Künstler: It’s Alive
Song: Sing this Blues – veröffentlicht auf dem Album „Earthquake Visions“, BMG 1993
Michael Jackson zählt zu den prägendsten Sängern der modernen Musikgeschichte. Das spiegelt sich auch in den Billboard-Charts wider: Als Solokünstler erreichte er stolze 13 Nummer-eins-Hits.
Vor seiner Schaffenszeit gab es eine Band, die die Musikwelt ähnlich dominierte: die Beatles. In den 1960er- und 1970er-Jahren standen sie beeindruckende 20 Mal an der Spitze der Charts.
Wer aber trat seither in diese Fußstapfen? Wer hat in den vergangenen Jahrzehnten die Popwelt in solchem Ausmaß geprägt, die Charts durchgehend beherrscht und ganze Generationen an Artists inspiriert?
Jedes Mal, wenn diese Fragen aufkommen – und es scheint, als gäbe es heute keinen Künstler von vergleichbarem Kaliber –, lächelt irgendwo in Schweden ein Musiker still vor sich hin: Max Martin. Denn die überraschende Antwort lautet: Mit unglaublichen 28 (!) Nummer-eins-Hits von den 1990ern bis heute, die aus seiner Feder stammen, ist er das unangefochtene Mastermind der modernen Popmusik.
Max Martin – noch nie gehört? Mir ging es lange genauso. Aber wie kann ein so einflussreicher Musiker so unbekannt sein?
Anders als Jackson oder die Beatles steht Martin nicht im Rampenlicht, sondern wirkt im Hintergrund, als Songwriter und Produzent: „…Baby One More Time“ von Britney Spears, „I Want It That Way“ von den Backstreet Boys, „It’s My Life“ von Bon Jovi, Maroon 5s „Moves Like Jagger“ oder auch The Weeknds „Blinding Lights“ – Max Martins Musikkatalog liest sich wie eine Sammlung der größten Hits der erfolgreichsten Artists seit der Jahrtausendwende! Und betrachten Sie seinen Werdegang genauer, erscheinen diese Welthits plötzlich in einem neuen Licht …
Bevor Max Martin zu diesem unsichtbaren Architekten der Popwelt wurde, war er einfach Karl Martin Sandberg – ein junger Schwede mit einem Faible für Hardrock und dem Traum einer Musikerkarriere.
1985 gründete er mit Freunden die Rockband It’s Alive und übernahm die Rolle des Frontmanns. Die klassische Aufstiegsgeschichte folgte: Jahrelang trat die Band auf kleinen Bühnen auf und arbeitete an Demoaufnahmen, und nach sieben langen Jahren erhielt sie 1992 einen Plattenvertrag bei BMG Ariola – damals eine der größten Plattenfirmen Europas!
Als It’s Alive ihr Debütalbum in den Cheiron Studios in Stockholm aufnahmen, arbeiteten sie mit Denniz PoP zusammen, der das Studio gegründet hatte – und damals einer der angesagtesten Stars der schwedischen Pop- und Dance-Szene war. Mit PoP an ihrer Seite setzte das Label entsprechend große Hoffnungen auf It’s Alive …
Der kommerzielle Erfolg jedoch blieb aus. Und so war ihre Karriere eigentlich schon wieder vorbei: Enttäuscht verließen nach und nach alle Bandmitglieder die Gruppe. Nur Max Martin zog sich ins Studio zurück, getrieben von der Frage, was der Band musikalisch noch fehlte, und arbeitete dort akribisch weiter an seinen Fähigkeiten.
Denniz PoP hatte Max Martins außergewöhnliches Gespür für Melodien schon bei den Albumaufnahmen erkannt und bot ihm nun die vielversprechende Möglichkeit an, als Assistent an seiner Seite zu arbeiten: „Das Glück ist mit den Fleißigen.“
Statt an Rockmusik zu feilen, lernte Martin als Assistent von PoP fortan, wie Popmusik konstruiert wird. Er beobachtete, wie sein Mentor Beats baute, Refrains polierte und Songs bis ins kleinste Detail perfektionierte. Und er begann, selbst zu schreiben, Background-Vocals beizusteuern, mit Sounds zu experimentieren und Gesangsarrangements zu schichten.
Schließlich wurden die beiden ein Produzententeam. 1995 schufen sie den erfolgreichsten Rednex-Song, „Wish You Were Here“, und im selben Jahr folgten mehrere Lieder für das Ace Of Base-Album „The Bridge“. Kurz darauf produzierten die beiden unter anderem mit „Quit Playing Games (With My Heart)“ und „I Want It That Way“ zwei der größten Backstreet Boys-Hits.
Als Denniz PoP 1998 an Krebs starb, hatte Max Martin bereits jahrelang gelernt, Erfahrung gesammelt und sich einen Ruf erarbeitet – und übernahm PoPs Studio. Und genau in diesem Moment nahm seine Karriere erst so richtig Fahrt auf …
Nach den riesigen Erfolgen mit den Backstreet Boys engagierte ihre Plattenfirma Jive Records Max Martin, diesmal alleine, für eine neue Künstlerin aus ihrem Haus: Britney Spears. Das Ergebnis war „…Baby One More Time“ – ein Song, den er von der Pike auf selbst entwickelte, und der Max Martins Namen endgültig in der Musikszene festigte.
Von der Pike auf heißt wirklich allumfassend – und genau das ist für mich das Beeindruckendste an Max Martin. Ob Image, Auftritt, Karriereentscheidungen, Gesang, Texte oder Beats – Martin schrieb und produzierte Songs wie „… Baby One More Time“ nicht nur, er formte die Phase des jeweiligen Künstlers als Ganzes!
Ein weiteres, nicht minder entscheidendes Merkmal von Max Martin ist seine erstaunliche Anpassungsfähigkeit: Während die meisten Songwriter schnell verblassen und höchstens einen Trend prägen, entwickelte er über Jahrzehnte hinweg ein fast mystisches Gespür für den Zeitgeist. Er blieb nie bei einem Stil, sondern passte sich neuen Trends an – und machte sie so gut wie zu seinen eigenen.
In den 1990ern meisterte Martin als Teil des Produzententeams mit seinem Mentor Denniz PoP den typischen Cheiron-Sound, wie bei Ace of Base.
Um die Jahrtausendwende verfeinerte er jene schlichten Melodien und Hochglanzproduktionen für den Teenie-Pop, wie bei NSYNC.
In den 2000ern machte er mit Künstlerinnen wie Kelly Clarkson und Pink Popmusik rockiger.
In den 2010ern integrierte er oft Rap-Elemente und setzte auf elektronischere Produktionen, etwa bei Taylor Swift.
In den 2020ern schließlich arbeitete er mit komplexeren Strukturen, wie bei The Weeknds „Blinding Lights“, einem Stück, das sich am 80er-Jahre-Synthwave orientierte und gleichzeitig völlig modern klang.
Jedes Label würde Max Martin unter Vertrag nehmen, jeder Künstler erachtet es als Ehre, mit ihm zu arbeiten. Die Musikwelt liegt diesem Mann zu Füßen. Wenn er wollte, könnte er selbst im Handumdrehen zum Superstar werden. Er hat sich mit seinem Können die Freiheit erarbeitet, berühmt zu werden oder es eben, wie er es tut, zu lassen.
Der Grund, weshalb er die Öffentlichkeit dennoch größtenteils meidet? Er sagte einmal sinngemäß, dass er, als er mit den größten Stars zu tun hatte, merkte, dass kein Mensch dafür geschaffen ist, berühmt zu sein. Er entwickelte sogar regelrecht Angst davor. Das von diesem Mann zu hören, sollte zu denken geben …
Die Leadsingle „Sing this Blues“ vom It’s Alive-Album „Earthquake Visions“ ist ein Kind ihrer Zeit: roh, laut, emotionsgeladen. Eigentlich ein typischer 90er-Rock-Song. Und doch markiert sie rückblickend vielleicht den entscheidendsten Moment der modernen Popgeschichte: Max Martins erstes sichtbares Lebenszeichen in der Musikwelt. Diese rohe Sehnsucht, die Klarheit in der Hook – der Diamant war da, nur noch ungeschliffen.
Wenn ich den Song so höre, mit Martins heutigem Ansehen im Hinterkopf, wirkt er auf mich fast wie ein stiller Beweis dafür, dass Talent alleine oftmals nicht reicht. Am Ende bestätigt sich, was sich schon ganz zu Beginn seiner unglaublich beeindruckenden Karriere gezeigt hat: „Das Glück ist mit den Fleißigen.“
Hören Sie hier „Sing the Blues“ von It’s Alive.




