Er ist nach einer Art politischem Elfmeterschießen endlich zum Kanzler gewählt – und man selbst, ein deutscher Rentner, der ja, wie man weiß, neben Klima, Inflation, Wirtschaft und Währung das größte Problem unserer Gesellschaft ist, schwankt zwischen der Auffassung der Wahl als Tragödie oder als Komödie.
Panik hat die politische Klasse ergriffen; ohne auch nur eine kurze Pause ihrer Herrschaft schien es, als drohe alles den Bach hinunterzugehen und Deutschland – als doch Zentrum des Universums – unregiert und unregierbar im Mahlstrom der Geschichte zu verschwinden.
Dass vor Jahren die mehr als einjährige Unmöglichkeit, im benachbarten belgischen Königreich eine Regierung zu bilden, zu einer bemerkenswerten Blüte von Wirtschaft und Gesellschaft geführt hat, das wagt man hierzulande nicht einmal zu denken.
Nun fliegt der Friedrich nach Warschau und Paris – zu Freunden, die man als „Willige“ oder „Halbwillige“ bezeichnen könnte und die ebensowenig fest im Sattel sitzen wie Herr Starmer auf seiner sturmumtosten Insel, dem der Farage in einem neuen Rosenkrieg das Wasser in der Themse abgräbt.
Nur Frau Meloni verspricht noch Stabilität – ein Tort für das hiesige Selbstverständnis, denn doch seit dem frühen Mittelalter waren ja die Italiener eher für Ärger und Verspätungen bekannt. Sic transit gloria mundi, würde der Lateiner sagen.
Aber „unsere Demokratie“ hat gesiegt – und gebetsmühlenartig werden die Mitglieder derselben, neuerdings auch die Linke unter Reichinnek, aufgezählt, damit jeder weiß, wer gesichert mutmaßlich nicht mitspielen darf. Die Radikalisierung des rechten Spektrums ist eigentlich eine self-fulfilling prophecy. So ist für die Alice der Fritz ein Lügner, der möglichst schnell verschwinden sollte.
Man ist vermutlich auf der Rutsche nach unten, das Arschleder beginnt langsam zu glimmen – und was dem Beobachter am meisten auffällt, ist Selbstgerechtigkeit, Egozentrik und Selbstbezogenheit. Wäre ja alles kein Problem, wenn da nicht der Donald und der Wladimir wären.
Als Angehöriger der aussterbenden gebildeten Klassen greift man da zu Schiller – und ich erlaube mir, ein längeres Zitat aus seinen Ästhetischen Briefen (5. Brief) zu zitieren:
„Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist gefallen, die Willkür ist entlarvt, und obgleich noch mit Macht bewaffnet, erschleicht sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indolenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmenmehrheit fordert er die Wiederherstellung in seine unverlierbaren Rechte. (Das dürfte momentan noch eher eine Minderheit betreffen.) Aber er fordert sie nicht bloß; jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht (So ist es!).
In seinen Thaten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt!
In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe, gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wuth zu ihrer thierischen Befriedigung eilen. Es mag also sein, daß die objektive Menschheit Ursache gehabt hätte, sich über den Staat zu beklagen; die subjektive muß seine Anstalten ehren. Darf man ihn tadeln, daß er die Würde der menschlichen Natur aus den Augen setzte, so lange es noch galt, ihre Existenz zu vertheidigen? … Seine Auflösung enthält seine Rechtfertigung. Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück.
Auf der andern Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher alte oder neue Philosoph die Bemerkung machte, daß das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere sei; aber man wird sie auch im Moralischen wahr finden. Aus dem Natursohne wird, wenn er ausschweift, ein Rasender; aus dem Zögling der Kunst ein Nichtswürdiger. Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestigt … Mitten im Schooße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urtheil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen; nur unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte.
Nur in einer völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt man gegen ihre Verirrungen Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfniß; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“
Da gibt es wenig hinzuzufügen – oder?