Weihnachten begann einmal am Vorabend des 25. Dezember. Jetzt endet es meist schon wieder an diesem Tag. Schon Wochen und Monate zuvor beginnt die scheinbare Glückseligkeit, trinkt man sich an Glühweinständen die winterliche Dunkelheit schön und frisst sich von Weihnachtsfeier zu Weihnachtsfeier durch Berge von Vanillekipferln. Dabei hatte man gerade erst den Zuckerschock von Halloween überwunden.
Eigentlich ist der Advent eine Fastenzeit. Eine Zeit von Ruhe, Einkehr, Besinnung, die mit der frohen Botschaft von der Geburt Christi am Weihnachtsabend ein Ende findet. Weihnachten war der Startschuss einer Festperiode, die je nach Tradition mindestens zwei Wochen anhielt, in lebensfrohen katholischen Gebieten sogar bis Anfang Februar.
Heutzutage erreicht man das Weihnachtsfest bereits aufgebläht von Lebkuchen und Schokoweihnachtsmännern. Die Fastenzeit, die Leib und Seele reinigt und die Sinne schärft, wurde abgeschafft … oder genauer gesagt umgekehrt. Denn kaum hat sich der Festbraten vom 26. Dezember gesetzt, beginnt bereits die Zielsetzung fürs die Zukunft: neues Jahr, neues Ich. Fitnesscenter verzeichnen gefühlt 50 Prozent ihres Jahresumsatzes in der ersten Januarwoche, wenn alle Welt sich dem weltlichen Fasten, einer Diät der Wahl und der Stählung der Körper verschreibt. Zumindest für eine Woche, bis die Realitäten des Alltags auch diese Vorsätze zunichtemachen.
Eine Umkehr des Festkalenders hat sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet. Und es wäre naiv, das für einen Zufall zu halten. Anstatt vom Fasten gereinigt die Sinne geschärft zu haben, für all die Dinge, die an Weihnachten wirklich zählen, sind die Sinne von wochenlanger Reizüberflutung schon längst abgestumpft. Das mag auch erklären, warum gerade zu Weihnachten in vielen Familien Streit herrscht. Vollgestopft bis an den Rand weiß ein jeder wohl, dass es keinen Raum mehr für „mehr” gibt. Doch wissen wir auch, dass das eigentlich falsch ist. Dass wir nicht so voll und abgestumpft sein sollten.
So berührt uns dann auch das einzelne Licht in der Dunkelheit nicht mehr, das kleine Geschenk. Es muss mehr sein, heller, bunter, fröhlicher, seliger. Selbst wer meint, sich dem Konsum allein schon aufgrund finanzieller Einschränkungen zu entziehen, entkommt nur schwer den Umständen. Jeder Arbeitsplatz, jeder Verein, jede Schule, jeder Klub hat seine eigene Feier. Ab Anfang Dezember erklingen bereits in zahllosen Konzerten alle Weihnachtslieder so lange auf und ab, bis wir sie an Weihnachten selbst nicht mehr hören können. Als gäbe es keine Musik für den Advent. Doch diese Unterscheidung muss sich praktischen Erwägungen beugen.
Der Teufel geht im Lande um
Wie schon erwähnt: Das ist kein Zufall! Zu perfekt, zu perfide ist diese Umkehr all dessen, was einst den vorweihnachtlichen Kalender prägte. An der Oberfläche ist diese Umkehr ein Verdienst der Konsumgesellschaft, deren Bedeutung für das ökonomische Wachstum fast schon sakrosankt ist. Und sicherlich ist es ein in gewisser Weise hausgemachtes Problem der Menschen, wenn man alles, was heilig ist (oder sein sollte), zur wirtschaftlichen Disposition stellt. Wer glaubt, die slippery slope hätte erst mit der Umbenennung von Weihnachtsmärkten zu Wintermärkten begonnen, glaubt auch noch an den Weihnachtsmann (und nicht an das Christkind, wie es korrekterweise der Fall sein sollte).
Doch es ist wohl bekannt, dass die Umkehr aller Dinge, vor allem der wahren, guten und schönen, das Markenzeichen des Teufels ist. Jede christliche (und selbst vorchristliche) Kultur wusste wohl, dass der Teufel vor Weihnachten besonders gerne durch die Lande streift, Zwist und Zwietracht sät und zerstört, was er nur zerstören kann. Es sind nicht umsonst die dunkelsten Tage des Jahres.
Und so gehört ihm die Vorweihnachtszeit in dieser modernen Welt schon längst. Das Fasten ist mitunter ein Mittel, um den Versuchungen des Teufels zu widerstehen (man denke an Jesus in der Wüste). Doch eine Adventszeit, geprägt von Völlerei und Maßlosigkeit, ist für den Fürst der Finsternis ein Triumph.
Und wenn dann noch diese Sündhaftigkeit auf das Weihnachtsfest selbst überschwappt, die Menschen sich am Tag der Geburt unseres Erlösers streiten, weil irgendein irdischer Firlefanz nicht den Ansprüchen der Eitelkeit genügt, dann reibt sich Herr Dicis et non facis zufrieden die Hände. Die Devaluierung der Weihnachtszeit zu einer riesigen Katerstimmung von den Mühen und Sünden des Jahres ist da nur noch die Kür. Fast könnte man meinen, wir machen es ihm nur allzu leicht. Und das tun wir auch.
Erkennt man diesen Prozess als das Teufelswerk, das es ist, wird vieles deutlicher. Auch die Frage danach, warum ausgerechnet Weihnachten so anfällig ist für diese Art der Subversion. Denn auch wenn Schokoosterhasen natürlich ein Schlag ins Gesicht des Wunders der Auferstehung Christi sind, so eignet sich das Osterfest und die vorösterliche Fastenzeit weitaus weniger für die Kommerzialisierung, der Weihnachten anheimgefallen ist.
Während Ostern zunehmend vergessen und nicht gefeiert wird (was schon schlimm genug ist), findet zu Weihnachten stattdessen eine Subversion des Festes statt. Denn das Weihnachtsfest ist geerdeter als Ostern. Es ist das Fest des Ursprungs, der Geburt, Ochs und Esel und pastorale Bilder begleiten ein Himmelskonzert der Engel. Das Alleluja der Auferstehung ist ein Wunder jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Das „Ehre sei Gott in der Höhe” der Engel an Weihnachten ist im Vergleich ungetrübter Jubel, fast schon kindlich in seiner Direktheit.
Eine solche Emotion ist fast wie ein Rausch und muss daher wohl dosiert werden. Nicht umsonst ist das Engelskonzert umgarnt von pastoraler Stille, von der Kargheit der Herbergssuche und nicht zuletzt … der stillen Nacht.
Die Angst vor der Stille
Nur wo Stille ist, kann Jubel hervorbrechen. In Stille wächst die Glut, die sich am Freudentag entzündet. Wer die Glut in sich halten kann, lernt sie zu kontrollieren. Wer es nicht kann, wird von ihr verbrannt.
Fragt man Menschen in der modernen Welt – nicht nur an Weihnachten, wohlgemerkt – so wird Stille und Ruhe häufig als einer der dringlichsten Wünsche genannt. Und doch will sie nur bei den wenigsten einkehren. Teilweise mag das an der Außenwelt liegen, doch auch wir selbst tragen dazu bei. Stille ist Herausforderung. In der Stille drängen sich existenzielle Fragen über unser Dasein auf: Wofür tue ich das alles? Wonach verlangt es mir? Was verdränge ich?
Darum fürchtet die moderne Gegenwartskultur die Stille mehr als jedes Tabu. Es ist nicht so, dass wir vergessen haben, wie man still sein kann. Vielmehr haben wir eine ganze Infrastruktur geschaffen, damit wir es niemals sein müssen. Von „Ambient Relaxation” Playlists, über das Ausfüllen jeder Minute des Arbeitswegs mit einem Podcast, bis hin zum zwanghaften Scrollen durch Newsfeeds ohne wirkliche Nachrichten, die nur die ewig gleichen Ängste in leicht variierten Überschriften schüren.
So sehr dies nach einem Symptom der Moderne klingt, das Prinzip dahinter ist uralt. Schon die Mönche des frühen Christentums kannten dieses Phänomen und hatten auch einen Namen dafür: Akedia. Heutzutage würde man das am ehesten als Depression oder Rastlosigkeit bezeichnen. Zuerst benannt wurde sie vom Wüstenvater Evagrios Pontikos, der sie allerdings nicht als Sünde, sondern als einen Dämon ansah. Die Akedia führt zu einem „Erschlaffen der Seele, die nicht besitzt, was ihrer Natur entspricht”, so Evagrios. Romano Guardini hingegen bezeichnete die Akedia als das „vielleicht schmerzhafteste menschliche Phänomen”.
Der Kampf gegen die Akedia erfordert Präsenz. Wer vor ihr flieht, flüchtet vor den Fragen, die sie uns stellt. Das hat sich seit den Zeiten der Wüstenväter nicht verändert. Was sich aber verändert hat, ist, dass wir unendlich viele Mittel entwickelt haben, diesen Fragen auszuweichen. Das Smartphone ist wohl die ausgeklügeltste Akedia-Verwaltungs-Maschine, die je entwickelt wurde. Man fühlt sich zwecklos? Man scrollt. Sterblich? Man scrollt. Eine Frage, deren Antwort man nicht kennt? Man scrollt, bis der Algorithmus einen vollends sediert hat.
Der Advent, wenn man seinen Regeln folgt, befreit uns. Er erzeugt einen Raum, in dem die Frage nicht länger verdrängt werden kann. Und die Frage lautet immer gleich: Wofür lebt man eigentlich? Nicht wofür man behauptet zu leben oder was man in seiner LinkedIn-Biografie geschrieben hat, nein, sondern wie man tatsächlich seine Tage gestaltet. Die Stille gibt einem nicht zwingend die Antwort auf diese Frage, aber sie schafft den Raum und lässt die Frage unausweichlich werden.
Das ist der Preis der ganzen Sache, denn Stille führt einen nicht in einen friedfertigen Zustand zurück, sondern führt einen ins Innerste seiner selbst. Und manchmal entpuppt sich dieses Innerste als Fremder.

Ein unzumutbares Geschenk
Stille ist ein Geschenk. Aber sie ist auch eine Zumutung. Als Christus mitten in die Stille hineingeboren und Mensch wurde, nahm er diese vielleicht menschlichste Erfahrung der großen Frage auf sich. Doch da er auch Gott war, kannte er seine Bestimmung, mit all den daran verbundenen Schrecken.
Wir Menschen kennen unsere Bestimmung aber nicht und tappen daher verloren in der Stille. Wir fürchten sie. Wir sehnen uns meist mehr nach der Idee der Stille, als nach ihrer Realität. Doch ist es genau diese unbequeme Stille, die uns erst empfänglich macht für das Licht und die Freude der Erlösung. Nur wer der Stille standgehalten hat, kann das weihnachtliche Jauchzen wirklich verspüren. Die Gewissheit, dass Christ geboren wurde, er die Erfahrung der Stille und der Sinnfrage auf sich nahm und sie auf die für uns unzumutbarste Art und Weise beantwortet hat: Mit seinem Opfer für die Sünden anderer.
Alle Jahre wieder fliehen wir vor der Stille. Oder werden zugedröhnt. Doch der Teufel geht auf Nummer sicher, er möchte, dass bis zuletzt jede Stille verzehrt wird. Weil er um ihre Kraft weiß. So sagen wir uns allzu gerne, dass es „nun auch schon zu spät” sei. Doch das stimmt nicht.
Selbst wer am Weihnachtsabend, oder gar am 1. oder 2. Weihnachtstag die Stille in sein Herz lässt, kann einen Hauch jenes Lichts erfahren, das Weihnachten auszeichnet.
„Gut so, nächstes Jahr früher”, spricht Gott zu uns, wohl wissend, dass der Kampf nächstes Jahr von neuem ausgetragen wird. Aber er gibt uns nicht auf. Wir alle sind verlorene Söhne und seine Tür steht immer offen für uns, auch wenn wir das Ziel oft verfehlen.
Die Stille befreit uns. Nicht nur von Lärm, sondern auch von Selbstbetrug. Der einlullende Schleier wird hinfort gerissen und offenbart unsere Seele in all ihrer Nacktheit. Besteht sie im Dunkel der Nacht, erweist sie sich als des Lichtes würdig. Und dann folgt der Lohn: Trost. Und Wahrheit.
Das ist letztlich das Geschenk der Stille.




