Auf dem Plattenspieler: Lead Belly

Künstler: Lead Belly

Song: In the Pines, aufgenommen für die Library of Congress, um 1944

Als Kurt Cobain im Herbst 1993 „Where Did You Sleep Last Night“ bei Nirvanas legendärem MTV-Unplugged-Konzert performt, lässt er das Publikum in eine fast hypnotische Melancholie eintauchen, die jeden Atemzug zu verlangsamen scheint … 

Und dann entfacht, wie ein unvorhergesehener Sturm, nach knapp vier Minuten ein roher Gefühlsausbruch, der Stimme und Emotion an ihre äußersten Grenzen treibt:

My girl, my girl, don′t lie to me

Tell me, where did you sleep last night?

In the pines, in the pines

Where the sun don’t ever shine

I would shiver the whole night through

Grandios. Doch eigentlich nur ein Kapitel einer weitaus größeren Geschichte … Eine Geschichte, die schon viele Jahrzehnte zuvor durch die Musiklandschaft geisterte. Ihre eindringlichste Gestalt nahm sie in den 1940er-Jahren an, in der Stimme und den Händen jenes Musikers, den Cobain als ursprünglichen Interpreten nannte: des Blues- und Folksängers Lead Belly.

Die düstere, unterschwellig bedrohliche Atmosphäre von „Where Did You Sleep Tonight“ entspringt direkt Lead Bellys „In the Pines“. Im Gegensatz zu Nirvanas Interpretation bricht sie jedoch nie aus – sie bleibt durchgehend ruhig. Geisterhaft ruhig. Das Knistern der alten Aufnahme verstärkt die mystische Atmosphäre noch einmal erheblich.

Auch der Songtext zeichnet ein unheilvolles Bild: eine verschollene Frau, ein dichter Wald und der Kopf eines Mannes, dessen Leiche niemals gefunden wurde … Doch all das bleibt vage und rätselhaft; der Zusammenhang wird nie eindeutig benannt. 

Gerade diese Leerstelle ist genial: Der Hörer wird förmlich gezwungen, eigene Vorstellungen, Ängste und Empfindungen hineinzuprojizieren. Geht es um Verrat und Betrügen? Handelt es sich um die Geschichte eines tragischen Verbrechens? Wer ist überhaupt der Erzähler? Wie ist dieser Song entstanden?

Lead Belly war ein Mann, dessen Leben wie die Lieder, die er sang, aus Splittern zusammengesetzt war. Geboren 1888 in Louisiana, wuchs Huddie Ledbetter, wie er bürgerlich hieß, in einer rauen Welt auf, die früh geprägt war von harter körperlicher Arbeit, Armut und Gewalt. 

Schon als Jugendlicher geriet er mit dem Gesetz in Konflikt, später wurde er zu mehreren Haftstrafen und der Arbeit in einer Chaingang, einer Sträflingskolonne in Ketten, verurteilt, und alles deutete lange darauf hin, dass er dem Teufelskreis der Kriminalität niemals entkommen würde.

Inmitten dieser dunklen Jahre entdeckte Ledbetter jedoch schließlich seine musikalische Begabung. Und was zunächst nur ein persönlicher Ausdruck war, wurde bald zu einem unerwarteten Werkzeug für ihn, mit dem Leben selbst zu verhandeln …

Das wohl eindrücklichste Beispiel: Ein Lied über Gnade, direkt an den damaligen texanischen Gouverneur Pat Morris Neff gerichtet, soll diesen so sehr beeindruckt haben, dass er Ledbetter vorzeitig aus der Haft entließ. Später konnte er durch sein musikalisches Talent sogar einen zweiten Gouverneur von seiner Freilassung überzeugen (man stelle sich das einmal heute vor!).

Dieser zweite Fall ereignete sich, als die berühmten Folkloristen John und Alan Lomax Mitte der 1930er Ledbetter im Gefängnis entdeckten. Sie reisten gerade umher, auf der Suche nach Musikern, die alte Volkslieder kannten und festhalten konnten, und nahmen so einige Stücke von Ledbetter auf. Anschließend traten sie öffentlich für ihn ein, und erreichten eben jene Freilassung. Genau dann wurde Ledbetter zu Lead Belly – und seine einzigartige musikalische Reise begann …

Lead Bellys Werk basierte auf den nordamerikanischen Volksliedern, mit denen er aufgewachsen war – Melodien, die bis dahin meistens nur mündlich weitergegeben worden waren, die sonst womöglich verloren gegangen wären (weshalb auch die Lomax-Brüder so interessiert an ihm waren). Indem er die Werke festhielt, konservierte er diese Traditionen für die Nachwelt.

Später erwuchs daraus etwas noch Größeres – etwas, das Lead Belly selbst leider nicht mehr erleben sollte: Er wurde zum „Katalysator“, der jene alten Volkslieder in die moderne Pop- und Rockwelt übertrug. Und die Größenordnung, in der das stattfand, klingt beinahe unglaublich.  

„House of the Rising Sun“ von The Animals? Ein Cover des gleichnamigen Lead Belly-Songs – ursprünglich ein amerikanisches Volkslied. „Rock Island Line“ von Lonnie Donegan, Schlüsselmoment der britischen Skiffle-Bewegung, die junge Musiker wie John Lennon und Paul McCartney nachhaltig prägte – ebenfalls ein Stück, das schon viele Jahre existierte und erstmals von Lead Belly festgehalten wurde.

Das bekannte Nirvana-Cover von „Where Did You Sleep Last Night“ aus den 1990ern zeigt nur die Spitze des Eisbergs – Lead Bellys Einfluss reichte über viele Jahrzehnte, prägte Generationen von Künstlern und bildete die Grundbausteine ganzer Genres!

Einen kommerziellen Erfolg, wie wir ihn heute verstehen, erzielte Lead Belly jedoch zeitlebens nie. In den 1940er-Jahren funktionierte die Verbreitung von Musik schlichtweg anders als heute: Musiker erwirtschafteten ihr Geld größtenteils über Auftritte und die meisten ihrer Stücke erschienen nicht als Singles oder Alben, sondern wurden im Rahmen von Archivreihen und ethnologischen Dokumentationen festgehalten. Die Aufnahme von Songs diente also vor allem der Bewahrung, nicht dem Verkauf.

So verhielt es sich auch bei Lead Bellys Werken, etwa den zahlreichen Versionen von „In the Pines“. Die bekannteste entstand um 1944 für die Library of Congress, der Nationalbibliothek der USA – doch es gab weder eine offizielle Veröffentlichung noch kommerziellen Vertrieb.

„In the Pines“ selbst ist übrigens kein typischer „Lead Belly-Fall“: er war weder der erste noch der einzige, der sich des Liedes annahm. Ursprünglich ein nordamerikanisches Volkslied mit selbigem Titel, verschmolz es um 1900 mit einem weiteren namens „The Longest Train“ und wurde ab den 1930er-Jahren unzählige Male neu interpretiert.

Country-Künstler wie Bill Monroe und die Louvin Brothers verzichteten beispielsweise völlig auf den düsteren Unterton, konzentrierten sich stattdessen auf den Herzschmerz der Nummer und machten sie zu einem Trennungslied.

Lead Bellys Version hingegen holte das schattenhafte Element wieder stärker den je hervor – und prägte es so eindringlich, dass sie zur „entscheidenden Version“ wurde. Sein beinahe geheimnisvoller Ansatz wurde zum Vorbild für den Großteil aller späteren Interpretationen. Deshalb nennen viele, darunter auch Cobain, Lead Belly als ursprünglichen Interpreten.

In Lead Bellys Klangwelt reichen sich Vergangenheit und Gegenwart die Hand. Seine Lieder tragen die Traditionen, aus denen sie stammen, hinaus in immer neue Welten. Was er bewahrte, veränderte sich, wuchs weiter, fand neue Formen und neue Stimmen. Und genau darin zeigt sich, wie sich Geschichte fortschreibt – im Weitergeben, im Wandel, im immer neuen Aufbruch.

Erstaunlich, wie weit Musik reichen kann. Und noch erstaunlicher, wie weit ein Mann aus den einfachsten Verhältnissen reichen konnte …

Hören Sie hier das großartige „In the Pines“ von Lead Belly.

Und hier das nicht weniger beeindruckende Cover, „Where Did You Sleep Last Night“ von Nirvana, bei MTV Unplugged.

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