Auf dem Plattenspieler: Aerosmith

Künstler: Aerosmith

Song: Dream On – live auf der „Peace Out: The Farewell Tour“, 2023 in Elmont, New York

In der Musikgeschichte gibt es Lieder, die mehr sind als bloße Kompositionen. Sie sind ein Momentum. Und sie fungieren als Marker – nicht nur für Karrieren, sondern mitunter für ganze Generationen. 

„Dream On“ von Aerosmith ist genau ein solcher Song. Und obwohl er 1973 auf dem Debütalbum erschien, also ganz am Anfang der Bandgeschichte stand, wurde er rückblickend zu einem Stück, das die Essenz ihres späteren Erfolgs bereits in sich trug: Sehnsucht, Ambivalenz, Selbstbehauptung – und eine markante Stimme, die bricht und trägt zugleich. 

50 Jahre nach der Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debüts stehen Aerosmith am 9. September 2023 in der UBS Arena in Elmont, New York, ein letztes Mal auf der Bühne. Nach einem halben Jahrhundert (!) beenden sie an diesem Abend ihre Laufbahn – mit dem letzten Konzert ihrer Abschiedstournee, der „Peace Out: The Farewell Tour“. Eine Abschiedstour, die nach nur drei Konzerten wegen Steven Tylers Gesundheitszustand vorzeitig abgebrochen wird. Dieses letzte Konzert am 9. September liegt heute wie ein Schlussakkord über fünf Dekaden Rockgeschichte. 

Im Zentrum: Frontmann Steven Tyler, mittlerweile 75 Jahre alt. Gezeichnet, aber präsent. Die Band performt fast zwei Stunden lang ihre einflussreichsten Songs – und zwar mit einer Energie, als hätte das Altern bei ihnen nie stattgefunden! 

Als schließlich „Dream On“ erklingt, liegt eine beinahe greifbare Erwartung in der Luft – selbst in der bloßen Aufzeichnung des Auftritts. Das Publikum kennt jeden Ton, jede Zeile. Und doch wirkt das Stück an diesem Abend anders: fokussierter, ernster, bewusster. Der ikonische Schrei am Ende – oft zitiert, unzählige Male imitiert, eine Art Rock-Pendant zum Höhepunkt in Whitney Houstons „I Will Always Love You“ – ertönt klar, unverfälscht, ohne technische Hilfsmittel. Es ist ein Moment der Reduktion: keine Inszenierung, kein Playback, kein „Schummeln“. Nur Stimme, Wille, Präsenz.

In der heutigen Zeit, in der Live-Authentizität in der Popmusik zur Seltenheit geworden ist, finde ich diesen Moment umso beeindruckender. Nicht nur, dass Tyler – gemessen an seinem Alter – etwas technisch nahezu Unmögliches leistete, sondern dass er es überhaupt wagte! Für mich wirkt das wie ein bewusst gesetztes, finales Statement gegen das Künstliche, das Austauschbare und Digitalisierte unserer Gegenwart.

„Dream On“ hat zwar dieses energiegeladene Ende, doch ist der Song eigentlich eine Moll-Ballade, geprägt von einem charakteristischen akustischen Gitarrenmotiv. Die Instrumentierung bleibt zu Beginn zurückhaltend, doch im Laufe des Liedes wächst die emotionale Intensität: Nach und nach setzen E-Gitarren und Schlagzeug ein, verdichten den Klang und verleihen dem Song seine dramatische Dynamik.

Besonders eindrucksvoll – dem gleichen Aufbau folgend – empfinde ich aber Tylers Gesang in Verbindung mit dem Songtext: Zunächst fragil, melancholisch und introspektiv, entwickelt er sich im Verlauf zu kraftvoll, motivierend und eindringlich:

Every time that I look in the mirror

All these lines on my face getting clearer

The past is gone

Oh, it went by like dusk to dawn 

Isn’t that the way?

(…)

Oh, sing with me, sing for the year

Sing for the laughter, and sing for the tear

Sing it with me, if it’s just for today

Maybe tomorrow, the good Lord will take you away

Der Song fängt als Ganzes genau diesen Moment ein, in dem nach Rückschlägen – und einer gewissen Zeit der Niedergeschlagenheit – neue Energie entsteht, der innere Antrieb wiederkehrt und man mutig weitermacht. Er trägt eine Botschaft des „Nicht-Aufgebens“, die durch die meisterhafte musikalische Umsetzung eindrucksvoll vermittelt wird.

Dabei wurde „Dream On“ eigentlich nie als besonderes Statement geschrieben. Auch wenn die Nummer – zumindest für mich – immer den Eindruck vermittelt hat, aus der Hochphase einer Band zu stammen, die bereits Stadien füllt und Millionen bewegt, und als das „Fazit“ eines ganzen Jahrzehnts wirkt, war, wie anfangs erwähnt, das Gegenteil der Fall: Tyler hat „Dream On“ lange vor dem Erfolg, mit nur 17 Jahren geschrieben!

Als die Single 1973 erschien, waren Aerosmith noch eine weitgehend unbekannte Band aus Boston – und als Gruppe gerade einmal drei Jahre alt. Steven Tyler, Joe Perry, Tom Hamilton, Joey Kramer und Brad Whitford waren junge Musiker, die sich hauptsächlich von den Rolling Stones und Led Zeppelin inspirieren ließen. Noch ohne eigene Fanbase hatten sie sich zusammengeschlossen, um den ersten Schritt auf dem Weg zu ihrem Traum einer Musikkarriere zu gehen.

Nach ihrem Debütalbum durchliefen Aerosmith eine Rockgeschichte, wie sie viele Bands erleben, die den Durchbruch zum Erfolg schaffen: den steilen Aufstieg, begleitet von exzessivem Lebensstil, die persönlichen Konflikte, gefolgt vom tiefen Bruch – und schließlich dem beeindruckenden Comeback. 

Die 1970er-Jahre waren für die Band geprägt von roher Energie. Mit Songs wie „Sweet Emotion“ und „Walk This Way“, prägten sie maßgeblich die amerikanische Rockkultur und wurden zu echten Symbolfiguren einer ganzen Generation.

Anfang der 1980er-Jahre erlebten Aerosmith zunächst einen deutlichen Einbruch in ihrem kommerziellen Erfolg. Doch schon 1986 folgte die überraschende „Wiedergeburt“: Die Zusammenarbeit mit der legendären Rap-Gruppe Run D.M.C. bei der Neuinterpretation von „Walk This Way“ markierte nicht nur einen stilistischen, sondern auch einen kulturellen Wendepunkt. Aerosmith gewannen ihre Relevanz zurück – diesmal auf neue Weise: reifer, medienbewusster, aber nach wie vor mit ihrer rauen Authentizität. 

Für den Hip-Hop markierte diese Zusammenarbeit einen der ersten großen kommerziellen Durchbrüche – ein Grund, warum Aerosmith bis heute in der Rap-Szene, insbesondere in den USA, großes Ansehen genießen. 

Ihre Werke wurden in der Folge unzählige Male gesampelt – besonders bekannt ist Eminems Track „Sing for the Moment“ aus dem Jahr 2002, der sowohl die Gitarrenmelodie als auch den Refrain von „Dream On“ aufgreift. Über diesen Song bin ich auch zum ersten Mal mit dem Original in Berührung gekommen.

Nach ihrem Comeback in den 1980ern festigten Aerosmith nach und nach ihren Ikonen-Status von heute. Sie veröffentlichten weiterhin Alben, spielten ausgedehnte Tourneen und Steven Tyler zeigte sich immer öfter in neuen Rollen: Er wirkte in verschiedenen Filmen und Serien mit und war von 2011 bis 2012 Juror bei der amerikanischen Originalversion von „American Idol“ – die Band und ihr Frontmann blieben also dauerhaft präsent und facettenreich.

Und trotz dieser langen, intensiven Bandgeschichte blieb „Dream On“ immer ein Sonderfall. Es war vielleicht nie der „lauteste“ Song, nie der kommerziell erfolgreichste – aber dafür der wahrscheinlich ehrlichste, und mitunter der langlebigste. 

Über Generationen hinweg wurde er gehört, besprochen, gecovert, zitiert, gesampelt – und fand so immer neue Wege und Menschen, um noch länger „weiterzuleben“.

Was von Aerosmith bleibt, nach diesen fünf Jahrzehnten, ist deshalb mehr als Musik – es ist ein Vermächtnis, das bereits mehrere Generationen geprägt hat, und vermutlich auch noch weitere prägen wird. Der Song „Dream On“ steht am Anfang – und nun auch am Ende ihrer Geschichte. Kein Manifest, kein Abschiedsbrief – eher ein Kreis, der sich nicht schließt, sondern offen weiterzieht …

Hier die Aufnahme von „Dream On“, auf dem letzten Konzert von Aerosmith, auf Youtube.

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2 Kommentare. Leave new

  • Nordlicht
    27/07/2025 12:28

    Wunderbarer Beitrag, Danke.
    Habe die Band immer eher nebenbei gehört, massenkompatibler US-Rock war nie mein Ding. Aber dieser Song hat es wirklich in sich.

    Antworten
  • Axel Hardt
    04/09/2025 17:28

    Vielen Dank für den schönen Artikel, auch mich hat dieser Song ein Leben lang begleitet. Für mich beschreibt der Text des Liedes perfekt die Essenz des Lebens. Bemerkenswert ist auch ein Video von „Dream on“ zum Geburtstag von Howard Stern mit einem Gastauftritt von Slash.

    https://youtu.be/GilzbcZOcHU

    Antworten

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