Enoch Powell

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Fragt man heute einen Engländer, was er noch über Enoch Powell weiß, wird man bis auf das Zitat „Rivers of Blood“ nicht mehr viel in Erfahrung bringen. Dabei war er einer der wichtigsten und umstrittensten britischen Staatsmänner der zweiten Hälfte des 20. Jhs. – und seine abrupt abgebrochene Karriere ein Menetekel für viele heutige Widerständler. 

Denn die Geschichte liebt keine Warner; erst rückblickend, wenn sich das Unheil erfüllt hat, das sie beschrieben, erinnert man sich an sie und beginnt sogar manchmal, ihnen verschämt das eine oder andere Denkmal zu errichten – aus schlechtem Gewissen, aus historischer Routine oder aus jenem leisen Schauer, den der Gedanke erzeugt: „Er hatte also doch recht.“ 

Enoch Powell gehört zweifellos zu dieser tragischen Kategorie; ein Mann, dessen Schicksal es war, Recht zu behalten und doch – oder gerade daher – geächtet zu werden. Und vertieft man sich heute in die Debatte, die damals, vor einem halben Jahrhundert, ganz Großbritannien zerriß, kann man kaum anders als an unsere heutige Situation zu denken …

Geboren 1912 im hochindustriellen Birmingham, war Powell ein klassisches Produkt seiner Zeit. Er wuchs in einem methodistischen Elternhaus relativ einfacher Herkunft auf – sein Urgroßvater war noch Minenarbeiter gewesen, sein Großvater im Eisenhandel tätig, sein Vater Schuldirektor – und lernte von frühauf, seine enormen geistigen Begabungen pflichtbewußt und gewinnbringend einzusetzen. Mit 25 Jahren wurde er somit der jüngste Universitätsprofessor für Altgriechisch im gesamten Empire (wobei es ihn ärgerte, Nietzsches Rekord – 24 Jahre – nicht geschlagen zu haben) und begann seine Arbeit am Trinity College in Sydney. 

Doch statt sich wie so viele in den sicheren Katakomben akademischer Gelehrsamkeit zu verschanzen oder als „gentleman professor“ ganz den angenehmen Seiten hohen gesellschaftlichen Ranges hinzugeben, meldete sich Powell 1939, nur zwei Jahre nach seiner Berufung und nachdem er sich mit zahlreichen Publikationen (auch in deutscher Sprache) einen internationalen Namen gewonnen hatte, als einfacher Soldat zur British Army. Aus dem einfachen Soldaten wurde rasch ein brillanter Nachrichtendienstoffizier: Innerhalb kürzester Zeit stieg Powell zum Major auf, erlernte zahlreiche Sprachen (darunter neben den üblichen toten Sprachen Urdu, Walisisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Portugiesisch, etc.), und arbeitete als Stabsoffizier in Indien und Nordafrika, wobei er den Krieg als jüngster „Brigadier“ des Empires beschloß.

Nach dem Krieg trat Powell in die Politik ein – als Tory natürlich, obwohl man ihn heute im Rückblick schwerlich einer klassischen politischen Richtung zurechnen kann, war er doch zu klug für die typische Parteienlaufbahn, zu ehrlich für den Apparat der Macht und zu unzeitgemäß für die Moderne der Nachkriegszeit. 1950 wurde er bereits erstmals ins Parlament gewählt. Er sprach zwar selten, aber wenn, dann ganz in der Tradition eines Demosthenes oder Cicero, wie es heute unmöglich wäre und auch damals schon selten zu werden begann. 

1957-1958 wirkte er unter Harold Macmillan als Finanzsekretär im Schatzamt; 1960-1963 reformierte er als Gesundheitsminister den Gesundheitssektor des „NHS“, baute Krankenhäuser, ordnete Finanzen; 1965 wurde er schließlich zum Schattenminister für die Verteidigung und wurde von vielen als künftiger Premierminister und Parteichef gehandelt.

„Like the Roman, I seem to see the River Tiber foaming with much blood“

Der Wendepunkt kam am 20. April 1968 mit einer im Birminghamer „Midland Hotel“ gehaltenen Rede. “I’m going to make a speech at the weekend and it’s going to go up ‚fizz‘ like a rocket; but whereas all rockets fall to the earth, this one is going to stay up.”, kündigte Powell einem Freund im Voraus an; und in der Tat sollten die Folge dieser Rede bis heute spürbar bleiben, wenn sie den Redner selbst auch binnen Stunden für immer aus dem inneren Kreis der Macht verbannen sollten. 

Powell wagte es, explizit und eindringlich vor den sozialen und kulturellen Folgen massenhafter Einwanderung aus dem außereuropäischen Raum zu warnen, insbesondere aus den ehemaligen Kolonien, und seine Parteigenossen für ihre allzu liberale Haltung gegenüber den Gesetzesentwürfen „Labours“ zu kritisieren. In prophetischer Diktion, mit einer Mischung aus klassischer Rhetorik und apokalyptischer Bildsprache, sprach er von den „Rivers of Blood“, die bald durch England fließen würden. Er meinte es nicht unbedingt wörtlich – es handelt sich um ein Zitat aus Vergil (Aen. 6,86-87) –, aber der Effekt war verheerend: Innerhalb von Stunden wurde er von Oppositionsführer Edward Heath aus dem Schattenkabinett entlassen, der gleichzeitig froh war, eine Handhabe gegen den allzu populären Parteikollegen gefunden zu haben. Was blieb, war ein Sturm der Empörung – und eine Welle der Zustimmung im Volk.

In seiner Rede hatte Powell zunächst einen seiner Wähler zitiert, der ihm erklärt hatte, angesichts der gegenwärtigen Migrationspolitik werde er nicht eher ruhen, als bis alle seine drei Kinder einen Beruf außerhalb des Landes gefunden hätten, während eine andere Wählerin sich beklagte, die einzige autochthone Bewohnerin ihres Viertels zu sein und von Migranten regelmäßig beleidigt zu werden. Powell erklärte hierzu:

“Here is a decent, ordinary fellow Englishman, who in broad daylight in my own town says to me, his Member of Parliament, that the country will not be worth living in for his children. I simply do not have the right to shrug my shoulders and think about something else. What he is saying, thousands and hundreds of thousands are saying and thinking—not throughout Great Britain, perhaps, but in the areas that are already undergoing the total transformation to which there is no parallel in a thousand years of English history. 

Those whom the gods wish to destroy, they first make mad. We must be mad, literally mad, as a nation to be permitting the annual inflow of some 50,000 dependents, who are for the most part the material of the future growth of the immigrant descended population. It is like watching a nation busily engaged in heaping up its own funeral pyre. So insane are we that we actually permit unmarried persons to immigrate for the purpose of founding a family with spouses and fiancées whom they have never seen.“

Neben der Masseneinwanderung als solcher kritisierte Powell auch ein neues Anti-Diskriminierungsgesetz, das jegliche reale oder angebliche Ungleichbehandlung von Nicht-Engländern strafbar machte und somit aus dem Rassismus-Vorwurf eine Art Freifahrtschein machte:

“For reasons which they could not comprehend, and in pursuance of a decision by default, on which they were never consulted, they found themselves made strangers in their own country. They found their wives unable to obtain hospital beds in childbirth, their children unable to obtain school places, their homes and neighbourhoods changed beyond recognition, their plans and prospects for the future defeated; at work they found that employers hesitated to apply to the immigrant worker the standards of discipline and competence required of the native-born worker; they began to hear, as time went by, more and more voices which told them that they were now the unwanted. 

On top of this, they now learn that a one-way privilege is to be established by Act of Parliament; a law which cannot, and is not intended to, operate to protect them or redress their grievances, is to be enacted to give the stranger, the disgruntled and the agent provocateur the power to pillory them for their private actions.”

Man muß nicht jedes Wort dieser Rede unterschreiben, um doch zu begreifen, was Powell wirklich meinte, und daß seine Sorge um den langfristigen bürgerlichen Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs und die Folgen einer ungesteuerten Migrationsbewegung ohne echte Integrations- und Assimilationspolitik alles andere als demagogisch war: Was auch immer seine Kritiker über seinen Widerstand gegen das damalige Anti-Diskriminierungsgesetz sagten, ging es ihm nie um „Rasse“, sondern um eine bürgerliche Solidarität; diese ist aber nur dann gegeben, wenn Menschen im Anderen das Eigene erkennen und entsprechend zu Opfern und gemeinsamem Handeln bereit sind. So sagte Powell, der übrigens mit seinen indischen Wählern auf Urdu sprach:

“What I would take ‚racialist‘ to mean is a person who believes in the inherent inferiority of one race of mankind to another, and who acts and speaks in that belief. So the answer to the question of whether I am a racialist is ’no’—unless, perhaps, it is to be a racialist in reverse. I regard many of the peoples in India as being superior in many respects—intellectually, for example, and in other respects—to Europeans.”

In einer Zeit, in der der alte Gedanke des „Empires“ sich aufgelöst hatte, Massen an Menschen aus den verschiedensten Kolonien ins Mutterland strömten und selbst die Liebe zur alten britischen Identität vom „Flower Power“ der frühen multikulturellen Ideologie bedroht wurde, hoffte Powell inständig, zumindest den Nationalstaat als kulturelle und moralische Gemeinschaft erhalten zu können und davor zu bewahren, zu einem zufälligen Verwaltungsgebilde zu werden. Vergebens, wie sich zeigen sollte.

Ein Konservativer gegen die Partei der Konservativen

Von da an wurde Powell ein Außenseiter – mit Massenanhang. Seine weitere Karriere ist ein wahres Lehrstück für die britische Cancel-Kultur, die ihrer Zeit weit voraus war und stark an das erinnert, was gegenwärtig den Rest des Kontinents verheert. Heath, Powells Parteichef, hatte ihn unmittelbar nach Bekanntwerden der Rede entlassen, „because I believed his speech was inflammatory and liable to damage race relations“; die Times sprach von einem “evil speech”; und der damalige Premier-Minister Wilson (Labour) betonte wie seine Parteifreunde bis heute die Priorität der Menschenrechte vor nationalen Identitäten: “We are the party of human rights—the only party of human rights that will be speaking from this platform this month. The struggle against racialism is a worldwide fight. It is the dignity of man for which we are fighting. If what we assert is true for Birmingham, it is true for Bulawayo.” 

Manche Labour-Abgeordnete wagten es sogar, Powell in die Kontinuitätslinie zu Hitler und den Konzentrationslagern zu stellen, wie etwa Tony Benn, der erklärte: “The flag of racialism which has been hoisted in Wolverhampton is beginning to look like the one that fluttered 25 years ago over Dachau and Belsen. If we do not speak up now against the filthy and obscene racialist propaganda … the forces of hatred will mark up their first success and mobilise their first offensive.”

Und doch stand Powell keineswegs alleine da, ließen sich die Menschen durch dieses „Framing“ doch nicht allesamt täuschen. Im Gegenteil: Nicht nur fanden überall im Lande Demonstrationen für (und natürlich auch gegen) Powell statt, allen voran seitens der Dock-Arbeiter, die um ihre Arbeitsplätze fürchteten, sondern auch die Meinungsumfragen zeigten ganz klar die eher konservative Haltung der Briten in der Migrationsfrage. Ende April etwa erklärten einer Gallup-Umfrage zufolge 74 Prozent ihr Einverständnis mit Powells Thesen, während nur 15 Prozent ihnen widersprachen, und es steht zu vermuten, daß auch die meisten Politiker dies so sahen, aber aus Opportunitätsgründen lieber schwiegen, wie Powell selbst vermutete, als er einmal sagte:

“My prospect is that, politicians of all parties will say ‚Well Enoch Powell is right, we don’t say that in public but we know it in private, Enoch Powell is right and it will no doubt develop as he says. But it’s better for us to do nothing now, and let it happen perhaps after our time, than to seize the many poisonous nettles which we would have to seize if we were at this stage going to attempt to avert the outcome.’”

Kein Wunder, daß Powells Reden auch in der Folge Zehntausende anzogen, doch erlebte er bis zum Ende seines Lebens kein wirkliches politisches Comeback, auch wenn der Wahlsieg der Konservativen unter Heath 1970 wohl den Auswirkungen seiner Rede zu verdanken war. Powell wurde, was er als Gesellschaftsmensch und Patriot eigentlich nie sein wollte: ein Symbol des einsamen Widerstands. 

Seine Opposition gegen eine Beteiligung des Vereinigten Königreichs am europäischen Integrationsprozeß tat sein Übriges, ihn ganz als Ewig-Gestrigen erscheinen zu lassen, denn für Powell war Brüssel natürlich das technokratische Grab nationaler Souveränität – und auch hier lag er langfristig richtig, wurde aber wieder ignoriert.

1974 verließ er daher die konservative Partei, die damals (im Gegensatz zu Labour) sehr pro-europäisch eingestellt war, und kandidierte für die Ulster Unionist Party in Nordirland. Man hielt ihn zwar für exzentrisch, schätzte aber seine ideologische Standfestigkeit und seinen Patriotismus mehr als sein bisheriges Parteibuch und unterstützte ihn. Auch in Westminster wurde Powell bis 1987, als er die Politik verließ, eine Stimme der Opposition – und zwar gegen beide „Volksparteien“, wobei die Konservativen – trotz gelegentlicher Anerkennung durch Margret Thatcher – ihm seinen Parteiwechsel nie vergaben.

Danach wurde es ruhiger um Powell, der zwar immer noch ein gelegentlicher Gast politischer Talkshows und Gastautor verschiedenster Zeitungen war, sich aber wieder zunehmend der Wissenschaft zuwandte und, nachdem er in seiner Jugendzeit eher dem Atheismus zuneigte, nunmehr ein immer intensiveres religiöses Leben verbrachte und an Kommentaren zum Neuen Testament arbeitete. 1998 starb er in jenem unbestimmten Moment, da er vielen nur noch die Stimme einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu sein schien, während die Berechtigung seiner Sorgen anfing, auch vielen anderen deutlich zu werden. Begraben wurde er auf einem kleinen Friedhof in Warwickshire, in der Nähe der Kathedrale von Worcester, wo er gerne betete. Er erhielt kein Staatsbegräbnis, und in Westminster wird man vergeblich nach einer Gedenkplakette suchen; dafür begann sein Name, immer häufiger auch von anderen Politikern als positive Referenz zitiert zu werden, bis der Brexit letztlich zeigte, daß sich zumindest kurzfristig die gesamte Nation auch ein halbes Jahrhundert nach seiner berühmten Rede immer noch – oder vielleicht auch mehr denn je – mit seinen Forderungen identifizieren konnte. 

Seine letzten Worte waren, nachdem er sich kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus nach dem Abendessen erkundigte und erfuhr, daß er intravenös ernährt wurde: „I don’t call that much of a lunch.“

Rufer in der Wüste

Enoch Powell war der Archetyp des unbequemen Widerstands: ein Mann, der sich nicht nach Mehrheiten richtete, sondern nach dem, was er als unabdingbare Wahrheit erkannte, und dafür notfalls seine gesamte Karriere opferte. Seine prophetische Gabe lag weniger in der exakten Vorhersage einzelner Ereignisse als in der klaren Erfassung gesellschaftlicher Dynamiken, die andere nicht sehen wollten oder konnten. 

Powell warnte vor den Folgen unkontrollierter Masseneinwanderung, der Entstehung von Parallelgesellschaften, dem Verlust kultureller Kohärenz und der schleichenden Aushöhlung staatlicher Souveränität durch supranationale Institutionen – Themen, die heute virulenter sind denn je. Die Zunahme krimineller Strukturen in städtischen Brennpunkten, die Debatten über Islamisierung und die spürbare Schwächung klassischer nationaler Entscheidungsbefugnisse spiegeln allesamt Entwicklungen wider, die Powell damals noch als Warnung artikulierte, und die ihn zu einem der ersten Opfer der klassischen „Cancel“-Kultur werden ließen.

Heute, angesichts von Spannungen durch Migration, gesellschaftliche Fragmentierung und schwindende demokratische Legitimität, zeigt sich, daß Powells Warnungen nicht ideologische Übertreibungen waren, sondern auf nüchterner Analyse beruhten. Insofern bleibt sein Erbe bis heute relevant: Politik ohne den Mut zum Widerstand gegen zerstörerische Strömungen ist keine Politik, sondern Opportunismus oder Selbstaufgabe. 

Powells Leben lehrt, daß der einsame Ruf des Einzelnen, der die unbequeme Wahrheit aussprach, oft der letzte Anker für die Zukunft einer Gesellschaft sein kann, bevor sich historische Fehlentwicklungen auch in der Realität manifestieren. Wer diesen Widerstand ignoriert, wiederholt die Fehler der Vergangenheit – wer ihn versteht, kann daraus lernen, wie man eine Nation vor sich selbst oder doch zumindest ihren Politikern schützt.

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