Diesen Text gibt es auch als Episode im Podcast des Sandwirts: Hier.
Es klingt nach Freiheit, nach Selbstbestimmung, nach dem großen Erwachen der Bürger: direkte Demokratie. Das Versprechen, endlich wieder gehört zu werden, den politischen Kurs selbst zu bestimmen, Entscheidungen nicht länger Parteien und Gremien zu überlassen.
Doch was so ehrlich und notwendig klingt, trägt in sich einen gefährlichen Irrtum. Eine bundesweite Volksabstimmung, deren Ergebnis für alle gleichermaßen bindend ist, wäre kein Schritt zur Mündigkeit, sondern ein Schritt zurück in die Zentralisierung, die man vorgibt, überwinden zu wollen.
Denn eine solche Form direkter Demokratie würde jedes Land, jeden Bürger in eine gemeinsame Haftung zwingen, auch jene, die nie zugestimmt haben. Wenn zehn Bundesländer dafür stimmen, müssten die übrigen sechs das Ergebnis trotzdem mittragen, ob sie wollen oder nicht. Stellen Sie sich vor, die westlichen Länder beschließen ein Klimaprogramm, das Milliarden kostet, während die östlichen Länder dagegen stimmen, weil sie es sich schlicht nicht leisten können. Trotzdem müssten sie zahlen, mitmachen, umsetzen. Das ist die Tyrannei der Mehrheit in Reinkultur. Kein demokratischer Konsens, sondern Zwang per Mehrheitsbeschluss. Eine Politik, die sich „direkt“ nennt, aber kollektiv bindet, hebt den Föderalismus auf und ersetzt ihn durch moralische Gleichschaltung.
Macht ohne Kontrolle
Die Sehnsucht nach direkter Demokratie ist echt. Sie entspringt dem Gefühl, dass die Bürger längst nicht mehr gefragt werden, dass Parteien und Medien den öffentlichen Diskurs verwalten wie eine Ressource. Aber eine bundesweite Volksabstimmung ohne föderale Differenzierung löst dieses Problem nicht, sie verschärft es. Sie ersetzt eine zentrale Regierung durch eine zentrale Masse. Die Macht wird nicht geteilt, sie wird nur anders konzentriert, demokratisch legitimiert, aber so wird Macht faktisch unkontrollierbar.
Demokratie endet dort, wo Haftung aufgelöst wird. Wenn alle gemeinsam entscheiden, aber niemand einzeln die Folgen tragen muss, verliert Politik ihre moralische Basis. Föderalismus war nie eine bürokratische Erfindung, sondern eine Freiheitsarchitektur. Er sorgt dafür, dass Macht nicht zu nah an sich selbst gerät. Er zwingt Verantwortung in Grenzen, damit sie spürbar bleibt. Ein Land, das für die Fehler anderer haftet, lernt nichts. Ein Land, das eigene Entscheidungen nicht tragen darf, verlernt alles.
Demoikratie statt Gleichschaltung
Die Alternative liegt auf der Hand. Volksentscheide sollten bundesweit gleichzeitig stattfinden, im selben Moment, mit derselben Fragestellung, demselben Thema. Aber die Konsequenzen müssen auf Länderebene gelten. Wenn ein Land dafür stimmt, setzt es um. Wenn es dagegen stimmt, ist es verpflichtet, es nicht umzusetzen. Kein Land darf gezwungen werden, etwas zu finanzieren, das es abgelehnt hat. Und kein Land darf auf Kosten anderer leben, wenn es falsch entscheidet.
Nehmen wir das Beispiel der CO₂-Steuer weiter. Bayern lehnt ab und führt sie nicht ein. Sachsen stimmt zu und erhebt sie bei sich. Bayern bleibt wettbewerbsfähig, Sachsen finanziert seinen Strukturwandel selbst. Keine Tyrannei der Mehrheit, sondern Freiheit der Minderheit. Kein Groll, keine erzwungene Haftung, nur klare Verantwortung. So entsteht Demoikratie („Demoi“ – Plural von „demos“, griechisch = Volk), nicht durch Gleichschaltung, sondern durch Konsequenz.
Oder nehmen Sie das Gebäudeenergiegesetz, das 2023 beschlossen wurde und 2025 noch immer für Aufruhr sorgt. Stellen Sie sich vor, die CDU/SPD-Bundesregierung ruft zu einer bundesweiten Abstimmung über eine verschärfte Wärmepumpenpflicht ab 2026 auf. Die Mehrheit stimmt zu, getrieben von Klimazielen, während Bayern und Sachsen dagegen votieren, Bayern wegen der explodierenden Kosten, Sachsen wegen fehlender Handwerker und maroder Netze. Doch bei bindender Mehrheitsentscheidung müssten beide Länder trotzdem umsetzen. Ein Einfamilienhaus in Oberbayern zahlt bis zu 80.000 Euro, obwohl 68 Prozent der Bayern dagegen waren. Sachsen kollabiert unter der Last, ohne ausreichende Förderung. Das ist keine Demokratie, das ist Zwang in Echtzeit, die Tyrannei der Mehrheit, live. Wie 1356 in der Hanse, nur umgekehrt: Damals schützten freie Städte ihre Autonomie vor Zentralzwang, heute würde er sie ersticken.
Föderale Haftung statt Zwang
Mit föderaler Haftung wäre das anders. Bayern sagt Nein und bleibt bei Lösungen, die es sich leisten kann. Sachsen sagt Ja und sucht eigene Fördermodelle, vielleicht mit EU-Mitteln. Kein Zwang, kein Groll, nur Verantwortung.
Eine solche Ordnung würde das Land nicht spalten, sondern reifen lassen. Sie würde politische Reife erzwingen, weil jede Entscheidung Konsequenzen hat, die nicht mehr kollektiv verschleiert werden können. Sie würde die Vielfalt der Regionen nicht als Problem begreifen, sondern als Stärke.
Vielfalt ist kein Risiko. Sie ist das Rückgrat der Freiheit. Einheit entsteht nicht aus Gleichheit, sondern aus Respekt vor der Verschiedenheit.
Was politisch gilt, gilt auch wirtschaftlich. Denn Verantwortung verliert ihre Kraft, wenn sie nicht wehtun darf. Der Föderalismus kann nicht funktionieren, wenn er finanziell zentralisiert ist. Der Länderfinanzausgleich ist das perfekte Beispiel für ein System, das Verantwortung abschafft. Er belohnt Ineffizienz, bestraft Leistung und erzeugt jene moralische Trägheit, die man sonst nur in zentralistischen Systemen findet. Wer mehr einnimmt, verliert. Wer mehr ausgibt, bekommt Nachschub. Das ist kein Ausgleich, das ist Entmutigung, ein permanenter Transfer von Verantwortung.
Ein Bund, der schützt
Ein freies Land braucht kein Umverteilungssystem, sondern ein Lernsystem. Wenn ein Land klug wirtschaftet, soll es profitieren. Wenn es versagt, muss es die Folgen tragen, politisch, ökonomisch, gesellschaftlich. Nur so entsteht Fortschritt.
Die Abschaffung des Länderfinanzausgleichs wäre daher kein Akt der Kälte, sondern der Ehrlichkeit. Sie würde das Land von der Illusion befreien, dass man Freiheit und Haftung trennen kann. Jedes Land bekäme die volle Steuerhoheit zurück. Niedersachsen könnte seine Unternehmenssteuer senken, um Firmen anzulocken. Berlin könnte höhere Kulturausgaben finanzieren, wenn die Bürger das wollen. Jeder Erfolg wäre verdient, jeder Misserfolg eine Lehre.
Aber auch Freiheit braucht einen Rahmen. Und doch braucht auch ein freies Land einen Bund. Einen Bund, der nicht regiert, sondern schützt. Seine Aufgabe ist nicht die Steuerung des Inneren, sondern die Vertretung nach außen: Diplomatie, Verteidigung, gemeinsame Sicherheit. Der Bund finanziert sich aus freiwilligen Beiträgen der Länder, proportional zu deren Wirtschaftskraft. Jedes Land entscheidet selbst, wie viel es für Verteidigung und Diplomatie gibt, wie in der Schweiz, wo reiche Kantone wie Zug mehr zahlen, arme wie Jura weniger, aber alle profitieren.
Nur wenn die Länder frei sind, können sie sich freiwillig verbinden. Nur wenn sie souverän sind, kann der Bund mit einer Stimme sprechen, stark, aber nicht überheblich. Er sorgt für die gemeinsame Grenze, für Handelsabkommen, für eine Armee, die verteidigt, nicht eingreift. Alles andere bleibt bei denen, die es tragen müssen.
Wo Freiheit wächst
Die trügerische Sehnsucht nach direkter Demokratie ist also keine Schwäche des Volkes, sondern ein Symptom. Sie zeigt, dass die Menschen spüren, wie weit sich Politik und Macht von Verantwortung entfernt haben. Doch die Antwort darauf darf nicht Zentralisierung heißen, sondern Dezentralisierung. Nicht mehr Mehrheit, sondern mehr Freiheit. Denn wahre Demoikratie bedeutet nicht, dass alle das Gleiche entscheiden, sondern dass jeder für seine Entscheidung haftet.
Freiheit ist nicht bequem. Sie fordert den Menschen heraus, Verantwortung zu übernehmen, wo es einfacher wäre, sich hinter Mehrheiten zu verstecken. Aber genau das ist der Unterschied zwischen einer Bevölkerung und einem Volk. Das eine lässt sich verwalten, das andere will gestalten. Eine Republik, die das wiedererkennt, wird nicht nur demokratischer, sondern auch erwachsener.
Und wenn wir begreifen, dass mit Demokratie ursprünglich „Demoi“ gemeint war, also nicht ein homogenes Volk, sondern viele Gemeinschaften, Gemeinden, Kommunen, die gemeinsam über ihr Leben entscheiden, und wir diesen Begriff wieder dort anwenden, wo unser Staatsname ihn längst trägt, in der Bundesrepublik Deutschland, dann verstehen wir, was dieses Land in den Jahrhunderten stark gemacht hat: der Föderalismus, der Wettbewerb, die Eigenverantwortung seiner Länder, seiner Regionen, seiner Wirtschaft.
Deshalb sollte gesunder Menschenverstand dahin zurückkehren, wo Demoikratie beginnt, in die Kommune, ins Land, zum Bürger selbst. Dort, wo Verantwortung spürbar ist, dort wächst Freiheit.
Diesen Beitrag im Podcast anhören:
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.
Alternativ können Sie den Podcast auch bei anderen Anbietern wie Apple oder Overcast hören.





1 Kommentar. Leave new
Danke für die Betrachtung der Haftungsfrage (Konsequenzen). Deswegen: Mehr Selbstbeteiligung führt (ab IQ = ca. 90) zu mehr Eigenverantwortung. Ziel: Eine abgestufte Eigenverantwortung (keine bedingungslose, unbegrenzte, föderalübergreifende Haftung).
Danke für den Abschnitt: „Ein Bund, der schützt“. Wird aber schwierig in DEU.
Volkentscheide sind ein Teil der direkten Demokratie – also wurden hier die Begriffe (aus Effizienzgründen?; Denkfaulheit? Thema für einen Roman?) nicht klar genug definiert.
Auch mit Volksentscheiden in einer direkter Demokratie kann es passieren, dass ein ganzes Volk wirtschaftlichen/politischen Selbstmord begeht. Isso. Das muss so sein, in einer Demokratie. Aber deswegen auf direkte Demokratie zu verzichten ist wie aus Angst vor dem Tod mit 80 Jahren schon mit 20 von der Brücke zu springen. Wie gesagt. Direkte Demokratie ist nah an der idealen Demokratie und kann (vielleicht zu oft) auch die Richtung ändern. Das haben dann aber diejenigen in der Hand, die es betrifft (Eigenverantwortung) und nicht irgendwelche Politiker, deren Interessen schon mal über die Sachfrage hinausgehen (Machterhalt?).
PS: Deswegen darf es niemals eine (faktische) Weltregierung mit übergreifender Weisungsbefugnis geben. Nur die Machtbegrenzung (z.B. 2 Legislaturperioden), der Förderalismus (Machtverteilung) und das Kartellrecht (Machtverteilung) können eine Zivilisation vor der eigenen Unzulänglichkeit („Dummheit“) schützen.
PPS: Die hier fehlende Begriffsdefinitionen sind Teil des Romans. Hoffe trotzdem auf allgemeine Verständlichkeit.