Künstler: Chalino Sánchez
Song: Alma Enamorada – veröffentlicht auf dem gleichnamigen Album, 1992 Discos Musart
Wenn Sie an ein Musikgenre denken, das untrennbar mit Unterwelt, Gewalt und Drogen verbunden ist – und in dem die Interpreten erschreckend oft jung und auf unnatürliche Weise sterben – kommt Ihnen vermutlich zunächst Rap-Musik in den Sinn, oder?
Viele der großen Namen sind immerhin fast schon sprichwörtlich: Jam Master Jay, 2 Pac, The Notorious B.I.G. Nach der Jahrtausendwende setzte sich das Muster fort: Proof von D12, Soulja Slim oder Bankroll Fresh. Und bis in die jüngste Zeit reicht die Liste weiter mit Namen wie XXXTentacion, Nipsey Hussle oder King Von.
Es gibt jedoch ein weiteres Genre, das noch wesentlich „mörderischer“ ist – und auf das Sie, wenn Sie es nicht wissen, rein vom Klang her vermutlich auch niemals kämen. Statt donnernder Beats, knallender Bässe und gewaltgeladener Songtexte hören Sie darin nämlich Gitarrenklänge, wehmütige Trompeten und sanfte Melodien … Es ist Musik, die für mich fast nach „ländlicher Nostalgie“ klingt. Und doch: Dieses Genre fordert mehr Opfer unter seinen Stars als jedes andere!
Es sind die sogenannten Narcocorridos – mexikanische Balladen über lokale Probleme, darunter viele, die mit den mexikanischen Kartellen zu tun haben. Und in dieser Welt ist ein Name so bekannt wie kaum ein anderer: Chalino Sánchez – allerdings nicht nur wegen seiner Musik, sondern auch wegen seiner Geschichte …
Einer der bekanntesten Erzählungen zufolge erschoss er mit gerade einmal 15 Jahren den Mann, der seine Schwester vergewaltigen wollte; ein Mitglied des berüchtigten Sinaloa-Kartells. Die Tat zwang ihn zur Flucht in die USA – von wo aus er die „Stimme seiner Leute“ wurde, in dem er in seinen Liedern oft von der Gewalt in Sinaloa sprach.
Diese frühe, intensive Erfahrung mit Leben und Tod machte seine Songs authentisch – seinen Ruhm aber auch gefährlich; er musste stets darum bangen, dass das Kartell ihn tötet – was es auch mehrmals versucht hatte.
Die Szene, die Chalino Sánchez unvergesslich machen sollte, spielte sich am Abend des 15. Mai 1992 in Culiacán, Sinaloa, ab – mitten im Herzen des feindlichen Territoriums sozusagen. Er kam in seine Heimat zurück und stand auf der Bühne des Club Salón Bugambilias, umgeben von Menschen, von denen alle zunächst potenzielle Feinde waren; wenn es auch genau so viele Bewunderer im Publikum gab.
Mitten im Konzert erreicht ihn plötzlich ein Zettel aus der Menschenmenge. Langsam entfaltet er ihn, liest still – und seine Gesichtszüge verhärten sich … Die Kamera fängt die Dramatik ein: das Zittern seiner Hand, den Schweiß auf seiner Stirn, das ungläubige Blinzeln, als er den Blick hebt. Er atmet tief durch … und dann, ohne ein Wort über den Inhalt zu verlieren, steckt er den Zettel weg, greift nach dem Mikrofon und stimmt seinen Hit „Alma Enamorada“ an. Die Menge jubelt, als sei nichts geschehen; das Konzert wird zuendegespielt.
Wenige Stunden nach Sànchez’ Auftritt liegt sein Körper am Straßenrand – zwei Schüsse in den Hinterkopf, die Hände gefesselt, die Augen verbunden. Was auf dem Zettel stand? Sein Todesurteil …
Um zu verstehen, warum dieser Tod so folgerichtig und gleichzeitig so erschütternd wirkt, muss man begreifen, was für eine Rolle Chalino Sánchez und sein Genre im Detail spielten.
Die Corridos, der Ursprung der Musikrichtung, waren traditionelle mexikanische Balladen, die seit dem 19. Jahrhundert Geschichten von Helden, Outlaws und historischen Figuren erzählen. In den 1970er- und 1980er-Jahren wandelten sich das Genre fast gänzlich zu Narcocorridos – Balladen über Drogenbosse, Schmuggler und Kartellgewalt. Sie waren ein musikalisches Spiegelbild dessen, was Mexiko in dieser Zeit immer mehr prägte: der Krieg um Drogenrouten, Machtkämpfe der Kartelle, Korruption und die allgegenwärtige Gewalt.
Viele Künstler, die solche Lieder sangen, standen selbst in Verbindung zur Unterwelt – ob als Freunde, „Auftragssänger“, Chronisten oder Kritiker. Für Außenstehende wirkt das Genre oft eher wie Folklore. Doch wer die Codes versteht, erkennt die Sprengkraft der Lieder: Jeder Name, jeder Ort kann eine Botschaft sein. Jede Strophe kann Loyalität oder Verrat bedeuten.
Anders als Rap, der oft „lediglich“ mit Straßengangs verbunden ist, stehen Narcocorridos eben in direkter Verbindung zu Kartellen. Und in einem Umfeld, in dem Respekt und Schweigen über Leben und Tod entscheiden, ist ein Sänger, der wahre Geschichten öffentlich macht, natürlich grundsätzlich ein Risiko. Deswegen sind viele der Interpreten – nicht nur Sánchez, auch beispielsweise Valentín Elizalde, Sergio Vega, Los Plebes del Rancho – ermordet worden.
Selten wurden diese Morde aufgeklärt – und auch die Nacht von Sánchez’ Tod bleibt voller Rätsel: Nach dem Konzert wurde er von uniformierten Männern dazu angehalten mit ihnen zu kommen; Männer, die sich als lokale Polizisten ausgaben. Augenzeugen dieser Szene sagten, er sei freiwillig mitgegangen – vielleicht weil er glaubte, sie seien tatsächlich staatliche Kräfte, vielleicht hatte es für ihn auch lediglich keinen Sinn mehr, weiterhin zu flüchten; vielleicht hatte er sich schlichtweg mit seinem Schicksal abgefunden …
Die Meisten sind bis heute davon überzeugt, dass es ein Auftragsmord des Kartells war, das ihn seit vielen Jahren schon beseitigen wollte. Wissen werden wir es allerdings vermutlich nie …
„Alma Enamorada“ ist kein klassischer Narcocorrido, sondern eine Ballade, die von Liebe und Leidenschaft handelt. Sánchez singt hier mit rauer, ungeschulter Stimme, die weniger geschliffen klingt als die vieler seiner Kollegen – aber genau deshalb so authentisch wirkt. In der Nacht seines Todes, nach dem Lesen der Mordankündigung, ist es fast, als würde er mit dem Lied noch ein letztes Mal seine Menschlichkeit zeigen – einfach ein Mann, der liebt und fühlt.
Kurz:„Alma Enamorada“ war sein letztes Lebenszeichen. Ein Kontrast zwischen Gewalt und Liebe, zwischen Angst und Melodie.
Chalino Sánchez wurde nur 31 Jahre alt. Doch in dieser Zeit schrieb er ein Kapitel Musikgeschichte, das bis heute nachhallt. Er war kein Popstar im klassischen Sinne, er war ein Sänger für die Unterdrückten; ein Held für die, die im Schatten der Kartelle lebten und unter ihnen zu leiden hatten. Sein Tod war grausam, aber auch konsequent in einer Welt, in der Musik und Blut untrennbar verbunden sind. In seiner Heimat hat er längst Legendenstatus erreicht und wird bis heute für seinen Widerstand gefeiert!
Als ich das Video dieses letzten Auftrittes sah, empfand ich sofort einen unfassbaren Respekt vor Sánchez’ Haltung: Da steht jemand auf der Bühne, der weiß, dass sein Leben in größter Gefahr ist, der sich von mehreren Mordversuchen eines Kartells nicht hat einschüchtern lassen und sogar in „deren“ Stadt kam, der dort dann auch noch diesen Zettel liest – und trotzdem unbeirrt weiter singt; wissend, dass der Tod auf ihn wartet … Es ist ein Bild, das sich einprägt: Musik als letzte Geste von Würde.
Der Spruch „Lieber stehend sterben, als kniend leben“ hat in Chalino Sánchez wahrlich seine Personifikation gefunden!




