Künstler: America
Song: A Horse with No Name, veröffentlicht als Standalone-Single, 1971 Warner Bros.
Die moderne Popmusik, wie wir sie heute mit ihrer breiten medialen Präsenz kennen, begann in den 1950er-Jahren mit dem Aufstieg des Rock ’n’ Roll. Und von diesen frühen Tagen an, prägten vor allem musikalische Gruppen wie Bands und Orchester den Mainstream jeder folgenden Dekade.
In den 2020ern hingegen erreicht diese Entwicklung einen historischen Tiefpunkt: In den Charts dominieren nahezu ausschließlich Solokünstler. Zwar gibt es weiterhin viele musikalische Zusammenarbeiten in Form einzelner Kollaborationen, doch echte Musikgruppen sind kaum noch vertreten.
Eine Analyse des britischen Moderators, Autors und leidenschaftlichen Musikfans Richard Osman zeigt es exemplarisch: In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre führten Bands insgesamt 146 Wochen die Spitze der britischen Charts an, in der ersten Hälfte der 90er waren es 141 … In der ersten Hälfte der 2020er waren es gerade einmal drei Wochen. Verrückt, oder?
Werfen wir also einen Blick auf dieses nahezu prähistorische Relikt der Popmusik: die Welt der Bands. Blicken wir auf ihren stillen Niedergang und ihre verborgenen Diamanten – Songs, die hell genug strahlen, um weiterzuleben, aber tief genug vergraben sind, dass ihre Interpreten kaum noch bekannt sind. All das zeigt sich beispielhaft bei der Folk-Rock-Band America und ihrem Welthit „A Horse with No Name“.
Dieses Werk gehört unumstritten zu den prägendsten Songs der Siebzigerjahre. Seit nunmehr fünf Jahrzehnten hinterlässt das namenlose Pferd seine Spuren in der Popkultur – in Serien, Filmen, Videospielen, Werbungen –, stets mit derselben Wirkung: das Gefühl des Aufbruchs, die Sehnsucht nach Weite und das Erlebnis einer Reise, deren Ziel im Ungewissen liegt. Kaum ein anderes Lied hält diesen Geist so eindringlich und dauerhaft fest.
Sogar Michael Jackson höchstpersönlich hat sich von dem Track inspirieren lassen: Seine Interpretation, „A Place with No Name“, wurde 1998 aufgenommen und erschien im Jahr 2014 als Single seines posthumen Albums „XScape“. Natürlich gibt es aber auch generell unzählige Coverversionen von „A Horse with No Name“.
Doch wer America auf diesen einen Hit reduziert, täuscht sich gewaltig: Die Band veröffentlichte eine ganze Reihe weltbekannter Songs! „Ventura Highway“, „Lonely People“ „Sister Golden Hair“ etwa – alles Titel, die mit Gold- und Platinauszeichnungen geradezu überschüttet wurden.
Sie nahmen mehrere Alben mit dem legendären George Martin auf, dem Produzenten der Beatles, und sie waren relevanter als Gruppen wie die Eagles: Anfang der Siebzigerjahre zählte America tatsächlich zu den größten Bands überhaupt. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemals wieder in Vergessenheit geraten könnte. Was in aller Welt ist also passiert?

Dieses Bild zeigt Dewey Bunnell (links) und Gerry Beckley (rechts) zusammen mit George Martin.
Um das zu verstehen, lohnt ein Blick zurück an den Anfang – amüsanterweise begann die Geschichte von America in England: Dewey Bunnell, Dan Peek und Gerry Beckley waren Kinder von dort stationierten US-Soldaten, schon in der High-School miteinander befreundet (dort wurden sie schlicht „die Amerikaner“ genannt, was später den Bandnamen inspirierte) und formierten sich 1967 zu einer Musikgruppe.
Ihr Traum von einer Musikkarriere wurde rasend schnell wahr: Nach nur drei Jahren, wenigen kleinen Gigs und etwas Radio-Airplay in lokalen Sendern wurden sie durch einen glücklichen Zufall bereits von Warner Bros. entdeckt – und sofort unter Vertrag genommen!
Ihr selbstbetiteltes Debütalbum nahm America überwiegend alleine auf, ohne professionelle Instrumente und nur mit ein paar Sessionmusikern, statt wie üblich mit einem Team in einem großen Tonstudio. Dank ihres riesigen Potenzials genossen sie eine gewisse Sonderstellung bei der Plattenfirma und hatten diese Freiheit. Dennoch bestand Warner Bros. auf eine starke Ohrwurm-Nummer, die der Platte fehlte. Diese sollte als Standalone-Single erscheinen und den Hype um das Album verstärken.
Unter Dewey Bunnells früheren Songskizzen befand sich ein Stück, das eine Melodie enthielt, die die Gruppe für den gewünschten Ohrwurm-Faktor vielversprechend fand. Bunnell wollte darin sein Heimweh nach Arizona, die endlosen Autofahrten, das warme Wüstenlicht, das Freiheitsgefühl seiner Kindheit festhalten, arbeitete die „Skizze“ jedoch nie aus. Der Name dieses Liedes lautete „Desert Song“ … Sie ahnen es schon: Daraus wurde „A Horse with No Name“.
Nachdem die Standalone-Single nach ihrer Veröffentlichung beeindruckende drei Wochen lang die Chartspitze hielt, während das Album kaum Beachtung fand, wurde die Platte erneut veröffentlicht – diesmal mit ihrem Hit, und dem Hinweis: Includes „A Horse with No Name“ … Und plötzlich setzte America Millionen Exemplare ab, und wurde zu einem weltweiten Phänomen! Ein Paradebeispiel dafür, wie entscheidend „die richtige Single“ damals war.
Einige Zeit nach diesem Triumphzug, nach etwa fünf weiteren Jahren im glänzenden Rampenlicht, begann sich eine stille Reihe von Entwicklungen abzuzeichnen …
Als sich Americas Chartplatzierungen ab Mitte der 70er abschwächten, investierte das Label beispielsweise weniger in ihr Marketing. America rückte also sachte aus dem Rampenlicht – kaum wahrnehmbar, aber doch langfristig folgenreicher als jeder offene Konflikt.
Auch ein vielversprechender Neuanfang bei Capitol Records im Jahr 1979 konnte nicht mehr viel ändern. Dann nämlich, befand sich die Musiklandschaft im tiefgreifenden Wandel: Kommerzieller Rock, Disco und später New Wave verschoben die Prioritäten der Branche. Capitol konzentrierte sich zunehmend darauf, die prägenden Künstler dieser Strömungen zu fördern, statt älteren Bands zu neuen Erfolgen zu verhelfen.
Immerhin drängte sich ihnen da sowieso die Frage auf: Wie sollte das überhaupt gelingen? America geriet in eine bizarre Zwischenposition: zu etabliert, um komplett neu erfunden zu werden, aber nicht mehr nah genug am Zeitgeist, um hohe Marketingbudgets zu rechtfertigen.
Interne Unsicherheiten, allen voran der einvernehmliche Ausstieg Dan Peeks, weitere Labelwechsel und eine zunehmend schwächere Medienpräsenz ließen die Band nach und nach aus dem Blickfeld verschwinden – zuerst aus den Charts, dann aus dem öffentlichen Bewusstsein …
Und tatsächlich traf genau dieses Phänomen so einige einstige Erfolgsbands: Bread, Tears for Fears, Men Without Hats, Counting Crows … Sie alle verschwanden nicht durch spektakuläres Scheitern oder große Dramen, wie es viele andere Bands beinahe zum Klischee gemacht haben. Es war die Mischung aus internen Spannungen, strategischen Fehlgriffen und dem rasanten Wandel der Musikindustrie, die sie Stück für Stück aus dem kollektiven Gedächtnis schob.
Die Romantik des gemeinsamen Musizierens hat bis heute nichts von ihrer Magie verloren – doch die Realität erklärt den nahezu vollständigen Niedergang des klassischen Bandmodells …
Musik lässt sich inzwischen vollständig am Computer produzieren; man braucht nicht mehrere Menschen, die verschiedene Instrumente beherrschen. Seit den Boybands um die Jahrtausendwende, die das Prinzip professioneller Songwriter-Teams und austauschbarer Stimmen etablierten, hat sich auch dieses Modell weiter verfestigt: Heute sind weder eigene Songs noch ausgereifte Gesangsfähigkeiten zwingend nötig, technische Mittel glätten jede Schwäche.
Eigentlich braucht es nur noch ein Gesicht – und eines ist nun einmal leichter zu managen als mehrere, mit eigenen Ideen, Egos und Ambitionen.
Americas Weg steht damit sinnbildlich für viele große Bands, deren Glanz verblasste, als das Zeitalter der Einzelkünstler begann. Und so bleibt ihr größter Hit als strahlende Erinnerung zurück, fast wie durch ein Schaufenster in einem Museum – ein Echo jener Ära, in der Bands die Welt regierten.
Tauchen Sie hier ein in das großartige „A Horse with No Name“ von America.




