Zwischen Mehrheitsmoral und ideologischem Gleichklang gerät das individuelle Gewissen unter Druck. Wie viel geistige Autonomie bleibt in der Demokratie, wenn „unsere Demokratie“ im Kern den mündigen Bürger gar nicht will, sondern Gleichschritt?
Eine Kandidatin für das Verfassungsgericht sieht in der Annahme, dass Menschenwürde überall dort existiere, wo es auch menschliches Leben gebe, einen „biologistisch-naturalistischen“ Fehlschluss. Die Co-Vorsitzende der grünen Jugend phantasiert einen Waffeneinsatz herbei, sollte die AfD bei der nächsten Bundestagswahl siegen. Moderator Augstein: „Gegen den Wählerwillen?“ „Gegen den Faschismus!“, skandiert sie.
Menschliches Leben hat, trotz aller Bekundungen des „Besten Deutschlands aller Zeiten“ nur eine sehr geringe Bedeutung, sobald dieses Leben lästig wird. Ob nun als Ungeimpfter, als vorgeburtliches Kind oder als AfD-Wähler. Die Gummihaftigkeit der Menschenwürde ist immer so elastisch, wie es gerade den Granden des Zeitgeistes passt. Dabei lässt schon die Aussage der Faschismus-Phrase, ebenso wie der leidenschaftslose Positivismus erahnen:
Was hier stattfindet, ist die Ermordung des Gewissens durch die Ideologie. Mal wieder.
Die Auslöschung der inneren Stimme
Gewissen ist das Gegenteil von Ideologie. Ideologie zielt auf die Masse ab. Das ist angenehm. Denn mit der Ideologie erstickt das Gewissen, erstickt die eigene innere Stimme. Ob nun das Schicksal von Ungeborenen oder das Schicksal mündiger Wähler im Vordergrund steht. Im Übrigen gilt das auch für das rechte Lager, wenn es um Migranten als Masse und nicht als Individuen geht. Die Perzeption des Gegners als amorpher Mob ohne Menschlichkeit war und ist eine der gefährlichsten Kniffe der Politik.
In der jüngeren Vergangenheit hat Carl Schmitts Freund-Feind-Schema an Bedeutung gewonnen; medial wie in den intellektuellen Zirkeln wird es von beiden politischen Lagern bemüht, häufig auch, um dem Gegner Entmenschlichung zu unterstellen. Die Renaissance des Freund-Feind-Modells ist aber – zum Ersten – gar keine Renaissance. Es wurde bereits von den 1968ern und auch der RAF gezielt verwendet. Die Ermordung von Polizisten war legitim, schließlich dienten sie dem Schweinesystem ebenso wie kapitalistische Ausbeuter. Die allgegenwärtige Bedrohung „unserer Demokratie“ macht die jüngere bundesrepublikanische Geschichte vergessen, in der tatsächlich terroristische Gruppen versuchten, den Staat zu stürzen.
Der Vorwurf als Waffe
Dass ihre zumindest in der Methode der Entmenschlichung agierenden Erben allerdings weniger auf der rechten, als auf der linken Seite stehen, machen eben jene Erben bewusst vergessen, da Entmenschlichung nur von einer Seite (nämlich der gegnerischen) ausgehen darf. Entwürdigung und Entmenschlichung ist der entwaffnende Hauptvorwurf, um sich jedes Werkzeugs zu bedienen. Dass die verfemte Methode dabei selbst zum Einsatz kommt, muss durch den lauten Ruf „Haltet den Dieb“ verdeckt werden.
Um den Wert der Freiheit und Menschenwürde in einer Demokratie festzustellen, muss daher überprüft werden, wie es der Minderheit in der „pluralistischen Gesellschaft“ geht. Mit Minderheit – und hier liegt der nächste Schwindel verborgen – haben die Methodisten der Entmenschlichung es geschafft, sie auf rein sexuelle, religiöse, kulturelle oder ethnische Minderheiten einzukreisen. Das war aber im politischen Sinne nie die Minderheit. Eine politische Minderheit ist die, die am wenigsten in der Politik vertreten ist. Das sind vornehmlich die oppositionellen Kräfte.
Tocqueville und die Tyrannei der Mehrheit
Der französische Staatsmann Alexis de Tocqueville, der heute für das Mantra der „Tyrannei der Mehrheit“ berühmt ist, hat nämlich bereits vor 150 Jahren attestiert, was das eigentliche Problem der Demokratie ist. In seinem Hauptwerk, der „Demokratie in Amerika“, schreibt er:
„Erfährt in den Vereinigten Staaten eine Person oder eine Partei eine Ungerechtigkeit, an wen soll sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Gerade sie bildet die Mehrheit. An die gesetzgebende Gewalt? Sie repräsentiert die Mehrheit und gehorcht ihr blind. An die ausführende Gewalt? Sie wird von der Mehrheit ernannt und ist deren gehorsames Werkzeug. An das Militär? Das Militär ist lediglich die bewaffnete Mehrheit. An die Geschworenen? Das Geschworenenkollegium ist die Mehrheit mit dem Recht, Urteile zu fällen (…). Wie ungerecht und unvernünftig die Maßnahme auch ist, die uns trifft, wir müssen uns ihr also fügen.“
Tocqueville zeigt hier gleich mehrere Probleme der Demokratie auf, und alle davon sind für den gegenwärtigen Stand der Bundesrepublik von Belang. Beginnen wir mit der letzten Einsicht: Mehrheit ist nicht Wahrheit. Ein Mehrheitsentschluss sagt nichts darüber aus, ob eine Sache richtig oder falsch ist. Wenn der Bundestag morgen beschließt, Abtreibungen bis kurz vor der Geburt zu erlauben, mag das demokratisch legitimiert sein. Ob diese Entscheidung aber tatsächlich die beste Entscheidung ist, bleibt eine andere Frage.
Demokratische Moral als erstarrte Orthodoxie
Was Tocqueville damit andeutet, geht aber noch tiefer: Nicht nur in Amerika, sondern auch darüber hinaus hat sich eine „demokratische Moral“ gebildet. Was im Parlament beschlossen wird, das ist unumstößlich und in Stein gemeißelt, und wer diesen Fortschritt kritisiert oder beklagt, ist ein Feind des Fortschritts oder des Volkes selbst. Tocqueville hat exakt das bereits vorhergesehen, weil der „demokratische Wille“ die Mitbürger dazu bringt, zu schweigen. Im Mittelalter und Frühneuzeit war der Aufstand gegen „schlechte Gesetze“ nicht ungewöhnlich. Das demokratische Werkzeug war nicht der Stimmzettel, sondern die Mistgabel.
In den Demokratien mag er vor dem Beschluss durch Proteste, Petitionen, gar Streik vorkommen. Es ist aber insbesondere in Deutschland zur ehernen Regel geworden, dass einmal beschlossene Gesetze nicht zurückgenommen werden. Während in Italien neue Regierungen immer wieder die Beschlüsse der Vorgänger revidieren, wird in Deutschland eine alte Verordnung nicht angetastet.
Protest ohne Wirkung
Markantestes Beispiel ist das unpopuläre Heizungsgesetz. CDU/CSU müssen nicht nur auf den Koalitionspartner Rücksicht nehmen (obwohl die SPD gegen den grünen Entwurf durchaus Vorbehalte hatte). Es gehört zur Staatsraison, solche Gesetze vielleicht zu modifizieren, sie aber eben nicht gänzlich abzuschaffen. Wer sich noch an die Genese des Heizungsgesetzes erinnern kann, weiß, dass es damals Massenkundgebungen und Massenproteste gab, und eben nicht nur im notorisch unruhigen Osten, sondern auch in Bayern mit Schwerpunkt Erding.
Leider zeigt die Geschichte dieses Gesetzes auch, wie wenig Eindruck der Protest auf der Straße mittlerweile auf Politik und Medien macht. Da wurde eine beliebte Kabarettistin als rechtsextrem gebrandmarkt, die Anhänger diffamiert und die Zahl kleingeredet. Ähnliches war nicht nur in der Corona-Zeit zu beobachten, sondern auch bei den Bauernprotesten. Dieselben Journalisten, die Grüppchen von Klimaklebern hochschrieben und Klimaprotesten von wenigen hunderten Leuten zum nationalen Thema machten, bemühten sich, die Großdemonstrationen zu Stürmen im Wasserglas zu deklarieren, die man nicht ernstzunehmen hätte. Aber kaum, dass der staatsloyale Karnevalszug der „Wir sind mehr“-Kundgebungen durch Deutschlands Städte zog, da handelte es sich wieder um „Zeichen“ und „Volksstimmen“, eben, weil die richtigen NGOs sie organisierten.
Die wahre Aufgabe der Presse
Journalisten, die sich aber auf die Seite der politischen Mehrheit stellen, sind deswegen im Kern nichts wert. Die Aufgabe der Presse ist es, der Minderheit eine Stimme zu geben. Denn gemäß Tocqueville geht die einzelne Stimme unter, wenn die Mehrheit regiert. Nur die Presse kann ein Gegengewicht bilden. Deshalb sind Medien wie Tichys Einblick, NIUS, die Achse des Guten, die Junge Freiheit, Apollo News, der Sandwirt und viele mehr (ich möchte hier keine Sympathien verteilen, bitte Nachsicht von denen, die hier nicht stehen) nicht eine „alternative Presse“. Sie sind auch nur bedingt „neue Medien“.
Sie sind im Tocqueville’schen Sinne lediglich das: Die Presse.
Die politische Minderheit, das sind nicht nur Mitglieder der AfD. Das sind Männer wie ein Familienvater aus Franken, der von der Polizei wachgeklingelt wird, weil er im Internet ein Meme geteilt hat. Das sind Frauen, die unter den Transgenderzeitgeist kommen, und im Boxring von einem biologischen Mann verprügelt werden. Das sind Kinder, die in der Schule gehänselt wurden, weil sie nicht geimpft werden wollten. Die Beispiele ließen sich erweitern. Aber schon allein deswegen gibt es eben nicht nur ein AfD-Milieu, sondern eine breite Gegenöffentlichkeit, die sich seit langer Zeit formiert hat.
Dass ein Bundespräsident in der Migrationskrise die wahnwitzige Idee hatte, Deutschland in „hell“ und „dunkel“ zu teilen, hat das Volk nicht so sehr an einer geografischen Grenze, denn im Geiste unversöhnlich geschieden. Die Politik der Mehrheitler hat sich auch in den letzten Jahren nie versöhnlich gegenüber den „schwarzen Schafen“ gezeigt; ja, selbst die Kirchen hatten mehr Sorge darum, dass sie den Stall verunreinigen könnten, als mit ihnen auf Augenhöhe zu reden. Das alles wird möglich, weil man dem Gegner Entmenschlichung unterstellt, die man aber selbst betreibt – nichts anderes ist es doch, wenn man eine Hell-Dunkel-Teilung vornimmt, derer sich Politik und Medien in den letzten Jahren bedient haben, wenn auch mit anderen Wortschablonen. Würde man die Kritik an der AfD wirklich ernst meinen, müsste man die hohen Standards selbst erfüllen.
Der entleerte Hassbegriff als neue rote Fibel
Stattdessen versucht das Mehrheitsmilieu die Aussagen noch zu übertrumpfen, um der ungeliebten Meinung eine nicht mehr satisfaktionsfähige Deutung zu unterlegen. Zeitgenössisch ist das Wort „Hass“ so mit hohler Leerheit aufgepumpt, dass kaum noch jemand weiß, was es bedeutet. Sicher ist nur noch, dass es eine schlechte Sache ist, und wer hasst, der gehört gehasst; dabei müsste dieses Paradoxon selbst einem Philosophieschüler der 11. Klasse auffallen. In diesem Kontext würdigte eine linksradikale Aktivistin – die sich irrtümlicherweise für eine Komikerin hält – in der Corona-Krise diesen „ungewollten“ Teil der Gesellschaft sogar zum Blinddarm herab.
Ausgangspunkt ist dieselbe ideologische Aufladung, die früher die Inhaber einer roten Fibel verinnerlicht hatten. Sie mussten gar nicht auf ihr Gewissen oder ihre eigenen Gedanken hören, denn die rote Masse marschierte, man marschierte mit, und wer aus der Reihe marschierte, war Reaktionär. Der Einheitsgedanke ist die Krankheit des 20. Jahrhunderts, und das 21. Jahrhundert hat ihn nicht abgelegt, sondern lediglich transformiert. Gewissen ist aber keine Emotion, keine Intuition, und erst recht ist es kein „Herz“, wie man es im Hollywoodklischee erlebt; es darf auch nicht damit verwechselt werden, bloß gegen den Strom zu schwimmen, weil andere das Gegenteil tun.
Der Verlust des Gewissens
Gewissen kann geprüft und gewogen werden. Das ist herausfordernder, als die eigenen leeren Parolen abzuspulen. Es bedeutet in erster Linie sich und sein eigenes Tun zu hinterfragen. Zu schauen, ob nicht die Gegenseite auch einen Punkt hat. Überlegen, ob der Gegenüber nur ein Roboter ist oder psychisch gestört – oder ob nicht jedes Individuum das Recht darauf hat, seine eigenen Fehler zu begehen. Deshalb haben die Gründerväter dieser Republik entschieden, dass Abgeordnete nach ihrem Gewissen entscheiden sollen – weil diese Väter am eigenen Leib erfahren haben, was eine Gesellschaft bedeutet, in der nach Norm, nach Ideologie, nach Vormund, nach Führung und nach Masse entschieden wird. Und nicht nach Individuum.
Dass in der Realität die Fraktionen, und damit die Parteien entscheiden, wie dieses Gewissen des Abgeordneten auszuschauen haben, und auch hier ihre Identität zugunsten des Apparats aufgeben, ist nur ein letztes Bruchstück in einem trüben Bild.




