Die Richterwahl – Reliquie oder Relikt?

Die Diskussion über die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht wird uns mindestens bis in den Oktober begleiten. Im ersten Anlauf zogen Politiker der Unionsfraktion die „Notbremse“.

An den Professorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Kathrin Kaufhold reiben sich die Bundestagsabgeordneten und die interessierte Öffentlichkeit. Die Gründe dafür können hier und heute zurückstehen. Die Frage stellt sich vielmehr: Ist diese „Richterwahl“, wie sie in Deutschland stattfindet, ein verfassungsrechtlich etabliertes „Heiligtum“, ähnlich einer Reliquie, oder handelt es sich um ein Überbleibsel aus einer eigentlich schon vergangenen Zeit, ein Relikt?

Richter – soweit die Aufzeichnungen reichen

Richter als Institution existieren seit den frühesten organisierten Gesellschaften. In Mesopotamien (ca. 3000 v. Chr.) und im alten Ägypten gab es bereits Personen, die Streitigkeiten schlichteten, oft im Namen von Herrschern oder Göttern. Die „richterliche Macht“ wurde von Königen oder hohen Priestern verliehen. In Athen wurden Richter auch per Los oder Wahl bestimmt. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ernannten der Papst oder Bischöfe die Kirchenrichter, Monarchen und lokale Herrscher die weltlichen Richter.

Mit der Entwicklung von Universitäten begann die juristische Ausbildung. Die angehenden Richter mussten Staatsexamina ablegen, die Machtverleihung von Priestern und Königen wurde abgelöst durch universitären Kompetenzerwerb und anschließende Ernennung.

Gewaltenteilung bedingt Unabhängigkeit

Der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit entstand im Zeitalter der Aufklärung. Die Idee, dass Richter frei von politischer oder wirtschaftlicher Einflussnahme urteilen sollten, wurde durch Denker wie Montesquieu („De l’esprit des lois“, 1748) geprägt, der die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative forderte. Richterliche Unabhängigkeit wurde als Grundpfeiler einer unparteiischen Justiz gesehen, um Willkür durch Monarchen oder Regierungen zu verhindern.

Die Idee der Gewaltenteilung im Staate, die Montesquieu vertrat, griff der Markgraf von Baden auf. Er ließ 1818 die wohl erste Verfassung schreiben, die so etwas wie Grundrechte vorsah und die Grundlagen legte für eine unabhängigere Justiz, indem die rechtsprechende Gewalt an die Gesetze gebunden wurde, was zugleich die Einflussmöglichkeiten der Exekutive und des Regenten deutlich reduzierte. Die Richter wurden vom Großherzog oder durch das Justizministerium ernannt.

„We the People“ – Die Macht geht vom Volke aus

Richter üben stets „abgeleitete“ Macht aus, die ihnen durch einen hoheitlichen Akt übertragen wird. Dabei ist der Ursprung aller Macht das Staatsvolk: In Deutschland regelt Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. 

In Österreich wird das Prinzip der Volkssouveränität in Artikel 1 der Bundesverfassung betont: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihre Gesetze gehen vom Volk aus.“

Die Schweiz betont in den Artikeln 136 ff. die Volksrechte: „Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu (…)“

In der Verfassung der Vereinigten Staaten ist das Prinzip „We the People“ schon ganz an den Anfang des Verfassungstextes geschrieben.

Jede Ernennung hat demokratische Defizite gegenüber einer Wahl durch das Stimmvolk. In dem Grundsatz, dass „alle Macht vom Volke ausgeht“ stimmen die demokratisch verfassten Staaten der Jetztzeit überein. 

Schweiz – Volkswahl eher selten

In der Schweiz können in einigen Kantonen auf kantonaler oder Bezirksebene Richter oder andere Justizbeamte wie Friedensrichter direkt vom Stimmvolk gewählt werden, allerdings ist dies nicht die Regel und betrifft meist niedrigere Ämter, nicht die obersten Gerichte. Friedensrichter, die oft für kleinere Streitigkeiten oder Schlichtungen zuständig sind, werden in manchen Kantonen direkt vom Volk gewählt. Staatsanwälte hingegen werden in der Regel von den Kantonsparlamenten oder Regierungen ernannt, nicht vom Stimmvolk. 

In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Basel-Land und -Stadt, Luzern, Nidwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Thurgau und Zürich können Bürger auf Bezirks- oder Gemeindeebene Friedensrichter wählen, oft durch Volksabstimmungen oder Gemeindeversammlungen. Für höhere Richterämter, wie kantonale Gerichte, bleibt die Wahl Sache der Kantonsparlamente. Staatsanwälte werden in keinem Kanton direkt vom Volk gewählt; ihre Ernennung erfolgt meist durch die Regierung oder das Parlament nach fachlicher Prüfung.

Die obersten Richter im Land in der Schweiz wählt die Bundesversammlung. Die Justizkommissionen von Nationalrat und Ständerat prüfen die Vorschläge und stellen eine Empfehlung für die Wahl durch die Bundesversammlung zusammen.

Österreich monarchisch

Geeignete Kandidaten für Richterämter bei Bezirks- oder Landesgerichten werden von den Personalstellen der Oberlandesgerichte vorgeschlagen, die wiederum aus Richtern und Mitarbeitern der Justizverwaltung zusammengesetzt sind. Obwohl die Auswahl fachlich orientiert ist, können politische Netzwerke eine Rolle spielen, da der Justizminister, ein politisches Amt, die Ernennung beeinflusst.

Der Verfassungsgerichtshof besteht aus 14 Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern, ernannt vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung (für Präsident und Vizepräsident), des Nationalrats (drei Richter) oder des Bundesrats (drei Richter) (Art. 147 B-VG). Voraussetzungen sind ein Jurastudium und zehn Jahre Berufserfahrung.

Die Ernennung des neu bestimmten Richters erfolgt durch den Bundespräsidenten.

USA – Richter- Wahlkampf

Am Supreme Court of the United States ernennt der Präsident die Richter, die vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Die Ernennung ist lebenslang. Parteipolitische Einflüsse sind stark, da Präsident und Senat oft politisch ausgerichtete Kandidaten bevorzugen.

In knapp der Hälfte der Bundesstaaten werden Richter an obersten oder niedrigeren Gerichten direkt vom Volk gewählt, oft mit parteipolitischer Kennzeichnung. In anderen Staaten ernennt der Gouverneur Richter, die in „Retention Elections“ vom Volk bestätigt werden. 

Kritiker wenden ein, dass diese Form von Richterwahlkampf und Richterwahl die Unabhängigkeit der Richter gefährden würde, weil Wahlkampf Geld kostet, das auch von Spendern kommt. Die Gefahr von externen Einflussnahmen ist jedoch auch bei den Abgeordneten gegeben. Dass es nicht am laufenden Band zu Gefälligkeitsurteilen kommt, mag daran liegen, dass Rechtsbeugung unter Strafe steht.

Deutschland – mehr Demokratie wagen?

„Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“ Aus Art. 33 Absatz 2 GG leitet der Staat die sogenannte „Bestenauslese“ ab. Zu den Richterstellen gelangten über Jahrzehnte nur die „Spitzenjuristen“, die Justizministerien der Länder bestimmen die Einstellungskriterien meist nach den Examensnoten.

Trotz eklatanter Personalnot in der Justiz (es fehlten 2018 schon rund 2.000 Richter und die Pensionierungswelle bis 2030 bedeutet, dass etwa 40 Prozent der Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand gehen) hat die Idee sich noch nicht durchgesetzt, auch erfahrene Rechtsanwälte, die die Befähigung zum Richteramt haben, auf ebensolche unbesetzte Stellen zu berufen. 

Bei den Bundesgerichten und dem Bundesverfassungsgericht spielt die Politik bei der Besetzung von Richterstellen eine Rolle. Die im Bundestag vertretenen Parteien, alle außer der AfD, dürfen Richter an das Gericht im Karlsruher Schlossbezirk entsenden. Das Verhältnis der Parteien liegt bei 3-3-1-1, wobei auch die deutlich kleinere SPD, wie die CDU/CSU drei Richter in jeden Senat entsendet. FDP und Grüne entsenden je einen Richter, je Senat.

Vereinfacht gesagt: ein „Richterwahlausschuss“ im Bundestag macht – mit Zweidrittelmehrheit – konkrete personelle Vorschläge die der Bundestag wiederum – ohne Aussprache – ebenso mit Zwei-Dritteln wählt.

Das ging bisher nahezu immer „reibungslos“ und ohne öffentliches Aufsehen. 

Dank der Sturheit von linken Politikern wie Lars Klingbeil und Britta Hasselmann ist eine öffentliche Debatte in Gang gekommen, an deren Ende hoffentlich steht, dass wir Akzeptanz in die Richterwahl und Transparenz der Wahlvorgänge brauchen.

Wir brauchen Richter, die Ihre Aufgabe sehen, Konflikte im Land neutral und unvoreingenommen mit den Werkzeugen ihrer Profession zu bearbeiten und nicht politische Agenden von der Richterbank aus zu betreiben.

Vielleicht sollte man auch bei den Richterwahlen „mehr Demokratie wagen“ und diese zur Wahl stellen, statt sie zu ernennen, immerhin sprechen Sie ihre Urteile „Im Namen des Volkes“.

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