Protokolle der Aufklärung #4
Der ehemals einflussreiche Amerikaner Walter Lippmann – er war unter anderem Präsident der American Philosophical Society – spricht in seinem umfangreichen Gesellschaftswerk von einem „Leitgesetz“, das unser Leben bestimmt und schon immer bestimmt hat. Dies auch dann, wenn wir es nicht ausdrücklich kennen. Dazu lassen wir ihn am besten selbst zu Wort kommen: „Die Überzeugung, dass es ein Leitgesetz gibt, das über allen geschriebenen Gesetzen, Verordnungen und Bräuchen steht, findet sich bei allen Kulturvölkern. Sie entspringt einer undeutlichen intuitiven Wahrnehmung … Für gewöhnlich bestritten die Herrschenden die Idee des Leitgesetzes, wogegen die Untertanen sie anriefen … Wenn man fragt, wo dieses Leitgesetz zu finden sei, dann lautet die Antwort …, dass sich Inhalt und Rahmen erst allmählich enthüllen, eine Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen ist.“ So undeutlich es sich auch bisher zum Ausdruck bringen konnte, stets sei es das Motiv gewesen für den Kampf gegen jegliche Art von Unterdrückung.
Ich will versuchen, auf dem Fundament meiner drei vorangegangenen Beiträge (über die Begriffe Ich, Freiheit und Gesellschaft) einen Weg zu diesem „Leitgesetz“ zu bahnen mit dem Ziel einer schlüssigen, zustimmungsfähigen und für alle verständlichen Formulierung.
Die gleiche Freiheit aller
Zunächst ist nur immer von der Freiheit des Ich die Rede (siehe meinen Beitrag „Die Freiheit des Ich“). Wie steht es aber mit der Freiheit des Du? Wie kommt das Ich dazu, ein Du ebenfalls für ein freiheitsbegabtes Wesen zu halten? – Gern wird behauptet, dem Du käme – genau wie dem Ich – die Freiheitsbegabung an sich zu. Das mag sein. Davon erfährt man aber nichts. Eine kritische Reflexion offenbart: Die Freiheit des Du entzieht sich, genauso wie die Freiheit des Ich, jeder ausdrücklichen Erkenntnis. Das Ich kann die Freiheit in das Du nur transferieren, so wie es sich selbst nur in das Du transferieren kann (siehe meinen Beitrag „Die Gesellschaftlichkeit des Ich“). Die Freiheit des Du ist insofern eine „geliehene“ (Immanuel Kant).
Das Ich transferiert sich also bei der Du-Konstitution nicht nur schlechthin, sondern auch als Freiheitsträger, als spontanautonomes Wesen. Dann erscheint das Du ebenfalls als spontanautonomes, also freiheitsbegabtes Wesen, und zwar unabhängig davon, ob es selbst um seine Freiheit schon weiß oder nicht.
Mit der Du-Konstitution essentiell verbunden ist die Wir-Konstitution (siehe den o. g. Beitrag). Weil die Du-Konstitution im individuellen Bewusstsein auch das Wir erzeugt, wird die Freiheitsbegabung auch auf das Wir ausgedehnt. Nicht nur die Freiheit in Bezug auf ein bestimmtes Du überträgt sich dabei, sondern in Bezug auf jedes nur mögliche Du. Infolgedessen kann die Freiheitsbegabung den Menschen allgemein zugesprochen werden. Es entsteht jene Freiheit, die „jedem Menschen kraft seiner Menschheit“ zukommt. „Es ist nicht genug, dass wir unserem Willen, es sei aus welchem Grunde, Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht eben dieselbe auch allen vernünftigen Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben“ (Kant).
In einer beliebigen empirisch vorfindbaren Gruppe findet sich oft Allgemeines, vielleicht in Form einiger gemeinsamer Eigenschaften oder als gemeinsames Interesse oder als gemeinsamer Besitz. Aber das Allgemeine, was wir jetzt im Blick haben, ist vom Ich infolge der Du-Konstitution entstanden, und das heißt, es gehört der physischen Existenz des Menschen nicht an.
Weiteres ist zu bedenken: Das Ich und seine Freiheit werden im Zuge des Ich-Transfers allen anderen nicht nur überhaupt zuerkannt. Sie werden ihnen auch in gleicher Weise zuerkannt. Die Gleichheit von Ich, Du und Wir hinsichtlich ihrer Freiheit basiert auf der (meta-physischen!) Identität, die durch den Ich-Transfer (a. a. O.) für alle Menschen hergestellt wird. Also nicht eine Gleichheit von Ich, Du und Wir im körperlichen Sinne trägt das freie menschliche Miteinander!
An dieser Stelle wird deutlich: die Begriffe „Allgemeinheit“ und „Gleichheit“ in Bezug auf „Freiheit“ können nur aus dem Ich und seinem ureigensten Selbsterleben geschöpft werden. Erst mit der auf epistemologischer Basis gereinigten Du-Konstitution, aufgrund welcher das Ich auch das Wir erzeugt, ist die Behauptung begründbar, dass alle Menschen freiheitsbegabt sind, und zwar in gleicher Weise. Das heißt, die beiden Begriffe Allgemeinheit und Gleichheit sind aufs Engste mit dem Freiheitsbegriff verknüpft. Die „gleiche Freiheit aller“ (John Henry Mackay, Kurt Zube) gründet in dem meta-physischen Kollektiv der aus dem Willen des Ich geschaffenen „Menschheit“ (s. a. a. O.). Es mag dem Einzelnen bewusst sein oder nicht: Als Ich, das die Du-Konstitution vollzieht, ist er sowohl Ursprung, als auch Hort der „gleichen Freiheit aller“.
Der Freiheitsgrundsatz und seine Derivate
Die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit gehen in einen „Leitsatz“ ein, den ich Naturrecht der Freiheit nennen möchte oder auch – wie einst Kant – Menschenrecht (das Wort „Menschenrecht“ erscheint bei Kant immer im Singular, und zwar aus gutem Grund!). Was spricht für diese Benennung?
Gehen wir davon aus, dass es so etwas wie Naturrecht gibt (vom Naturrechtsbegriff der abendländischen Tradition sehen wir hier einmal ab), dann bedeutete das: Es gibt eine von der Natur erteilte Ermächtigung. Denn ein Recht ist immer eine Ermächtigung zu etwas. Dabei entsteht schnell die Frage: Kann die Natur so etwas wie Ermächtigung überhaupt erteilen? – Die Bezeichnung „Recht“ ist doch nur statthaft und auch nur dann verständlich, wenn wir annehmen, dass die Natur so etwas zu erteilen vermag.
Der kritische Beobachter sieht aber in der Natur keine Rechte. Er sieht dort nur spontanaktive Wesen, die in unterschiedlicher Weise ihr Leben entfalten. Ein Recht auf Lebensentfaltung ist nirgends zu entdecken. Man kann solches Recht nur unterstellen. Eine Unterstellung ist erlaubt, solange ihr keine Beobachtungsdaten widersprechen.
Gesetzt, es gäbe ein Recht auf Lebensentfaltung, dann haben es offenbar alle Lebewesen gleichermaßen. Unter dieser Prämisse lässt sich sagen: Alle Lebewesen haben das gleiche Recht auf Lebensentfaltung. Damit wäre ein Naturrecht, wenn denn ein solches existieren solle(!), für alle in der Natur lebenden Wesen in umfassender Weise ausgesagt. Der Satz enthält die beiden Begriffe „Allgemeinheit“ und „Gleichheit“. Das Naturrecht wird diese beiden Begriffe enthalten müssen. Denn im Gegensatz zu den positiven Rechten der Menschen, die in unterschiedlicher Weise nur immer bestimmten Individuen zukommen, z. B. Garten- oder Verkehrsnutzungsrechte, ist das Naturrecht, das sich auf alles Lebendige bezieht, nicht für jedes Lebewesen ein anderes.
Nun gibt es unter den Lebewesen einige, die von sich behaupten, sie seien von Natur aus freiheitsbegabt. In der Freiheit sehen sie das eigentümlich Humane, nämlich jenes Merkmal, was sie als Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Wegen dieses Unterschieds leiten sie eine Art Privileg für sich ab. Das Privileg soll in einem besonderen Naturrecht für Menschen Ausdruck finden. Im Unterschied zum Naturrecht für alle Lebewesen (s. o.) soll es ausdrücklich ein Menschenrecht sein. Dies müsse gestatten, sein Leben frei entfalten zu können. Zu den beiden Begriffen „Allgemeinheit“ und „Gleichheit“, die in dem oben formulierten Naturrecht schon enthalten sind, müsse daher – so die Auffassung der Menschen – noch ein dritter kommen: die Freiheit. Die Menschen verlangen deshalb, ihr besonderes Naturrecht (Menschenrecht) solle lauten: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung.
Dieser Satz ist ein Grundsatz. Aus ihm lassen sich weitere Sätze ableiten. So kann man aus dem Begriff „Lebensentfaltung“ beliebige Entfaltungsmöglichkeiten ausgliedern und in Form analytischer Urteile a priori Zweitprämissen bilden. Die bringen – mit dem oben formulierten Grundsatz als Erstprämisse – eine Menge von Konklusionen hervor. Auf diese Weise lassen sich aus dem Grundsatz per Syllogismus viele lebensnahe Formeln ableiten. Die lassen ihrerseits Ableitungen zu, die Ableitungen unter Umständen auch wieder und so fort.
Der Grundsatz gesteht zum Beispiel Jedem in gleicher Weise das Recht auf freies Handeln zu, ebenso das Recht auf freie Vereinbarung, das Recht auf freie Versammlung, das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf freie Nutzung von Eigentum, das Recht der freien Berufswahl, das Recht der freien Meinungsäußerung, das Recht auf freie Religionsausübung und noch viele andere. Die Konklusionen aus den jeweiligen Syllogismen würden dann lauten: „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freies Handeln“; „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf Freizügigkeit“; „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Vereinigung“; „… auf freie Meinungsäußerung“;… auf freie Religionsausübung“ usw.
Man nennt solche Rechte seit langer Zeit „Menschenrechte“. Sie sind alle in dem oben ausgesprochenen Grundsatz als Derivate enthalten. Der Grundsatz ist insofern so etwas wie ein Axiom. Das Axiom mag in keinem Gesetzbuch der Welt aufgeführt sein. Dennoch ist es der Grund für alle Freiheitsrechte, die dem Menschen von Natur aus zustehen. Eine ausdrückliche Zusammenstellung nur einiger Ableitungen aus diesem Axiom ist stets beschränkt und historisch bedingt, bemerkt zurecht der italienische Menschenrechtler Norberto Bobbio. Ein solches Axiom („Leitgesetz“) gab es zu Zeiten Lippmanns noch nicht, was er bedauernd feststellt.
Der Charme eines Axioms ist, dass man sich eine Aufschlüsselung seines Inhalts bis in kleinste Details ersparen kann. So benötigt man für das Naturrecht der Freiheit nur einen einzigen Satz – als Fundamentalsatz für alle Menschenrechte, die lediglich dessen Derivate sind. Kant wäre nicht Kant, wenn er dies nicht bemerkt hätte. So ist in seinen Schriften vom „Menschenrecht“ immer nur im Singular die Rede (Martin Kriele). Dieser Umstand könnte für die amtlich bestallten Menschenrechtler bei der UNO, bei der EU und in einigen Ländern (etwa in Deutschland) Anlass zum Nachdenken sein.
Der Menschenrechts-Grundsatz bezieht die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit offensichtlich auf das Leben jedes Einzelnen. Deshalb auch die Version: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. Diese Version ist auf das Ich bezogen, die Version „Alle …“ auf das Wir. In meinem oben erwähnten Beitrag war herausgestellt worden, dass Ich und Wir auf meta-physischer Ebene eins sind – und um allein diese Ebene geht es beim Naturrecht der Freiheit.
Freiheit und Gleichheit im Widerstreit?
Das „Subjekt der Menschenrechte“ (Jacques Rancière) ist das sich im Eigenerleben selbst habende Ich. Hier finden das Menschenrecht und seine Derivate ihren Grund. Durch nichts als durch die Seinserfahrung des Ich treten sie in die Welt. Die Derivate sind insgesamt durch schlichtes Schlussfolgern aus dem Menschenrechts-Axiom zu eruieren. Sie sind jedenfalls nicht in einem Experiment nachkonstruiert, wie die „fünf Arten von Grundrechten“, die Jürgen Habermas glaubt erfinden zu müssen. Sie sind allesamt durch schlichtes Folgern aus dem Menschenrechts-Axiom zu gewinnen.
Hin und wieder wird die Auffassung vertreten, die beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit schließen einander aus. Dem muss widersprochen werden. Sie schließen sich nur dann aus, wenn man das Menschenrecht „anpasst“. Das geschieht dadurch, dass man den Grundsatz „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“ umwandelt in den Satz „Alle Menschen haben das freie Recht auf gleiche Lebensentfaltung“. Hier steht Recht statt mit Gleichheit mit Freiheit zusammen. Und Gleichheit steht statt mit Recht mit Lebensentfaltung zusammen.
Ein derart manipuliertes „Menschenrecht“ rechtfertigt alles, was einem Ich gerade so einfällt, um es als Forderung gegenüber anderen geltend zu machen. Ein aufgeklärtes Bewusstsein kann solche Umwandlung nur als Verlumpung wahrnehmen. Sie führt in den modernen Gesellschaften zu den merkwürdigsten Auswüchsen. Es erwachsen materielle Ansprüche, die bestimmte Menschengruppen an andere Menschengruppen glauben stellen zu dürfen. Die Umwandlung des Grundsatzes kann jeden irgendwo festgestellten Mangel zum einklagbaren Recht erheben.
Einige historische Anmerkungen zum Menschenrecht
Die drei für das Menschenrecht konstitutiven Begriffe Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit finden sich schon bei John Locke und in der von Thomas Jefferson verfassten Virginia Bill of Rights (Section 1). Die Begriffe sind dort zwar nicht als Menschenrechts-Prinzipien ausgewiesen und waren als solche wohl auch noch nicht erkannt. Aber eine menschengerechte Gesellschaft wurde offenbar damals schon als der soziale Zustand der „gleichen Freiheit aller“ gesehen. Der eigentliche Ideengeber für das Naturrecht der Freiheit ist der Brite John Locke (Norberto Bobbio). Bei Locke liegt die Betonung vor allem auf den Rechtsprinzipien Freiheit und Gleichheit. Das dritte Prinzip – die Allgemeinheit – ist nur indirekt angesprochen. Erst die Gründerväter der USA hatten alle drei Prinzipien explizit als Rechtsbasis benannt.
Einen speziellen Kick erhielt die Trilogie zu jener Zeit, als ein französischer Jesuitenpater den Begriff „Allgemeinheit“ durch „Brüderlichkeit“ ersetzte. Die Erhebung der Brüderlichkeit zum Rechtsprinzip sollte bewirken, dass die Gesellschaft sich fortan als einträchtiges Miteinander verstehe. Diese Ausdeutung erwärmte nicht nur den Franzosen, sondern später auch den Deutschen das Herz. So wurde das Ensemble Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Schlachtruf zweier Revolutionen.
Mein Vorschlag: Wir belassen es bei dem ursprünglichen, eher etwas trockenen, aber entschieden sachgerechteren Begriff „Allgemeinheit“. Schon aus dem folgenreichen Verhältnis der Brüder Kain und Abel ist zu lernen, dass auf die Brüderlichkeit nicht allzu viel Verlass ist. Außerdem: Der Begriff „Allgemeinheit“ lässt sich begründen, und zwar in einer überaus elementaren und nachvollziehbaren Geistesleistung des sich selbst erlebenden Ich.
1 Kommentar. Leave new
Schöner Text. Volle Zustimmung.
Leider sieht dies ein Yuval Harari und das dahinter stehende WEF ganz anders.
Aus deren Sicht gelten alle Menschenrechte und somit die Freiheitsrechte nur für wenige.
Wir werden unsere Rechte wohl wieder robust verteidigen müssen.