Ein abwegiges soziales Konzept

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Protokolle der Aufklärung #42

Anfang des Monats meldete sich Andrea Nahles wieder zu Wort, kämpferisch wie immer. Diesmal nimmt sie es mit den Granden ihrer eigenen Partei auf. Sie tut das es in ihrer Funktion als Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Worum geht es? – Es geht um „die Menschen am Rande unserer Gesellschaft“, um die armen Leute also. 

Eine sogenannte Novellierung steht im Raum, zumindest zur Diskussion. In der Bundestagssitzung vom 9. Juli ist schon mal nicht mehr von Grundeinkommen, sondern von Grundsicherung die Rede. 

Novellierung ist Politsprech. Sie wird fällig, wenn sich entweder die Sachlage geändert hat, oder wenn im Parlament vorher wieder einmal Murks produziert wurde. Die Sachlage „Armut in der Gesellschaft“ ändert sich nie. Also wurde wieder einmal …

Eigentlich geht es beim Thema nicht um schlichte Novellierung, sondern um die Novellierung einer Novellierung und auch letztere war bereits die Novellierung einer Novellierung. Ich habe die Kette der Novellierungen im Sozialbereich nicht bis zum Anfang rückverfolgt. Aber während meines Lebens waren es einige.

Es ist an der Zeit, sich dem Problem „Armut“ einmal vorbehaltlos und nüchterner als bisher zuzuwenden. Trotz vieler Einsichten und intensivster Mitleidsgefühle: Das Problem ist nicht gelöst. Jedenfalls ist es nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, dass wohlwollende Gesetzgebung die Armenhilfe zu einem schamvoll verhüllten Almosensystem macht. Um hier weiterzukommen und Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen anstellen.

Hilfe für notleidende Menschen

Es war einer der größten Fortschritte in der Menschheitsgeschichte, als man lernte, leistungsunfähige oder leistungsunwillige Mitglieder der Gesellschaft nicht verhungern oder erfrieren zu lassen. Von da an entwickelte sich ein waches Gespür für die Hilfsbedürftigkeit einiger Individuen und für deren besondere Situation.

Um sich um das Überleben notleidender Menschen zu kümmern, braucht es keine speziell mitfühlende Gesinnung, z. B. die „christliche“ oder die ihr verwandte „soziale“. Jeder Mittellose würde in einer normal entwickelten Gesellschaft schon deshalb Hilfe finden, „weil eine solche Gesellschaft seine … Not so wenig dulden würde, wie ein reinlicher Mensch einen Flecken auf seinem Kleide“ (John Henry Mackay). 

Wer an das Armutsproblem ohne Scheuklappen herangehen will, muss sich als erstes von dem pseudointellektuellen Ballast befreien, der eine sachgerechte Diskussion und die Entwicklung einer neuen Konzeption behindert. Anstatt längst fällige Innovationen ins Auge zu fassen, die das überkommene Versorgungssystem für die Armen ersetzen, hat die Theorie Konzepte entwickelt, welche sich in vielerlei Hinsicht als unausgereift erweisen und die im Grunde nichts anderes tun als das Bisherige am Leben zu erhalten.

Ein vermeintlich humanes Konzept

In letzter Zeit sind immer wieder Vorschläge aufgetaucht und Konzepte erarbeitet und teilweise in die Tat umgesetzt worden, das Armutsproblem in modernen Gesellschaften zu lösen. Eines dieser Konzepte ist das sogenannte „Bedingungslose Grundeinkommen“. Meines Wissens geht diese Idee ursprünglich auf den US-Ökonomen Milton Friedman zurück. Sie wurde dann vom amerikanische Präsidenten Richard Nixon übernommen und im „Family Assistance Plan“ umgesetzt. 

Auch Friedrich von Hayek schloss sich der Friedman’schen Idee an und forderte „ein einheitliches Minimaleinkommen“ für alle Mitglieder der Gesellschaft. Dieses erschien ihm als ein „vollkommen legitimer Schutz gegen ein Risiko, das allen gemeinsam ist“. 

Bei allem Verständnis für diesbezüglich vorgebrachte Argumente, dass für die Eintreibung der dafür notwendigen Mittel unweigerlich Zwang ausgeübt werden muss, stand für alle Freunde dieses „Einkommens“ niemals in Frage, auch für Hayek nicht. 

Das Vorhaben der Amerikaner und auch ein neueres Experiment in Finnland mussten scheitern. Denn die notwendigen Basisüberlegungen zu diesen Projekten wurden nicht angestellt. Nicht nur in den USA und in Finnland, sondern auch in Deutschland dürfte das dort momentan realisierte Armenversorgungsprojekt scheitern oder zumindest korrigiert werden müssen. Inzwischen gesteht man sich auch bei uns ein, dass die Idee eines „Einkommens“ für Markt-Outsider eine Fehlgeburt war. Die Vorstellung, allen Menschen, die sich außerhalb der Leistungs-Gegenleistungs-Gesellschaft bewegen, ein Einkommen zu gewähren, ist schon vom Ansatz her falsch. Sie steht im glatten Widerspruch zur Situation derjenigen, die sich ressourcenmäßig jenseits des Marktes bewegen. 

Beim Konzept eines „Grundeinkommens“ für die Armen bleiben wesentliche Fragen offen: Können Menschen, die nichts Eigenes in den Gütertausch des Marktes einbringen, inmitten eines Leistungs-Gegenleistungs-Gefüges als gleichrangige Partner existieren? Welcher Aufwand ist gerechtfertigt, um einerseits alle Nichtleistungsträger am Leben zu erhalten und andererseits die Leistungslieferanten nicht zu überfordern bzw. zu verprellen? Wie bringt man die Freiheit der Armen mit der Freiheit der Armenhelfer zusammen? Kann man auch den Nichtleistungsträgern der Gesellschaft eine freie und erfüllte, wenngleich keine „normalbürgerliche Existenz“ sichern? Und nicht zuletzt: wie beseitigt man alle Anreize, die den leichtfertigen Entschluss zu einem Ausstieg aus der „normalbürgerlichen Existenz“ stimulieren?

Armutshilfe und Solidarität

In jeder Gesellschaft benötigt man Einrichtungen, die Leistungen zur Beseitigung der Folgen von Schicksalsschlägen anbieten. Schicksalsschläge können Jeden treffen. Daher ist es sinnvoll, in Solidargemeinschaften zu leben, z. B. Mitglied einer Versicherungsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit zu sein. 

Eine Solidargemeinschaft ist geschaffen, um Nothilfe zu leisten und die Risiken des Lebens zu mindern: bei Verlust der Gesundheit oder des Hausrats, bei Ersatzleistungen aufgrund von Haftungspflichten usw. Wechselfälle des Lebens können Hilflosigkeit bewirken oder gar zum Tode führen. Vor deren Folgen kann man sich durch Eintritt in eine spezielle Schutzgemeinschaft wappnen. 

Solidargemeinschaften sorgen für jene Menschen, die sie nicht nur nutzen, sondern auch wirtschaftlich tragen. Der Unterschied einer vernünftig organisierten Risikogemeinschaft zu vielen heutigen ist, dass alle potentiellen Nutzer sie anspruchsbezogen finanzieren. Eine Solidareinrichtung basiert auf Tauschbasis, und zwar auf dem Tausch Geld gegen Schutz, Geld gegen Sicherheit. Die dadurch Begünstigten sind auch die Zahlmeister der Einrichtung. Insofern sind solche Einrichtungen echte Marktgebilde.

Der Denkfehler bei der Ansicht, dass die Armenhilfe eine Solidareinrichtung zu sein hätte, besteht darin, dass die Hilfsbedürftigen, um die es hier ja geht, schon von vorne herein nicht in der Lage sind, den finanziellen Unterhalt der Einrichtung zu tragen, etwa in Form von Beitragsleistungen. Die Sicherung ihrer Existenz basiert auf der Leistungsbereitschaft Anderer.

Bei der Armenhilfe wird ein Aufwand betrieben und werden Leistungen für Menschen erbracht, ohne dass dabei eine Gegenleistung verlangt wird. Zahlmeister und Begünstigte sind zwei verschiedene und völlig voneinander getrennte Gruppen. Also entfällt das Merkmal der Gegenseitigkeit, welches das Solidarwesen kennzeichnet. Der Bereich der Armenhilfe ist ein Bereich außerhalb des Solidarischen. In der Vermengung von Armenhilfe und Solidarität sehe ich eine der Hauptursachen für das Unverständnis des hier anstehenden Problems. 

Armenhilfe und Menschenwürde

Eine weitere Fehlstellung, die zur Verwässerung, ja geradezu Verballhornung des Armutsproblems führt, resultiert aus der Verkoppelung von Nothilfe und Menschenwürde. Ein regelrechtes Hindernis in dem Bestreben, möglichst viele Hungernde und Frierende zu unterstützen, stellt die intellektualistische Verblendung dar, dass die materielle Versorgung der Armen „menschenwürdig“ zu sein habe. 

Das Denken muss regelrechte Verrenkungen machen, um mancher zeitgeistkonformen Argumentation in Sachen Menschenwürde noch folgen zu können. „Menschenwürde“ ist zum Idiom geworden, das jede Aktivität für etwas Gutes abdecken soll.

„Was genau die Menschenwürde-Idee ausmacht, ist strittig … Der Würdebegriff brauchte [bisher] nicht weiter erörtert zu werden, weil dessen moralischer Stellenwert als unumstritten angesehen wurde. Ja, er durfte nicht einmal diskutiert werden, weil ihm etwas beinahe Heiliges anhaftete, von dem man fürchtete, dass es sich in terminologischen Erörterungen verflüchtigen würde“ (Arnd Pollmann). 

Die Deklamatoren einer menschenwürdigen Armenhilfe gehören zu jenen Zeitgenossen, die eine eher schlichte Vorstellung von „Würde“ haben. Der weltbekannte Schneidermeister Karl Lagerfeld soll – gnadenlos selbstbewusst, wie er nun einmal war – die Worte von sich gegeben haben: Wer sein Heim im Hausanzug verlässt, verliert seine Würde.

Um die Menschenwürde für die Rechtfertigung der Armenhilfe in Anspruch zu nehmen, muss man sie materialistisch interpretieren. Dann kann jedoch nicht vermieden werden, dass die armen Bewohner einer reichen Nation als würdiger gelten als in anderen Nationen. Über kurz oder lang werden alle Erdenbewohner an Orte streben, wo es in materieller Hinsicht „würdiger“ zugeht, als in ihrer bisherigen Heimat. 

Außerdem: Die Berufung auf die Menschenwürde kann bewirken, dass in den wohlhabenderen Nationen flotte Kraftfahrzeuge und aufwendige Kommunikationsgeräte bei vielen Anspruchsstellern auf Armenhilfe zu finden sind, wo andere nicht einmal das Nötigste gegen Hunger und Kälte haben. Bei der Knappheit der Ressourcen auf unserer Erde muss man bei allzu großzügiger Auslegung der „Menschenwürde“ Bedürftige abweisen, denen man sonst noch Hilfe zukommen lassen könnte. 

Wir sehen: Diejenigen, welche die Menschenwürde am materiellen Besitz festmachen wollen, haben uns Einiges zu erklären. Statt unter den Menschen Neid und Hass zu schüren, sollten sie darauf schauen, dass einerseits alle Nichtleistungsträger ausreichend versorgt sind und andererseits diejenigen, die mit ihrer Opferbereitschaft die Armut erträglich machen, nicht zu Sozialsklaven heruntergedrückt werden. 

Armenhilfe ist Armenhilfe und Menschenwürde ist Menschenwürde. Es zeugt nicht gerade von intelligentester Denkungsart, beide Begriffe miteinander zu vermengen. Das tun offenbar auch die Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts bei der Beurteilung bestimmter sozialer Fragen (SPIEGEL 51/2023). 

Der Begriff „Menschenwürde“ wurde in der europäischen Aufklärungsepoche für einen bestimmten und klar definierten Sachverhalt geprägt. Näheres lese man nach bei Immanuel Kant oder bei Friedrich Schiller. Dass man ihn heute bei allen möglichen Gelegenheiten ins Spiel bringt, ihn sogar für die Armenhilfe missbraucht, zeigt, wie unbedarft die Adaptation der abendländischen Denktradition manchen unserer Zeitgenossen belassen hat. 

Armenhilfe und Zwang

Manche Menschen sind von Geburt an arbeitsunfähig. Andere geraten durch einen Schicksalsschlag in die Arbeitslosigkeit, z. B. durch einen Unfall. Wieder andere sind durch ein seelisches Leiden oder geistige Unfähigkeit lebenslang dazu verdammt, sich außerhalb der Arbeitswelt und damit außerhalb eines normalbürgerlichen Lebens zu bewegen. All diese Menschen bilden die unproduktiven Klassen der Gesellschaft.

Zu den unproduktiven Klassen gehören neben den Leistungsunfähigen auch die sogenannten „Aussteiger“, also Menschen, die ganz bewusst im Hamsterrad der Leistungsgesellschaft nicht mittreten wollen. Gegen die wird oft argumentiert, dass man sie nicht mitversorgen darf, weil sie aufgrund freien Entschlusses vom Zug der Arbeitswilligen abspringen oder von vorne herein nicht darin mitfahren wollen. Sie hätten sich auch anders entscheiden können. Dann müssten sie „den Anderen nicht auf der Tasche liegen“. Ausnahmsweise dürfe hier auch mal Druck ausgeübt werden, so die allgemeine Auffassung.

Dagegen ist einzuwenden: Eine wahrhaft freie Gesellschaft widerspricht sich selbst, wenn sie den freien Entschluss, aus dem Trubel von Güterproduktion und Güterhandel auszuscheren, nicht akzeptiert. Recht verstandene Freiheit heißt, auch zur Arbeit muss man Nein sagen können. „Laboro, ergo sum“ ist zwar zum Mantra abendländischer Gesellschaften geworden. Aber ein wahrhaft freies Zusammenleben von Menschen muss gestatten, dass nicht alle dem Mantra folgen. Zumindest darf die Gesellschaft nicht jeden dazu zwingen. 

Erst dann, wenn man aus freien Stücken aus der Arbeitswelt aussteigen darf, wird jede Art von Arbeit zwangsfrei verrichtet. So gehört die (gewollte oder ungewollte) Arbeitslosigkeit als unverzichtbarer Bestandteil in jede sich als frei deklarierende Gesellschaft hinein. Eine solche Gesellschaft wird die Passivität von arbeitsfähigen Mitbürgern so lange dulden müssen, bis diese von selbst in eine produktive Tätigkeit hineinfinden. Die Idee der Freiheit lässt andere Denkbarkeiten nicht zu. Eine freie Gesellschaft kennt Zwangsarbeit nur, wenn Schäden aus Delikten wiedergutgemacht werden sollen. Dies geschieht aus Gründen, die das Naturrecht der Freiheit (s. meinen Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“) vorgibt und die jeder billigen kann. 

Ein Mensch ist erst dann wirklich frei, wenn er von anderen nicht genötigt wird, für seine Existenz zu arbeiten. Denn Freiheit besteht darin, jedwede Form positiven Verhaltens verweigern zu dürfen, sofern man Anderen damit nicht schadet. Zum positiven Verhalten zählt Arbeit. Arbeit ist dazu da, eine „normalbürgerliche Existenz“ zu sichern. Eine „normalbürgerliche Existenz“ muss man auch ausschlagen dürfen. 

Niemand darf verteufelt werden, der sich weigert, eine „normalbürgerliche Existenz“ zu wählen und eine andere, vielleicht sehr viel ärmere bevorzugt. Im Gegenzug darf man aber auch niemanden dazu zwingen, jene zu unterstützen, die der „normalbürgerlichen Existenz“ eine nichtbürgerliche vorziehen müssen oder wollen.

Menschen wehren sich zurecht gegen jeden Anflug von Zwang, sofern er sich nicht gegen negatives und unrechtmäßiges Verhalten richtet. Bei denen, die in den Markt nichts einbringen, wird seltsamerweise eine Ausnahme gemacht. Hier neigt man dazu, unverhohlen Druck auszuüben – in Form von Arbeitszwang.

Die ruhebedürftige Emanzipation

Unter den Außenseitern der Leistungsgesellschaft sind auch Individuen, die eine Besinnung auf sich selbst benötigen. Solche Menschen durchleben Phasen, in denen sie in Ruhe gelassen werden wollen. Ihr Ruhebedürfnis kann so groß sein, dass sie sich außerstande sehen, bedarfsgerechte Güter zu erzeugen und in den Markt einzubringen. Sie brauchen Lebensumstände, die eine Aufarbeitung ihres Geistes ermöglichen. 

Die „intellektuellen Outsider“ brauchen Freizeiten und Freiräume außerhalb der existenzsichernden Arbeitswelt. Das müssen Räume sein, in denen sie ungestört und angstfrei leben können. Dort können sie ihre eigene mentale Struktur verändern und mittelbar auch die der Anderen. 

Dabei bringen sie Wissen hervor, das zwar nicht technikrelevant und insofern auch nicht unmittelbar marktgängig ist. Aber es können sich daraus durchaus innovative Paradigmen der Natur-, Welt- und Lebenssicht entwickeln bis hin zu neuen, bisher ganz unbekannten Theorien (theoria wörtlich: Überschau, und zwar über das, was ist). Wer die Dringlichkeit eines solchen Anliegens in sich spürt, wird dafür gern das Leben in bescheidenen Verhältnissen außerhalb einer „normalbürgerlichen Existenz“ in Kauf nehmen.

Marktabsence und Armut

Es wird stets eine Gruppe von Menschen geben, die sich außerhalb des aktiven Marktes befinden. Nur sollten wir uns wieder darauf besinnen, dass es außerhalb des Marktes kein „normalbürgerliches Leben“ geben kann. Denn am Markt ist die Gesellschaft ein Leistungs-Gegenleistungs-Gebilde.

Eine freie Gesellschaft wird – ihrem Anspruch gemäß – nach dem Motto „Jedem das Seine“ verfahren müssen. Das gilt auch für alle freiwilligen oder unfreiwilligen Outsider des Marktes, die man mitversorgt. Es muss aber auch jedem klar sein, dass es einen Outsider-Luxus nicht gibt. Eine Armenversorgung im Sinne der sprichwörtlichen Züricher „Luxuskaritas“ steht in einem glatten Widerspruch zur Idee einer Karitas im Sinne einer Obdach, Kleidung und Nahrung bereitstellenden Hilfe. Sie ist für jene Leute, die aus welchen Gründen auch immer, neben und außerhalb der Leistungsgesellschaft leben wollen bzw. leben müssen, mit keinem Argument zu rechtfertigen. 

Ohne Arbeit oder ohne Erbschaft wird in keiner Gesellschaft eine „normalbürgerliche Existenz“ zu sichern sein, auch wenn deren Mitglieder noch so menschenfreundlich gesinnt sind. Das Leben ohne Arbeit wird in vielen Fällen ein Leben in Armut sein müssen. Das gilt auch für diejenigen, die aufgrund irgendwelcher Behinderung im „Hamsterrad“ der Arbeits- und Tauschgesellschaft nicht mittreten können. Wer marktgängige Güter nicht auf- oder beibringen kann, weil er von Krankheit und Behinderung geplagt ist, Burnout-Syndromen erliegt, Besinnungsphasen braucht oder sein Leistungspotential vernachlässigt, geht in einer leistungsteiligen Gesellschaft unter. Wer ein Leistungspotential wegen angeborener geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung nicht entfalten kann, geht in ihr gar nicht erst auf. 

Leben außerhalb und innerhalb des Marktes

Die bisherige Auseinandersetzung um das „bedingungslose Grundeinkommen“ ignoriert die soeben aufgezeigten Probleme komplett. Nur wenn es hieße „bedingungslose Lebenshilfe“, kann man dem Begriff „bedingungslos“ einen vernünftigen Sinn abgewinnen. Bestimmte Ideologien, die eine genauere Analyse der Armenhilfe verhindern, gehören auf den Prüfstand. Damit scheint vor allem die Politik große Schwierigkeiten zu haben. 

Die Kernfrage lautet doch: Wie soll eine Wirtschaftsgemeinschaft mit den „Outsidern“ des Marktes umgehen? – Eine sachgerechte Antwort auf die Frage wird man erst geben können, wenn man anerkennt, dass es neben der Seinsweise auf dem Markt eine prinzipiell andere Seinsweise außerhalb des Marktes gibt und dass alle Bemühungen, die Marktoutsider gegen ihren Willen in den Markt hereinzuziehen, letztlich in Zwangsmaßnahmen enden. 

Erst die klare Unterscheidung von Markt und Nichtmarkt versetzt in die Lage, Neid, Missgunst und Aggression hinsichtlich verschiedener Lebensformen aus der Gesellschaft fernzuhalten. In beiden Sphären hat das Leben Vor- und Nachteile. Bis die Menschheit begriffen hat, dass es ein ganz anders geartetes Leben außerhalb des Marktes gibt, das normalerweise mit Armut verbunden ist bzw. verbunden sein muss, das jedoch genauso zu respektieren ist, wie das Leben innerhalb des Marktes, wird wohl noch einiges Wasser den Rhein herunterfließen.

Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt die Buchreihe „Die freie Gesellschaft und ihre Entstellung, Band 1-4“ veröffentlicht.

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