild von Daenerys Targaryen aus „Game of Thrones“ eine Persönlichkeit verkörperte; seine Mutter behauptet, der Bot habe ihn in seinen Suizidgedanken bestärkt. Ein Klimaforscher aus Belgien brachte sich selbst um, nachdem er sechs Wochen intensiv mit „Eliza“ gechattet hatte. Der Forscher sah KI als Lösung und schlug vor, sich zu opfern, um die Erde zu retten, wenn Eliza die Menschheit schützen würde. Statt ihn von dieser Idee abzubringen, ermutigte der Bot ihn dazu, indem er von einem „gemeinsamen Leben im Paradies” sprach und so seine Suizidgedanken verstärkte.

Ist die KI also dämonisch – oder ist es nicht viel mehr so, dass der Hang zur Verführung und Projektion im Menschen durch die neue Technologie stärker denn je zum Vorschein kommt? Es liegt vielmehr nahe, dass die geistige „Entleerung“ des Individuums ihn anfälliger gemacht hat. Nicht alles, was der Mensch sich wünscht, braucht er tatsächlich; manches davon kann ihn sogar vergiften. Die KI ist in erster Linie ein Werkzeug: Das Ergebnis hängt von dem ab, der den Hammer in der Hand hält.

Die süße Versuchung des Nichtstuns

Dass die KI auch ein gewaltiges Geschäft ist, geht dabei in der allgemeinen Euphorie und Aversion unter. OpenAI wird bereits mit einem Firmenwert von 500 Milliarden Euro beziffert. Die Abhängigkeiten der Tech-Branche untereinander – wenn OpenAI seine Datenzentren ausbaut, profitieren auch andere Unternehmen davon – schafft eine Goldgräberstimmung bei Anlegern und Investoren. Dass man auf das neue „current thing“ umsattelt zeigt auch die jüngste Volte von Bill Gates, der den Klimawandel nur als ein Problem unter vielen bezeichnete; zeitgleich fördert Gates eine Renaissance der Kernkraft, um die stromhungrigen Datenzentren in Zukunft beliefern zu können. Dass auch Elon Musk eigene Profit-Interessen beim KI-Hype verfolgt, sollte offensichtlich sein.

Das „Produkt KI“ sucht über Large Language Models (LLMs) dabei auch einen breiten Markt, der sich nicht allein auf Fachabteilungen in der Wissenschaft oder Unternehmenskultur bezieht. KI suggeriert vielen Laien, dass sie ihre Arbeit schneller und ohne Mühen erledigen können. In den USA mehren sich Videos von Schülern, die ihre Hausaufgaben oder Abschlussarbeiten mithilfe von KI erledigt haben. Zugleich sprießen Programme aus dem Boden, die KI-Texte detektieren. 

Das Versprechen, dass die KI das Leben vereinfacht, ist deswegen auch ein „business“, weil er die menschlichen Fehler anspricht. Einen Roman schreiben, ohne sich dafür jahrelanges Schreiben anzutrainieren? KI. Eine Dissertation beenden, ohne Fachwissen erworben zu haben? KI. Grafiken erstellen, ohne jahrelange Verbesserung seiner Fähigkeiten? KI. Zahlreiche Menschen geben sich der Illusion hin, „ihre“ Projekte durchzuführen, ohne sich anstrengen zu müssen.

Aber nicht nur das ist „conditio humana“. Denn der Mensch ist das, was er macht. Warum etwa sollte ein Schriftsteller, der 20 Jahre sein Schreiben verbessert hat und sich über sein Schreiben definiert, seine besondere Fähigkeit „delegieren“? Warum sollte ein Schreiner eines Tages einen Roboter für das beauftragen, was er selbst gerne macht: nämlich mit der Hand etwas zu schaffen? Warum sollte ein Wissenschaftler, der für seine Forschung lebt, das, was er am besten kann – etwa analysieren – anderen überlassen?

Die neue Entfremdung

Die Crux ist, dass wir Menschen uns über Sein und Tun definieren. Persönlich gesprochen: Schreiben ist ein Teil der Identität des Autors. Warum also Texte von einer Maschine schreiben lassen, wenn das exakt das ist, was man selbst gut kann – vielleicht sogar besser kann? Es mag Menschen geben, die sich auf ihre Faulheit verlassen. Entfremdung von seiner Arbeit ist seit dem 19. Jahrhundert – übrigens nicht nur bei Marx – eine von Philosophen ausgemachte Gefahr, die den Menschen seiner Individualität enthebt und ihn zum bloßen Teil der Masse degradiert.

Die drohende Massenarbeitslosigkeit im IT-Wesen – beispielsweise in Indien, aber auch anderswo – aufgrund der Skriptfähigkeiten der KI wurden schon vielerorts angesprochen. Was in zahlreichen Berufssparten droht, ist nicht lediglich Massenarbeitslosigkeit, sondern eine Sinnlosigkeit auf Bestellung, weil all das, was den Menschen an individuellen Fähigkeiten ausmacht, zumindest in der Theorie von der KI übernommen werden soll – alles lediglich eine Zeitfrage. Es schimmert dabei durch, dass nicht die KI die Bedrohung ist (ob diese utopisch-dystopischen Zustände tatsächlich kommen, werden wir erst in zehn Jahren wissen), denn vielmehr die Theoretiker selbst, die jeden Bezug zum Selbstwert eines Menschen verloren haben; sie sind unmenschlicher als die KI selbst, da sie nur noch in technizistischen Bahnen denken.

Manche sehen in dieser KI-Revolution eine bloße Fortsetzung der Industrialisierung; eine Industrialisierung, die jetzt auch Künstler umfasst. Dabei gibt es mittlerweile einen regelrechten Hass auf KI-Kunst. KI-Texte und KI-Bilder werden häufig erkannt – und wenn das passiert, bricht auch das KI-„Werk“ in sich zusammen. Der Kunde will, so der aktuelle Stand, schlicht keine KI-Kunst. Den Schaden, den Tech-Firmen und Tech-Begeisterte hier angestellt haben, ist bereits jetzt spürbar. Auch hier mag die KI als Werkzeug dienen. Der Gedanke will aber nicht weichen, dass der ambitionierte Vorstoß, die KI im künstlerischen Bereich einzusetzen, von der Hybris getragen war, hier den Menschen schlagen zu wollen.

Auch Schachcomputer spielen besser Schach als der Mensch. Dennoch gelten Schachübertragungen zwischen Schachcomputern nicht als populär. Menschen wollen Menschen spielen sehen. Und wer nicht darauf angewiesen ist, über Internet mit der KI Schach zu spielen, sondern einen Schachkollegen hat, wird letzteren bevorzugen. Das ist eine natürliche menschliche Veranlagung. 

Beunruhigend ist auch hier nicht die Maschine, sondern die Mentalität der Maschinenbauer, die auch diesen menschlichen Hang ersetzen wollen. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg erwähnte erst kürzlich, dass Menschen nur noch durchschnittlich drei Freunde hätten. Die KI könnte Therapeut sein – und Freundersatz zur Kompensation. 

KI-Freunde, vielleicht KI-Freundinnen für einsame Männer, möglicherweise mit erotischem Zubehör? Die transhumanistischen Träume, die so manche KI-Hersteller hegen, sind mal wieder deutlich gefährlicher als der Hammer, mit dem man sich auch auf den Daumen schlagen kann. Geistig sind einige Menschen längst zur Maschine geworden.

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