Künstler: The Beach Boys
Song: Never Learn Not to Love – B-Seite der Single „Bluebirds over the Mountain“, 1968 Capitol Records
Der „Schmetterlingseffekt“ bezeichnet ein faszinierendes Konzept aus der Chaostheorie: Selbst winzigste Veränderungen – so klein wie der Flügelschlag eines Schmetterlings – können enorme Auswirkungen nach sich ziehen.
Der klassische, namensgebende Leitsatz dazu lautet: „Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen.“
Wer mit Blick auf die Vergangenheit in solche Gedankenexperimente eintaucht – in das, was hätte sein können, wenn ein Detail einer bestimmten Situation anders verlaufen wäre –, stößt unweigerlich auf die absurdesten Szenarien …
Ein Beispiel: Eine einzige Abweichung im Lebensweg von Charles Manson, dem berüchtigten Kultführer der „Manson Family“, hätte ihn womöglich nicht zum mörderischen Manipulator, sondern zum gefeierten Popstar der Siebzigerjahre werden lassen.
Ja – so unglaublich es für mich auch klang, als ich zum ersten Mal davon las –, 1968 verbanden sich auf nahezu surreale Weise Harmonie und Wahnsinn, Leichtigkeit und Abgrund, und markierten eines der bizarrsten Kapitel der Musikgeschichte: die musikalische Zusammenarbeit zwischen Charles Manson und den Ikonen des kalifornischen „Feel-Good-Sounds“, den Beach Boys!
Tauchen wir ein: 1967 hatte Manson bereits 17 seiner 32 Jahre – also mehr als die Hälfte seines Lebens – hinter Gittern verbracht. Während seines letzten und zugleich längsten Gefängnisaufenthalts, in dem er fast zehn Jahre am Stück einsaß, las Manson ausgiebig und begann, seine Rolle als „spiritueller Manipulator“ zu bilden. Weniger bekannt heutzutage ist jedoch, dass er in dieser Zeit auch seine Leidenschaft für die Musik entdeckte: Er brachte sich selbst das Gitarrespielen bei und begann zu singen.
Für Manson war das Musizieren kein bloßer Zeitvertreib; er sah sich keineswegs als Hobbymusiker. Als er 1967 aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er nahezu besessen von dem Traum, als Sänger berühmt zu werden. Angeblich trieb ihn allein dieser Wunsch damals nach Kalifornien, in die Hochburg der Hippie-Bewegung – dort witterte er nämlich seine Chance, wichtige Kontakte in der Musikszene zu knüpfen.
Einer der schicksalhaften Momente, den Beach-Boys-Mitglied Dennis Wilson später immer wieder im Geiste des Schmetterlingseffekts hinterfragte – wie sich alles wohl entwickelt hätte, wenn er anders gehandelt hätte –, ereignete sich im April 1968, als er zwei unscheinbare Anhalterinnen auf seinem Heimweg mitnahm …
Die beiden jungen Frauen kamen während der Fahrt mit Wilson ins Gespräch – über Themen wie Spiritualität und Esoterik, für die er ohnehin empfänglich war. Er nahm die Anhalterinnen kurzerhand mit zu sich nach Hause … und wenige Stunden später stand Charles Manson selbst vor Wilsons Tür, er war ihr „Guru“.
Zwischen den beiden Männern entstand sofort eine intensive Sympathie: Wilson ließ Manson und dessen gesamte Anhängerschaft umgehend bei sich wohnen. Seine Begeisterung für Mansons Charisma und die Energie der Gemeinschaft war sogar so groß, dass er zusätzlich sämtliche Kosten übernahm: von Drogen und Alkohol über Arztrechnungen und Lebensmittel bis hin zu Kleidung und Reisekosten; alles ging auf seine Rechnung!
Auch musikalisch war Wilson geradezu hingerissen von dem Kultführer. In einem Interview geriet er regelrecht ins Schwärmen: Manson, so sagte er, habe ein intuitives Gefühl für Musik. Er schreibe seine Songs nicht, er stelle sich einfach vor das Mikrofon und singe frei heraus – und doch ergäben die Texte über Strophen und Refrains hinweg Sinn, gesungen in Melodien, die noch tagelang im Kopf blieben.
Derart fasziniert brachte Wilson ihn in Kontakt mit dem Produzenten Terry Melcher, einem der einflussreichsten Köpfe der kalifornischen Musikszene jener Zeit. Melcher zeigte zunächst Interesse. Mansons rockig-psychedelische Musik passte durchaus in den Sound der späten Sechziger.
Die Zusammenarbeit ging so weit, dass letzten Endes sogar ein gemeinsames Album von den Beach Boys und Manson im Raum stand!
So absurd es heute auch klingt: Für einen Moment schien es tatsächlich so, als könnte aus Charles Manson der nächste große Name der kalifornischen Musikszene werden …
Einer der Songs, die Manson in dieser Zeit aufnahm, war „Cease to Exist“. Das Stück war schlicht, fast meditativ, getragen von einer dunklen Ruhe und einem beinahe beschwörenden Unterton.
Dennis Wilson war so angetan davon, dass er vorschlug, das Lied mit den Beach Boys aufzunehmen; um eine große Hörerschaft zu erreichen. Manson stimmte zu – unter einer klaren Bedingung: Der Song dürfe nicht verändert werden …
Genau das geschah aber: Als die Beach Boys den Track im Studio einspielten, wurde der Text umgeschrieben, die Botschaft geglättet, und der Titel in „Never Learn Not to Love“ geändert. Und: Statt Manson als Songwriter aufzuführen, ließ Wilson sich selbst die Urheberrechte zuschreiben!
Der Song erschien 1968 als B-Seite der Single „Bluebirds over the Mountain“, welche weit hinter den großen Erfolgen der bisherigen Werke der Beach Boys zurückblieb; weshalb selbstredend auch „Never Learn Not to Love“ kein kommerzieller Hit wurde.
Für Manson, der das Ganze erst mitbekam, als die Nummer bereits veröffentlicht war, bedeutete es – in seinen Worten – „die Entweihung seiner heiligen Musik“. Er war noch Jahrzehnte später überzeugt davon, dass der Track in der Original-Version ein Welthit geworden wäre.
Nach der darauf folgenden Auseinandersetzung schmiss Wilson Manson und seine Anhänger aus dem Haus und der Kontakt zwischen den beiden brach endgültig ab. Auch Starproduzent Melcher zog sich zurück und verweigerte jede weitere Zusammenarbeit mit Manson. Für diesen zerplatzte damit der Traum von einer Musikkarriere – und mit diesem Bruch begann auch der dunkle Abstieg …
Rund ein Jahr nach dieser Geschichte ereigneten sich die ersten der berüchtigten Manson-Morde, unter anderem an Schauspielerin Sharon Tate. Und hier schließt sich der Kreis, denn: Das Haus, in dem Tate ermordet wurde, war zuvor die Residenz von Produzent Terry Melcher (Wilson vermutete, dass eigentlich Melcher die Zielperson war, und Manson lediglich nicht wusste, dass dieser kurz zuvor dort ausgezogen war)!
Dennis Wilson, der einst voller Begeisterung die Musik und Gemeinschaft von Manson unterstützt hatte, zog sich im Laufe der Jahre dann zunehmend in Alkohol und Drogen zurück. Freunde berichteten, er sei von Schuldgefühlen und Paranoia geplagt gewesen, von der Frage, ob sein Wohlwollen eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt habe, die zu all den Grausamkeiten Mansons geführt haben …
Künstlerisch blieb er aktiv: 1977 veröffentlichte er sein Soloalbum „Pacific Ocean Blue“ – ein melancholisches, introspektives Werk, das später als Meisterstück gewürdigt wurde. Seelisches Gleichgewicht blieb ihm jedoch verwehrt. 1983 starb Wilson mit 39 Jahren – bei einem tragischen Unfall, unter Alkoholeinfluss im Meer.
Für Charles Manson bedeuteten die Morde im August 1969 den endgültigen Bruch mit der „normalen Welt“. Nach seiner Verhaftung und der Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde aus einem Mann, der zuvor Studioaufnahmen mit einem Mitglied einer der erfolgreichsten Bands seiner Zeit gemacht und Produzentenkontakte gepflegt hatte, das Symbol des Bösen schlechthin.
Der Fall Manson, Wilson und die Beach Boys ist ein eindrucksvolles Beispiel für Gedankenspiele rund um den Schmetterlingseffekt: Ein einziger Moment, eine scheinbare Zufälligkeit – das Mitnehmen zweier Anhalterinnen, ein Song, ein abgesprungener Produzent – veränderte das Leben aller Beteiligten grundlegend.
Vor diesem Hintergrund ist „Never Learn Not to Love“ mehr als nur ein Song: Er ist ein musikalisches Relikt einer Realität, die auch ganz anders hätte verlaufen können. Ein sinnbildlicher winziger Flügelschlag in Kalifornien veränderte die Kultur – und macht deutlich, wie zerbrechlich und zugleich faszinierend Geschichte sein kann …
Hören Sie hier „Never Learn Not to Love“ von den Beach Boys.