Auf dem Plattenspieler: Artemas

Künstler: Artemas

Song: i always kinda knew you’d be the death of me – live auf der „You’re Really Early…“-Tour in London, 2024 

Irgendwo in Oxfordshire, England, im Februar des vergangenen Jahres, träumt ein junger Künstler den alten Traum vom großen Durchbruch: Artemas Diamendis.

Was ihn von Millionen anderer unterscheidet, die denselben Traum haben: Für ihn wird er Wirklichkeit. Und zwar rasend schnell. Denn kaum einen Monat später, am 19. März 2024, erscheint sein Track „i like the way you kiss me“ – und katapultiert ihn schlagartig in die höchsten Sphären der Musikbranche!

Mehrere Wochen lang erobert die Nummer in rund 20 Ländern die Hitlisten. In Deutschland hält sie sich beeindruckende 75 Wochen – und gehört damit zu den langlebigsten Titeln der Chartgeschichte.

Doch das ist nur der Anfang: 14 Tage hintereinander ist der Track weltweit der meistgestreamte Song auf Spotify – an einem einzigen Tag erreicht er sagenhafte 65 Millionen Streams. Inzwischen zählt er fast anderthalb Milliarden.

Und das alles, ohne Marketing, Management oder Plattenfirma – Artemas veröffentlichte seinen Hit einfach selbst von zu Hause aus. Ein Erfolg, der sowohl in Zahlen als auch in Sachen Geschwindigkeit schlichtweg überwältigend ist!

Was hat eine solche Begeisterung ausgelöst – bei einem so unbekannten Musiker wie ihm, der bis dahin, wie er später sagte, bei seinen Auftritten in der Regel mehr Freunde mitbrachte, als Zuschauer da waren? 

„i like the way you kiss me“ präsentiert sich zunächst als Paradebeispiel aktueller Musikproduktion: eine stark bearbeitete Stimme, fast schon überzeichnet, kräftiger Bass und ein Sounddesign, das auf maximale Lautstärke und Energie setzt.

Doch wer genauer hinhört, erkennt in dem Stück einen innovativen Mix aus den letzten Musikdekaden: Synthie-Sounds verweisen auf die 80er, die schnelle Rhythmik auf 90er-Eurodance-Tracks, treibende Gitarrenriffs greifen die Emo- und Alternative-Welle der 2000er auf, während moderne Trap- und R&B-Elemente den Song in der Gegenwart verankern.

Genau dieser Ansatz zeigt das Gesamtkonzept von Artemas, das mich wirklich fasziniert: Er nimmt die prägenden Stilmittel der letzten vier Jahrzehnte und übersetzt sie in eine moderne Form – fast so, als würden Künstler, die ich seit Jahren feiere, plötzlich ins Jahr 2024 katapultiert und neue Musik machen!

So weckt der Track „You’re Simply Wonderful“ zum Beispiel bei mir sofort Assoziationen mit Nirvana: Artemas’ Stimme fängt, besonders gegen Ende des Refrains, die für Kurt Cobain typische „raue Textur“ ein, und klingt ihm erstaunlich ähnlich – nur, dass „Cobain“ auch hohe Töne singt … und rappt.

„Dirty Little Secret“ erzeugt mit seinen eingängigen Synth-Wänden und der melancholisch-verspielten Stimmung fast das Gefühl eines modernen Talk Talk-Songs. „Eat Me Alive“ klingt, als hätten Eurythmics, Gigi D’Agostino und XXXTentacion im Jahr 2024 zusammen mit Artemas im Studio gesessen. Und der Refrain von „I Love You Regardless“ hätte genauso gut 2017 von Emo-Rapper Lil Peep eingesungen werden können.

Artemas’ Tracks sind voll von solchen Referenzen.

Der Hintergrund: Im Alter von 16 Jahren stieß Artemas auf „Montage of Heck“ – eine (sehr empfehlenswerte) Dokumentation über Nirvana-Frontmann Kurt Cobain. Für ihn wurde sie zu einem Wendepunkt: Die Leidenschaft für das Singen und Produzieren, die die Doku in ihm entfachte, entwickelte sich schnell vom Hobby zum Mittelpunkt seines Lebens – und Cobain zu seinem größten Vorbild.

Wissensbegierig hat er daraufhin nicht nur die gesamte moderne Musikgeschichte durchdrungen und akribisch analysiert, sondern sich auch intensiv mit den Mechanismen des Geschäfts dahinter beschäftigt: Rechte, Margen, Prozente – das volle Programm. 

So kommt es, dass er sich auch der Fallstricke des Musikgeschäfts sehr bewusst ist: Bis heute steht er, zumindest im klassischen Sinne, bei keiner Plattenfirma unter Vertrag – stattdessen nutzt er vereinzelt Partnerschaften, um Touren zu organisieren, Musikvideos zu produzieren und Ähnliches.

Eines der eindeutigsten musikalischen Alleinstellungsmerkmale von Artemas, ist, dass seine Stimme fast nur verfremdet zu hören ist. Während die meisten Künstler Pitching, also die künstliche Veränderung der Tonhöhe, nur punktuell einsetzen, verwendet Artemas es praktisch permanent – und macht so seine Stimme selbst zu einem Instrument: mal nach oben, mal nach unten gepitcht, oft ergänzt durch eine Vielzahl weiterer Effekte, je nachdem, „was der Song verlangt“. 

Zugegeben: Das ist gewöhnungsbedürftig – auch bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich mich damit anfreunden konnte. Doch gerade aus diesem Aspekt entfaltet sich für mich das wohl Beeindruckendste an seinem künstlerischen Schaffen: Live zeigt sich erst richtig, was Artemas wirklich draufhat! 

Während die meisten Artists versuchen, ihre Songs möglichst nah an der Studioversion zu halten, überarbeitet Artemas fast jeden Track für die Bühne so, dass der Besucher ein völlig neues Erlebnis bekommt. 

Live klingt die musikalische Untermalung, nicht zuletzt durch den Einsatz einer Live-Band, viel lebhafter, zeitloser, musikalischer. Besonders Fans der referenziellen Verweise kommen bei einem Artemas-Konzert also voll auf ihre Kosten.

Die Aufzeichnung seines Konzerts in London, während der treffend benannten „You’re Really Early…“-Tour vom letzten Jahr, war das erste Mal, dass ich dieses Phänomen zu Hören bekam …

Der Opener „i always kinda knew you’d be the death of me“ wird hinter einem weißen Vorhang gespielt; Artemas erscheint nur als Schatten – geheimnisvoll, fast wie in einem Film. Wer bis dahin nur „i like the way you kiss me“ kannte, staunt über seine Gesangseinlagen – während das Bühnenbild die fast mystische Atmosphäre perfekt unterstreicht.

Musikalisch zieht diese Version in den Bann, ihr Flow könnte ewig weiterlaufen. Dabei fiel mir auch erstmals auf, wie Artemas die Botschaft eines Songs auf das Wesentliche reduzieren kann – eine Kunst, die oft schwieriger ist, als drei lange Strophen zu füllen:

And I’m a lucky man

You’re a lovely girl

You’re better than me

And, you can go to hell

Auch die Live-Version von „if you think i’m pretty“ beeindruckt nicht weniger: Zunächst beginnt sie überraschenderweise als langsame Akustik-Ballade, in der Artemas’ Stimme klar und präsent ist. Manche Passagen werden auffällig höher und länger gesungen als im Studio. 

Im Verlauf entwickelt sich der Song dann weiter: Schlagzeug, E-Gitarre und gesteigertes Tempo bringen ihn näher an die Studioversion, wirken dabei aber wie eine dritte Interpretation! 

Und Artemas lässt es obendrauf einfach aussehen: Er hebt während der Performance ein auf die Bühne geworfenes Smartphone für ein kurzes Selfie-Video auf und reicht es dann zurück – eine Kombination aus souveräner Stimmkontrolle und solider Bühnenpräsenz.

Nach nur anderthalb Jahren in der Öffentlichkeit hat Artemas in seinem Alter schon so viel Eigenes, so viel Kreatives und so viele musikalische Referenzen präsentiert – das hat mich wirklich umgehauen. Für mich ist Artemas zweifellos das persönliche musikalische Highlight der aktuellen Dekade – und wohin sein Weg noch führt, bleibt für mich spannend zu verfolgen …

Sehen Sie hier die Live-Version von „i always kinda knew you’d be the death of me“.

Und hier „if you think i’m pretty“ – vor allem gesanglich eine beeindruckende Live-Performance.

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