Abu Abdallah

Abu Abdallah war eine der wichtigsten Kräfte hinter dem Widerstand gegen die Abbasiden und der Gründung des Fatimidenreichs – und wurde doch kurz, nachdem er seine Mission erfüllt hatte, von eben jenem Herrscher, dem er auf den Thron geholfen hatte, exekutiert. Wie konnte es dazu kommen, daß ein Leben, in dem Idealismus, Widerstandsgeist und skrupelloser Machtsinn untrennbar miteinander verbunden waren, so tragisch endete – und welche Lehren können wir heute daraus ziehen?

Wenn wir auf die abbasidische Welt des späten 9. Jahrhunderts blicken, begegnet uns ein Reich, das zwar noch durch seine geographische Weite und die Pracht seiner Metropolen beeindruckte, aber in seiner geistigen und politischen Substanz längst erodiert war. Die abbasidischen Kalifen, die in früheren Zeiten noch als geistige Führer der Gemeinschaft und als Garanten der Einheit gefeiert wurden, waren zu Schatten ihrer selbst geworden. Die Armee lag in den Händen türkischer Offiziere, die Verwaltung war ein korruptes Labyrinth privater Interessen, die Expansion des Islams war an ihre natürlichen Grenzen gestoßen, und die Finanzen ächzten unter der Last eines bürokratischen Apparates, der keine Ordnung mehr hervorbrachte, sondern nur neue Abhängigkeiten schuf.

Im Innern nahm die religiöse Zersplitterung, die den Islam schon seit seinen Anfängen geplagt hatte, daher immer deutlichere Formen an. Die Attraktivität der charismatischen und sozialrevolutionären Schia, die einst überhaupt erst die Machtergreifung der Abbasiden ermöglicht hatte, war größer als je zuvor, während der zersetzende Rationalismus der „aufklärerischen“ Mutazila trotz gelegentlicher Verfolgung weiter die Geister der Gelehrten verfolgte. Zwar überboten sich die großen orthodoxen Schulen mit Argumenten, um die Gläubigen weiter der Sunna zu verpflichten, aber die Kraft der frühen Umma, die sich einst auf eine gemeinsame spirituelle Erfahrung gestützt hatte, war in gelehrten Debatten und erbitterten Feindseligkeiten zerronnen. 

Die „Völker des Buchs“ schließlich – Christen, Juden, Zoroastrier, Sabäer, etc. – hatten sich nach den ersten frühen Bekehrungswellen stabilisieren können und bildeten überall in der islamischen Welt bedeutsame Minderheiten, oft genug sogar immer noch Mehrheiten. Somit entstand zwischen den Lagern ein Raum, in dem neue Ideen greifen konnten.

Zugleich verschärfte sich die soziale Polarisierung. Die großen Städte – Bagdad, Basra, Kufa, Samarra, Fustat, Kairuan – lebten in einer eigenen Welt von Intellektuellen, Händlern und Hofkadern, während in den Provinzen lokale Dynastien, Stammesführer und religiöse Gruppen um Einfluß rangen und die Oberherrschaft des Kalifen nur nominell akzeptierten: Steuern wurden lediglich gezahlt, wenn aus dem fernen Bagdad eine teure Strafexpedition ausgesandt wurde. Besonders in den Bergregionen Nordafrikas, unter den Berberstämmen, war die Unzufriedenheit mit Händen greifbar. Der Staat war fern, das Recht korrupt, und die Erinnerung an die karge Frühzeit des Islam, als Gerechtigkeit und Führung noch zusammenfielen, gewann neue Kraft.

Es war eine Epoche, in der die Menschen nicht einfach nur Reformen oder gute Worte erwarteten, sondern Erlösung, und in der jede Bewegung, die von einem kommenden Imam sprach, sofort Aufmerksamkeit auf sich zog, allen voran die verschiedenen Formen der Schia. Diese war nicht bloß eine politische Oppositionsbewegung, sondern der Ausdruck einer tiefen Überzeugung, nämlich daß die muslimische Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten von seinem nächsten Umfeld, den Angehörigen seines Hauses, hätte geführt werden müssen, und daß die Machtergreifung der Umayyaden ein schrecklicher Fehler war. Ali, der tragischerweise ermordete Vetter und Schwiegersohn des Propheten, wurde ebenso wie seine ebenfalls ermordeten Söhne für viele Gläubige zum Märtyrer eines verlorenen Ideals – einer Führung, die durch spirituelles Charisma und das heilige Blut der Prophetenfamilie gerechtfertigt war, nicht durch militärische Stärke oder Palastintrigen.

Die Ismailiyya

Über die Generationen entwickelte sich innerhalb der Schia eine immer subtilere Diskussion darüber, wie die echte Nachfolge Alis und somit der Anspruch auf den Kalifenthron wirklich verlaufen sei. Nach dem Tod des sechsten Imams kam es zu einer entscheidenden Spaltung: Während die Mehrheit seinem Sohn Musa folgte, hielt eine kleinere Gruppe an einem anderen Sohn fest: Ismail, der von seinem Vater als eigentlicher Nachfolger designiert worden war, jedoch um 760 noch vor dessen Tod gestorben war. Seine Anhänger weigerten sich allerdings, seinen Tod zu akzeptieren, sondern glaubten eher, er habe sich vorübergehend in die Verborgenheit zurückgezogen, um sich vor der abbasidischen Orthodoxie zu schützen: Bald werde er oder einer seiner Nachfolger zurückkehren und im richtigen Moment die Macht ergreifen; in der Zwischenzeit aber müsse die gesamte islamische Welt mit einem dichten Netz konspirativer Zellen überzogen werden, um im geeigneten Augenblick losschlagen zu können: Die Ismailiyya war geboren.

Der Mittelpunkt dieses verborgenen Netzes lag in Salamiyya, einer unscheinbaren Stadt in Syrien. Von hier aus wurde eine straff organisierte Missionsbewegung aufgebaut, deren Mitglieder die Lehre der „verborgenen Imame“ verbreiten sollten. Diese Missionare waren nicht bloß Prediger, sondern Lehrer, Organisatoren und gelegentlich Diplomaten im Untergrund, die mit äußerster Vorsicht handelten, denn ihre Tätigkeit galt aus abbasidischer Sicht natürlich als hochverräterisch und häretisch.

Dieses Netzwerk hatte eine klare Hierarchie, die bis zu einer verborgenen Führungsspitze reichte, an deren Spitze – angeblich – der im Geheimen lebende Imam stand. Doch genau diese Spitze war problematisch: Die genealogische Legitimität der ismailitischen Imame, die sich nur ihren allerengsten Anhängern offenbarten, war alles andere als unumstritten, umso mehr, als das Netzwerk bewußt verschiedene Varianten kursieren ließ. Kein Wunder, daß der geheime Imam von Salamiyya als Hochstapler galt und sogar seine angebliche Verwandtschaft mit dem Haus ʿAlis in Zweifel gezogen wurde: in einem religiösen Umfeld, in dem Abstammung immer noch der wesentliche Schlüssel zur Autorität war, ein heikler Makel, der die Bewegung immer wieder bedrohte.

Trotz dieser Probleme blieb die ismailitische Botschaft aber weiterhin für viele einfache Menschen attraktiv, ging es doch nur den wenigsten um exakte dynastische Argumente, sondern eher um die Hoffnung auf eine utopische Rückkehr zur Reinheit der Ursprünge des Islam – und sogar weit mehr noch: die Hoffnung auf ein Ende der Zeiten und eine völlige Erneuerung der Welt. Denn sobald der rechtmäßige Imam sich offenbare, werde die Apokalypse losbrechen, die Toten aus ihren Gräbern auferstehen, alle Völker sich dem Kalifen unterwerfen und, so wurde gelehrt, der Islam selbst überflüssig sein, da der Kalif die Menschen doch zur reinen Urreligion Adams zurückführen werde, von der alle nachfolgenden abrahamitischen Religionen nur ein schwacher und immer wieder notdürftig erneuerter Abklatsch seien. 

In einer Welt, die zwischen juristischer Strenge und politischer Willkür zerrieben wurde, und die von endlosen Debatten zwischen Religionen geplagt wurde, die einen Großteil ihres heilsgeschichtlichen Hintergrunds miteinander teilten, aber völlig verschieden auslegten, wirkte dieser Gedanke wie eine geistige Befreiung.

Abu Abdallah

Diese Lehre, gleichermaßen vertraut und revolutionär, bildete dann den Hintergrund, vor dem die Mission des Abu Abdallah begann. Ausgebildet in Kufa und vertraut mit den geheimen Anweisungen aus Salamiyya, wurde er ausgesandt, um unter den Berberstämmen Nordafrikas Anhänger zu gewinnen. Was als kleines Experiment an der Peripherie des Abbasidenreichs begann, wurde zu einem Ereignis von ungeahnter Tragweite. Bei den Kutama traf Abu Abdallah auf Menschen, die nicht nur von abbasidischer Engstirnigkeit und arabischer Arroganz verbittert waren, sondern auch bereit, sich einer neuen Sache anzuschließen, wenn sie ihnen Sinn und Orientierung versprach. Er sprach mit einer Kraft, die ihren verborgenen religiösen Eifer ebenso weckte wie ihren Ehrgeiz, und organisierte diese Stämme mit einer ehernen Disziplin, die ihren späteren politischen und militärischen Erfolg erklärte.

Aus einer Handvoll Gläubiger wurde bald eine Armee und aus einer regionalen Rebellion ein echter Umsturz. Die örtlichen Statthalter der Provinz Afrika, die Aghlabiden, waren seit langem verhaßt wegen ihrer Korruption und ihrer Nähe zum abbasidischen Hof und hatten dem unerwarteten Aufstand aus den Bergen kaum etwas entgegenzusetzen. In blitzartigen Feldzügen ließ Abu Abdallah ihre Herrschaft zusammenbrechen – nicht durch rohe Gewalt allein, sondern durch schrittweise und geschickte Nutzung der inneren Risse im System sowie der peripheren Situation Afrikas im organisatorischen Netzwerk des ganz auf Bagdad zentrierten Kalifats.

In diesen Jahren war er der unbestrittene Mittelpunkt der Bewegung. Für viele Kutama war er der sichtbare Arm des verborgenen Imams, für die Missionare aus Salamiyya ein brillanter, aber zunehmend gefährlicher Mann, der rasch zu viel persönliche Autorität gewann. 

Als der verborgene Imam 909 nach einer abenteuerlichen Reise endlich in Afrika erschien, um die Früchte seiner konspirativen Tätigkeit einzufahren und sich als Kalif zu offenbaren, war die Erwartung grenzenlos, doch die Realität enttäuschte. Der Imam, auch wenn er den Thronnamen „al-Mahdi“, also der Messias, übernahm, war kein Übermensch, sondern ein recht unbeeindruckend wirkender Mann mit Temperament, Ehrgeiz und einem sehr diesseitigen Verständnis von Herrschaft. Schlimmer noch: Die Toten blieben in ihren Gräbern, die Herrschaft der Abbasiden über die anderen Provinzen stabil, die Bekehrungen zur Schia begrenzt, und der Kalif hatte zu allem Überdruß auch noch einen Sohn, was in keiner Prophezeiung vom Ende der Welt eigentlich vorgesehen war. 

Die Vision eschatologischer Umstürze, die Abu Abdallah so erfolgreich verbreitet hatte, wurde vor seinen Augen in ein recht klassisches, anfangs nur regional bedeutsames dynastisches Projekt überführt, das nach den harten Regeln der Politik funktionierte, ohne die Unterstützung der himmlischen Heerscharen mustern zu können. Die eschatologische Bewegung wurde ein Staat; die Vision Verwaltung – und die Proklamation einer neuen Religion mitsamt Aufhebung der Scharia auf eine unbestimmte Zukunft verschoben.

Daher war die Beziehung zwischen Prediger und Imam von Anfang an angespannt. Der Mahdi sah in Abu Abdallah einen Mann mit viel zu großer Machtbasis; der Missionar wiederum erkannte, daß der Imam die überspannten Erwartungen seiner Anhänger nicht erfüllen würde und er dementsprechend sein ganzes Leben in den Dienst einer Chimäre gestellt hatte und betrogen worden war – oder schlimmer noch: sich selbst betrogen hatte. 

Aus diesem Zwiespalt heraus wuchs Mißtrauen, dann offene Feindseligkeit. Schließlich ließ der Mahdi Abu Abdallah verhaften und 911 als Verräter hinrichten: Der Mann, der einer ganzen Dynastie auf den Thron geholfen hatte, fiel ihr als einer der Ersten zum Opfer; ein Ende, das ein grelles Licht auf die Gefährdungen wirft, die entstehen, wenn politisches Genie und religiöser Idealismus zu einer unruhigen Mischung verschmelzen, doch die hochfliegenden Erwartungen in der spröden Realpolitik nicht erfüllt werden können.

Im Kampf zwischen dem Realisten und dem Idealisten siegt meist der Erstere, zumindest, wenn wir das Wort „Sieg“ im Sinne konkreter politischer Kontrolle deuten und nicht im Sinne innerer spiritueller Vollendung. Abu Abdallahs Leben zeigt daher, wie schwer es schon immer war, spirituelle Mission und politische Bewegung in Einklang zu bringen: Das Reich Gottes kann (und soll) zwar bereits auf dieser Welt immer wieder in das Bewußtsein der Menschen gebracht werden, ist aber letzten Endes „nicht von dieser Welt“, sondern gleichzeitig über und in uns. Ideale können Menschen beflügeln; die Macht der „civitas terrena“ aber formt sie nach ihren eigenen Regeln um. Und wenn der Prediger erkennt, daß der vermeintliche Heilsbringer nur ein politischer Herrscher wie jeder andere ist, brechen Welten auseinander.

Für uns Heutige bleibt diese Geschichte eine Mahnung. Bewegungen, die sich auf transzendente Legitimation berufen, sind häufig anfällig für Manipulation, und ihre Vorkämpfer laufen Gefahr, als erste Opfer jener Erwartungen zu werden, die sie selbst geschürt haben. Nicht jede Vision trägt den Menschen, der sie verkündet; nicht jede Hoffnung kann in der Politik bestehen; und nicht jeder „verheißene Führer“ ist wirklich mehr als nur ein Mensch, der lediglich die Sprache des Heils zu manipulieren gelernt hat. Auch manchen selbsterklärten Abendlandrettern bis in die höchsten Sphären geht es wohl trotz klingender Worte nur um Macht, Reichtum und „Business as usual“ – umso wichtiger, sich nicht vor einen Karren spannen zu lassen, der, einmal auf die rechte Bahn gebracht, seine Helfer als erste Opfer zermalmen könnte.


Dawid Engels - Widerstand und EhreDer Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Widerstand und Ehre – 12 neue Lebensbilder der Freiheit
veröffentlicht.

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