Stellen Sie sich vor, Sie hören das Wort „Ḥāmās“ und denken sofort an Nachrichten aus dem Nahen Osten – Raketen, Konflikte, geopolitische Krisen. Doch hier geht es um etwas ganz anderes: um den hebräischen Begriff ḥāmās (חָמָס) aus der Bibel. Er hat nichts mit der modernen palästinensischen Organisation zu tun, sondern beschreibt ein uraltes Phänomen, das die Welt bis heute prägt.
Ḥāmās ist kein Wort für eine Schlägerei, sondern für systemischen Verfall: Wenn Recht nur noch Fassade ist, Macht sich nimmt, was ihr nicht gehört, und der Schutz des Schwachen zerbricht.
Mit einfachen Worten: Ḥāmās entsteht, wenn starke Hände – Könige, Politiker, Bürokraten – das Maß verlassen und der Übergriff zur Normalität wird. Die Bibel erzählt davon nicht als fromme Randnotiz, sondern als Strukturgeschichte der Menschheit. Sie beschreibt, wie Gesellschaften sich auflösen, wenn Maßstäbe vertauscht und Grenzen verwischt werden. Das beginnt in der Urzeit und reicht bis in unsere Zeit – vorbei an Inflation, Erziehungsmonopol und Lebensschutz. Systemisches Unrecht ist keine Erfindung der Moderne, sondern eine Konstante der gefallenen Welt.
Die Anatomie des kalten Zugriffs
Das Wort ḥāmās begegnet dem Leser der Bibel rund sechzigmal. Wörterbücher übersetzen das Wort mit Gewalt, Unrecht, Raub oder ungerechtem Gewinn. Doch der Befund ist tiefer: Es meint nicht den einzelnen Gewalttäter auf der Straße, sondern eine Kultur, in der die Maßstäbe selbst korrupt geworden sind.
Der Prophet Habakuk beschreibt sie so: „Das Gesetz ist erstarrt, und das Recht kommt nie zum Durchbruch.“
Das hebräische pûg bedeutet wörtlich „erkalten“ – wie ein Motor, der kein Feuer mehr bekommt. Recht existiert, aber es ist gelähmt. Korruption lähmt nicht die Anarchie, sondern die Justiz. So entsteht nicht Chaos, sondern eine manipulative Ordnung – die Maske des Bösen.
Jona verwendet dasselbe Wort, als er die Großstadt Ninive anklagt: „Kehrt um von der Gewalt, die an euren Händen klebt.“
Gewalt, die an den Händen klebt – das ist der Zugriff, der nicht loslässt. Ḥāmās ist also nicht der Faustschlag, sondern die Hand, die festhält, was ihr nicht gehört. Es ist die kalte Hand institutionalisierter Macht. Der Gegensatz ist scharf: Während Schalom Ganzheit und Frieden meint, bezeichnet Ḥāmās die Entgrenzung, den Riss, die Auflösung. Wo Schalom Maß und Ordnung stiftet, macht Ḥāmās das Maß verhandelbar.
Zivilisation ohne Maß
In dieser Spannung steht die Urgeschichte. Die Welt der Kainiten war keine primitive Horde, sondern die erste Zivilisation: Städte, Metall, Musik, Organisation. Doch die Kultur, die in Genesis 4 entsteht, trägt schon das Gift in sich – Fortschritt ohne Maß, Technik ohne Ethik. Der erste Sänger ist auch der erste Polygamist. Der erste Schmied bringt das Schwert hervor. Und Lamech, der Nachkomme Kains, dichtet stolz das erste Rachelied der Welt: Siebenfach soll Kain gerächt werden, siebenundsiebzigfach Lamech. Es ist das Lied der Überheblichkeit – der Beginn sakraler Selbstvergöttlichung.
So führt die Linie ungebrochen zu Genesis 6. Dort heißt es: „Die Söhne Gottes nahmen sich Frauen, welche sie wollten.“
Das ist kein Mythos von Engeln und Mischwesen, sondern eine nüchterne Beschreibung irdischer Herrscher. In der antiken Sprache sind „Söhne Gottes“ Könige, die sich göttliche Autorität anmaßen. Sie nehmen sich, was sie wollen – Frauen, Land, Menschen.
Hier erscheint zum ersten Mal das Muster der Staatsvergötzung: Theokratie ohne Gott. Die Macht erhebt sich selbst zum Maßstab. Die Folge ist Totalverfall – „die Erde war verderbt und voll ḥāmās“. Nicht die Wilden zerstören die Welt, sondern die Zivilisierten, die sich selbst entgrenzen.
Der Notzaun: Das Schwert als Grenze
Nach dem Gericht der Flut zieht Gott eine klare Linie. Genesis 9 formuliert das Schwertmandat: „Wer Menschenblut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden.“
Damit wird Gewalt nicht geheiligt, sondern gebändigt. Das Schwert ist kein Werkzeug zur Weltgestaltung, sondern ein Notzaun, ein Instrument der Reaktion. Der Staat ist hier nicht Schöpfer, sondern Hüter. Leben gehört Gott, nicht der Obrigkeit. Darum darf Macht nur schützen, nie formen. Wird der Zaun zur Angriffswaffe, kehrt ḥāmās zurück.
Diese Ordnung findet im Neuen Testament (Römer 13) ihre Fortführung: Paulus nennt die Obrigkeit „Dienerin Gottes zum Guten“. Er beschreibt kein Herrschaftsrecht, sondern einen Dienst, ein Diakonat. Macht bleibt an Recht gebunden, Recht an Gott. So entsteht die doppelte Grenze: Der Mensch darf nicht Gott spielen, und der Staat darf den Menschen nicht beherrschen.
Die Bibel zeigt, dass ḥāmās kein Zufall, sondern die Folge der Entgrenzung ist. Sie zeigt aber auch, dass eine Gesellschaft überleben kann, wenn sie dem Staat Grenzen setzt. Die Stadt Ninive ist dafür das große Gegenbild. Als Jona (der mit dem Wal) Gericht ankündigt, reagiert der König nicht mit Propaganda, sondern mit Umkehr: „Kehrt um von eurem bösen Weg und der Gewalt, die an euren Händen klebt.“
Die Mächtigen ziehen die Hände zurück. Keine Revolution, sondern Selbstbegrenzung. Calvin nennt das Raubgier: Die Hände, die sonst greifen, sollen leer werden. Frieden entsteht nicht durch Stärke, sondern durch Maß.
Ḥāmās in Nadelstreifen
Jesus greift diese Logik auf, wenn er sagt: „Wie in den Tagen Noahs – sie aßen, sie tranken, sie heirateten, bis die Flut kam.“
Kein Chaos, sondern Normalität. Jesu Worte entlarven die scheinbare Stabilität einer Kultur, die auf Unrecht ruht. Sie feiern das Leben, während der Boden fault. Das ist die moderne Welt im biblischen Spiegel: funktional, wohlgeordnet, aber innerlich leer.
Nach der Flut verschwindet ḥāmās nicht. Es wird gebremst, nicht beseitigt. Gott bindet sich selbst an eine Bewahrungsordnung, den Bund mit Noah (der Regenbogen). Saat und Ernte, Tag und Nacht bleiben bestehen. Das ist kein Freispruch, sondern Langmut – eine Frist zur Umkehr. Gottes Geduld ersetzt nicht das Gericht, sie verschiebt es.
Die Moderne ist nichts anderes als die Wiederkehr der alten Welt in verwalteter Form. Ḥāmās trägt heute Anzug und sitzt in Gremien. Es nennt sich Planung, Schutz, Ordnung, aber die Logik bleibt dieselbe: Zugriff statt Bewahrung. Recht wird politisiert, Familie kollektiviert, Eigentum relativiert, Leben verhandelt. Die Hand klebt wieder.
- Inflation ist ḥāmās in monetärer Gestalt: Sie stiehlt lautlos, was Menschen erarbeitet haben.
- Erziehungsmonopole sind ḥāmās in sozialer Form: Sie rauben Eltern das erste Recht an ihren Kindern.
- Der Totalstaat ist ḥāmās in bürokratischer Form: Er friert das Gesetz ein und verflüssigt das Gewissen.
- Die Kultur des Todes ist ḥāmās in medizinischer Form: Sie nennt das Töten Fortschritt und verwechselt Mitleid mit Macht.
Der gemeinsame Nenner ist immer derselbe: Entgrenzung. Biblisch ist das Maß heilig. „Falsche Waage ist dem Herrn ein Gräuel.“ Wenn das Maß verfälscht wird, wird auch der Mensch verfälscht. Inflation ist Falschmünzerei, nur eleganter. Rechtspositivismus ist Götzendienst, nur nüchterner.

Wiederherstellung statt Revolution
Doch die Bibel endet nicht mit Diagnose. Sie ruft nicht zur Revolution, sondern zur Wiederherstellung. Widerstand im reformatorischen Sinn ist kein Aufstand, sondern Schutz. Das Magdeburger Bekenntnis, Samuel Rutherfords Lex, Rex, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung – sie alle stehen in der Linie von Genesis 9.
Gehorsam gegenüber Gott geht der Unterwerfung unter Menschen voraus. Tyrannei ist kein göttliches Sakrament, sondern eine Perversion des Wächteramtes. Darum kennt die Bibel auch die Pflicht zur Grenzziehung: erst Mahnung, dann Verweigerung, schließlich Schutz durch rechtmäßige Unterautoritäten. Das ist kein Aufruhr, sondern Treue zum Auftrag.
Unsere Zeit braucht keine Zerstörer, sondern Restauratoren. Menschen, die Grenzen wieder als Schutz begreifen, nicht als Hindernis. Freiheit entsteht nicht im Chaos, sondern im Maß. Wo das Maß verloren geht, kommt die Flut zurück – heute vielleicht nicht aus Wasser, aber aus Daten, Schulden, Ideologien.
Noah baute keine Festung, sondern eine Arche. Sie war kein Zeichen der Macht, sondern des Gehorsams. Auch heute rettet nicht Technik, sondern Treue. Der Bund Gottes mit der Welt bleibt: Er schützt, was der Mensch begrenzt. Zwischen Schalom und Ḥāmās entscheidet sich jede Ordnung – damals wie heute.




