Künstler: Frank Sinatra
Song: Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!, veröffentlicht als Standalone-Single, 1950 Columbia Records
Fast jeder große Popkünstler versucht sich im Laufe seiner Karriere an einem Weihnachtssong. Fast keiner schafft es jedoch, mit dieser Nummer in den „Kanon der Weihnachtslieder“ aufgenommen zu werden – in jene kleine Gruppe von Tracks, die jedes Jahr unaufhörlich in öffentlichen Räumen, im Radio, in Filmen, Serien und der Werbung laufen und fortwährend von neuen Künstlern gecovert und gesamplet werden.
Der Versuch ist attraktiv – ein erfolgreiches Weihnachtslied bietet die Chance auf jährlich wiederkehrende mediale Präsenz, regelmäßige Streaming-Einnahmen, ein Image, das zeitlose Emotionalität vermittelt, kurz: Es kann über den Aufstieg oder Fall einer Karriere entscheiden.
Zur Verdeutlichung: Welche Mariah-Carey-Single der letzten zehn Jahre könnten Sie namentlich nennen? Und doch gibt es die eine, die wir alle kennen, und die zuverlässig jedes Jahr wochenlang die Charts dominiert …
Dieser Kanon ist jedoch extrem eng, Weihnachtspop ist ein Feld maximaler Teilnahme, aber minimaler Aufnahme. Paradoxerweise lebt diese Musik nämlich stark von Nostalgie – die meisten Menschen wollen vor allem die Lieder hören, die sie schon als Kinder begleiteten. Ein neues Weihnachtslied steht also zwangsläufig im direkten Widerspruch zu diesem Bedürfnis.
Die „Kanonisierung“ ist daher niemals ein kurzfristiger Erfolg, sondern immer ein langfristiger Prozess: Sie setzt zeitliche Bewährung, mediale Wiederverwertbarkeit, stilistische Anschlussfähigkeit und wiederkehrende Verstärkung durch kontinuierliche Medienpräsenz voraus. Während seit den 1950ern jährlich Hunderte neuer Festlieder im Mainstream erscheinen, haben sich bis heute nur etwa 20 bis 40 Titel (!) dauerhaft etabliert.
Eine prägende Rolle in dieser Disziplin spielte niemand geringerer als Frank Sinatra. Mit dem unscheinbaren „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“ öffnete er 1950 dem Weihnachtspop eine völlig neue Dimension: Es wurde erstmals nicht religiös oder traditionell aufgeladen, das Fest selbst diente lediglich als atmosphärische Kulisse des Liedes – als Rahmen, in dem Gefühle verhandelt wurden, die auch jenseits von Weihnachten funktionieren.
Das Weihnachtsfest wird im Songtext tatsächlich kein einziges Mal erwähnt; auch die Stimmung funktioniert ebenso an jedem anderen Wintertag:
The weather outside is frightful
But that fire is, mmm, delightful
Since we’ve no place to go
Let it snow, let it snow, let it snow
(…)
When we finally say goodnight
How I’ll hate going out in the storm
But if you’ll only hold me tight
All the way home I’ll be warm
Sinatra verschaffte dem Lied seinen Platz im Kanon also sozusagen „durch die Hintertür“, „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“ schlich sich fast schon ein – und setzte tatsächlich genau damit einen Standard, an dem sich nahezu alle späteren Klassiker orientierten!
„Last Christmas“, „All I Want for Christmas Is You“, „Underneath the Tree“ – eigentlich sind moderne „Weihnachtslieder“ keine Weihnachtslieder mehr, es handelt sich meist um Liebeslieder, die durch einzelne musikalische Elemente und Schlagworte in den Weihnachtskontext gesetzt werden.
Zum Vergleich lohnt sich ein Blick auf die „Prä-Sinatra-Zeit“ – darauf, wie Weihnachtspop vor ihm klang … Die Anfänge liegen acht Jahre zuvor, im Jahr 1942: Mit „White Christmas“ legte Bing Crosby damals den Grundstein.
Der legendäre Songwriter Irving Berlin (unter anderem auch bekannt für „God Bless America“) schrieb das Lied in einem zutiefst persönlichen Moment – trauernd um seinen verstorbenen Sohn und voller Sehnsucht nach seiner fernen Heimat Russland –, und verband Verlust und Heimweh mit den nostalgischen Erinnerungen an die friedlichen Weihnachtstage seiner Kindheit.
Die amerikanische Gesellschaft befand sich damals mitten im Zweiten Weltkrieg; der Angriff auf Pearl Harbor lag nur wenige Wochen zurück. In einem kollektiven Zustand aus Verlust, Unsicherheit und Sehnsucht nach Geborgenheit wurde „White Christmas“ also zu einem emotionalen Volltreffer und avancierte schnell zum meistverkauften Song aller Zeiten (bis heute)!
Entscheidend war jedoch seine Signalwirkung: Vor Crosbys Hit galt es noch als riskant, Weihnachten kommerziell zu besetzen. Aus damaliger, unerfahrener Sicht durchaus verständlich: Warum in ein Produkt investieren, das nur wenige Wochen im Jahr relevant ist, statt in eines, das ganzjährig Umsätze verspricht?
Crosbys riesiger Erfolg änderte diese Logik grundlegend. Von da an wurde es üblich, dass Popmusiker jedes Jahr versuchten, einen Hit zu landen, der den klanglichen Zeitgeist widerspiegelt – deutlich anders als die bis dahin vorherrschenden, kirchlich geprägten traditionellen Weihnachtslieder.
In genau dieser Tradition entstand schließlich auch Sinatras „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“. Geschrieben 1945 von Sammy Cahn und Jule Styne, wurde die Nummer zunächst im selben Jahr von US-Sänger Vaughn Monroe eingesungen – erst als „The Voice“, Frank Sinatra, ihr 1950 seine unverwechselbare Stimme lieh, entfaltete sie jedoch ihre volle Wirkung.
Der Track wurde zu einem riesigen Erfolg – und markiert, wie erwähnt, die „zweite Revolutionierung“ der kommerziellen Weihnachtsmusik, in der Weihnachten weniger als Thema denn als atmosphärische Kulisse fungiert.
Interessanterweise hängt das Weihnachtsfest auch direkt mit einem noch bedeutenderen Vermächtnis des ikonischen Sängers zusammen, für das ich ihn wohl am meisten schätze: dem Konzeptalbum.
Vor „The Voice“ bestanden Alben regulär aus losen Tracks, die zuvor einzeln als Singles veröffentlicht worden waren – es waren schlichtweg Ansammlungen von bereits bekannten Songs. Frank Sinatra verstand ab 1955 mit als erster ein Album nicht als eine bloße Sammlung, sondern stimmte alle Tracks bewusst thematisch aufeinander ab – sodass sie eine stimmige dramaturgische Abfolge bildeten.
Die erste Platte dieser Art war „In the Wee Small Hours“, sein siebtes Studioalbum. Es ist ein höchst persönliches Werk, in dem er die Themen verarbeitete, die ihn während einer damaligen persönlichen Krise beschäftigten: Selbstreflexion, Melancholie, verlorene Liebe, gescheiterte Beziehungen, Depressionen und die Schattenseiten des Nachtlebens.

Auch das Cover von „In the Wee Small Hours“ ist ungewöhnlich: Der Film noir Stil erinnert an typische Filmplakate der damaligen Zeit, was dem Album eine cineastische Atmosphäre verleiht.
Gleich das zweite Konzeptalbum war dann Sinatras Weihnachtsplatte „A Jolly Christmas from Frank Sinatra“, das er 1957 veröffentlichte – vermutlich mit dem Ziel, ein neues „Let it Snow! Let it Snow! Let it Snow“ zu landen.
Die zwölf Lieder darauf erzeugen eine stimmige Gesamtatmosphäre, können jedoch auch für sich selbst stehen, und durchdringen thematisch, von religiösen Bezügen über heimelige Wärme bis hin zu romantischer Intimität, die ganze Welt der Weihnachtszeit.
Frank Sinatra war zweifellos eine der umstrittensten Persönlichkeiten seiner Zeit – doch, wie sich allein anhand dieser beiden Beispiele zeigt, als Künstler unbestritten genial.
In „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“ zeigt sich seine außergewöhnlich kreative Ader exemplarisch. Wenn der Song also das nächste Mal im Radio erklingt, lohnt es sich, genau hinzuhören – und darüber nachzusinnen, wie Sinatra hier ein kleines Meisterwerk schuf, das bis heute Maßstäbe setzt …
Hier „Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“ von Frank Sinatra.




