Künstler: Mobb Deep
Song: Shook Ones, Pt. II, veröffentlicht auf dem Album The Infamous, 1995 Loud Records
Sampling, also das Entnehmen kurzer Ausschnitte aus bestehenden Songs, um sie in neuen Werken zu verwenden, ist längst schon genreübergreifend üblich geworden. Dennoch wird es oftmals noch immer kritisch betrachtet.
Allzu häufig geschieht es nämlich oberflächlich, indem Gesangs- oder Beat-Elemente alter Hits übernommen werden, ohne dass etwas nennenswert Eigenes entsteht. Das neue Werk lebt schlichtweg vom Nostalgiefaktor und dem Glanz des Originals. Es ist fast schon covern.
Ein anderer, weitaus kreativerer Ansatz zeigt jedoch, wie faszinierend diese Kunstform eigentlich sein kann: Schon wenige Sekunden eines Liedes, unscheinbar und ursprünglich kaum im Zentrum, lassen sich zu völlig überraschenden, neuen musikalischen Strukturen formen!
Das Sample wird dabei so stark bearbeitet, dass das Original manchmal gar nicht mehr erkennbar ist – und genau diese völlige Verwandlung verleiht dem Ergebnis nicht nur eine eigene Identität, sondern macht den gesamten Prozess auch künstlerisch so faszinierend.
Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Beat eines der einflussreichsten Rap-Songs der 1990er: „Shook Ones, Pt. II“ von dem legendären Hip-Hop-Duo Mobb Deep. Er ist sogar so kunstvoll zusammengesetzt, dass seine Entstehung über Jahre hinweg ein echtes Mysterium blieb …
Man halte sich das vor Augen: Der Beat prägte nachhaltig den Eastcoast-Sound, wurde weltweit zigfach in Rap-Battles eingesetzt, von zahlreichen Künstlern aufgegriffen und erreichte 2002 schließlich ein noch breiteres Publikum, als er in mehreren Schlüsselszenen von Eminems Film „8 Mile“ platziert wurde – doch niemand konnte rekonstruieren, wie genau sich dieser legendäre Sound zusammensetzt! Erst rund eine Dekade später entschlüsselten Fans in Online-Sampling-Foren das Rätsel.
Dass ausgerechnet ein Gangster-Rap-Klassiker als Paradebeispiel kreativen Tiefgangs gilt, mag überraschen – schließlich wird dieses Subgenre oft ähnlich kritisch betrachtet wie das Sampling selbst. Doch Mobb Deep, damals noch zwei Jugendliche aus dem Brennpunkt Queensbridge in New York, verfügten über weit mehr künstlerische Sensibilität, als man es vermuten würde …
Prodigy, eine Hälfte des Duos, hatte die Musikalität buchstäblich im Blut: Sein Großvater war der ikonische Jazz-Saxofonist Budd Johnson, dessen Werk ab den Sechzigerjahren die Entwicklung des Swing und der Big Band-Stilistik entscheidend prägte. 1993 wurde Johnson aufgrund seines großen Einflusses sogar in die Big Band and Jazz Hall of Fame aufgenommen.
Die andere Hälfte, Havoc, stammte zwar nicht aus einer Musikerfamilie, entwickelte aber durch akribisches „Crate Digging“ (das gezielte Durchstöbern alter Plattenkisten nach kurzen Stellen, die sich als Samples eignen) einen breiten musikalischen Horizont sowie ein außergewöhnliches musikalisches Gespür.
Als Produzent bei Mobb Deep sampelte Havoc nicht nur unscheinbare Passagen, sondern kombinierte häufig mehrere Fragmente aus verschiedenen Stücken zu einem neuen Ganzen – und genau darin liegt auch das Geheimnis von „Shook Ones, Pt. II“.
Die Rhythmik des Liedes basiert auf einem Drum-Motiv aus „Dirty Feet“ der Daly-Wilson Big Band, einer australischen Band der Siebziger. Havoc entnahm nur eine Sekunde des Intros, verlangsamte sie, senkte die Tonhöhe und filterte den Sound, sodass ein düsterer, pochender Rhythmus entstand – fast wie ein nervöser Herzschlag.
Der markante, fast geisterhafte hohe Ton, der den „Herzschlag“ ergänzt, und die Akzente in „Shook Ones, Pt. II“ setzt, stammt aus einer kurzen Stelle in „Kitty with the Bent Frame“ vom legendären Quincy Jones – und trägt eine persönliche Bedeutung: Prodigys Großvater Budd Johnson spielte häufig in Jones’ Big Band – unter anderem auf „$“, jenem Album, aus dem Havoc das Fragment entnahm. Für Außenstehende unsichtbar, fließt so also sogar ein Stück Familiengeschichte in den Track ein.
Hinzu kommt ein drittes Sample: ein einzelner Klavierton aus dem Stück „Jessica“ des ikonischen Jazzmusikers Herbie Hancock. Havoc streckte und verlangsamte ihn, und verwandelte den hellen Jazzton damit in einen kühlen, melancholischen.
Dieselbe Stelle sampelte er schließlich noch ein zweites Mal – noch kürzer, noch tiefer und noch langsamer –, sodass beide Spuren nebeneinander diese ungleichmäßig schnelle, aber doch stimmige Leitmelodie ergaben.
Das wars: zusammen mit einer schlichten Basslinie formen diese wenigen Elemente bereits den gesamten Beat.
Zur Veranschaulichung sehen Sie hier die einzelnen Tonspuren: Oben der kurze Ausschnitt aus „Dirty Feet“, in der Mitte das Fragment von „Kitty with the Bent Frame“ und unten die beiden Samples aus „Jessica“.
Die Genialität von „Shook Ones, Pt. II“ liegt jedoch nicht nur im kreativen Sampling und radikalen Minimalismus, sondern vor allem darin, wie diese unterschwellige Unruhe, die der Beat auslöst, den Kern des Songtexts widerspiegelt. „Shook Ones, Pt. II“ ist nämlich weit mehr als typischer Battle- oder Gangster-Rap …
Der Song misst sich zwar klassisch mit einem fiktiven Gegenüber, doch es geht dabei nicht um Status und Prestige, sondern um eine Art psychologische Vermessung: Wer besitzt innere Stärke – und wer ist insgeheim ein „Shook One“, der sie nur vortäuscht?
‚Cause ain’t no such thing as halfway crooks!
In der Welt, aus der Prodigy und Havoc erzählen, ist die Unterscheidung zwischen Freund und Feind überlebenswichtig. Wer bestehen will, lernt, Menschen in Sekundenschnelle zu lesen – an Blicken, Atem, Haltung und Reaktionen in der Stille. Wer nur spielt, verrät sich in diesen winzigen Bruchstellen:
I can see it inside your face
You′re in the wrong place
Gleichzeitig zeigt der Text auf bedrückende Weise, wie dieses ständige Beobachten und Abwägen jeder Bewegung und jedes Wortes, verbunden mit den moralisch fragwürdigen Taten, die man parallel begeht, die Psyche unaufhörlich zermürbt:
I′m only nineteen but my mind is old
And when the things get for real my warm heart turns cold
…
Sometimes I wonder, do I deserve to live?
Or am I going to burn in hell for all the things I did?
Grandios! Kein Wunder also, dass nicht nur das ausgefallene Sampling Anklang fand, sondern Mobb Deep mit „Shook Ones, Pt. II“ und dem zugehörigen Album „The Infamous“ auch zu Ikonen des Eastcoast-Rap aufstiegen. Bis heute gelten Mobb Deep in der Rap-Welt als die Referenz für Authentizität und markante, atmosphärische Produktion.
Tragischerweise kämpfte Prodigy nach der harten Zeit in Queensbridge bereits in jungen Jahren mit Sichelzellenanämie – einer chronischen Erkrankung, die ihn sein restliches Leben über immer wieder stark einschränkte. Am 20. Juni 2017 starb Prodigy während eines Krankenhausaufenthalts in Las Vegas schließlich auch an den Folgen eines durch die Krankheit ausgelösten Anfalls – mit nur 42 Jahren.
Havoc veröffentlichte nach dem Tod seines Rap-Partners zahlreiche Solo-Projekte und pflegt weiterhin den düsteren, minimalistischen Sound, den er mit Mobb Deep geprägt hat. Als Mentor hinter den Kulissen beeinflusst er zudem auch aktiv die nächste Generation von Rappern aus Queens.
Als Mobb Deep machten die beiden gemeinsam vor, dass man sich trotz widriger Umstände behaupten kann – und, dass es unter keinen Umständen eine Schwäche ist, ein gutes Herz zu haben, solange man es wachsam bewahrt. Ihr Vermächtnis beweist, dass Stärke, Integrität und Kreativität selbst unter den härtesten Bedingungen bestehen – und, wenn man sich traut, zu handeln, letztlich das Werkzeug selbst sein können, um eine andere Lebensrealität zu erschaffen …
Hier das herausragende Instrumental des Tracks.
Und hier hören Sie das Endprodukt: „Shook Ones, Pt. II“ von Mobb Deep.




