Wenn es um die Themen Selbstverteidigung und Notwehr geht, erlebt man alle Variationen der menschlichen Standpunkte: von „ich diskutiere mit einem Angreifer und zeige Verständnis für seine Situation“ über „wenn mir einer komisch kommt, kriegt er aufs Maul“ bis hin zu „lieber von zwölf verurteilt als von sechs getragen“ – und alle haben aus ihrer jeweiligen Sicht Recht.
Und aus allen Aussagen kann man entnehmen, dass die Kenntnisse des Notwehrrechts oft nur rudimentär vorhanden sind. Für mich erschreckend, denn schon Kinder und Jugendliche können mit Gewalt konfrontiert werden und sich durch Unwissen oder Rohheit das Leben in unserer Gesellschaft sehr erschweren. Um es freundlich auszudrücken. Das gilt auch für Erwachsene …
Wer mit dem Angreifer diskutieren möchte, kommt besser nicht in die Situation, wo dieser in einem Park auf kleine Kinder einsticht. Wer anderen aufs Maul hauen möchte, könnte nach seiner Verurteilung erkennen, dass sein Handeln dumm war. Und wer lieber von zwölf Geschworenen verurteilt werden möchte, dem sei gesagt, dass wir in Deutschland keine Geschworenengerichte haben, dafür aber Richter und Staatsanwälte, die ihm aus solchen Äußerungen einen Vorsatz konstruieren. Dann hat er seine Verurteilung, die, mit etwas Sachkenntnis seinerseits, ein Freispruch und ein freies Leben mit seiner Familie hätte sein können.
Das klingt dramatisch, ist es meistens nicht, manchmal leider doch. Auf dem Spiel steht bei der Notwehr unser aller Wohl und das unserer Lieben. Dazu trägt unser sehr gutes Notwehrrecht bei. Ja, Sie haben richtig gelesen, Deutschland hat ein sehr gutes Notwehrrecht und das sogar im internationalen Vergleich.
Im Notwehrrecht gilt die Grundsatzformel „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“ (auch Rechtsbewährungsprinzip genannt). Im Englischen heißt das „stand your ground“. Die Hälfte der US-Bundesstaaten hat das übrigens nicht. Selbst ein Texaner schaut ungläubig, wenn er erfährt, dass nicht nur in Lebensgefahr, sondern schon bei Gewalt gegen Eigentum tödliche Gewalt angewendet werden darf. Und die Österreicher und die Schweizer überlegen mitten in der Selbstverteidigung, ob sie dem Angreifer auch nicht unverhältnismäßig weh tun.
Die Paragraphen
Doch der Reihe nach: Notwehr hat in Deutschland als Grundlage §32 StGB, §15 OWiG und §227 BGB. Uns interessiert hier die Notwehr im Rahmen der Selbstverteidigung unter Anwendung des §32 StGB und nicht, ob ich in Notwehr die laute Musik des Nachbarn abstellen darf.
§32 StGB:
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Bei der Notwehr handelt es sich um diejenige Verteidigungshandlung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Auch hier gilt wieder: Es zählt jedes einzelne Wort und ich empfehle den Wiki Artikel zur Notwehr als Einstieg in das Thema (ja, Wikipedia!). Hochwertige Quellen zu allen Aussagen gibt es dort zuhauf. Alternativ bieten sich auch tausende Seiten juristischer Kommentare, Fachartikel oder ein einschlägiges Fachstudium (Jura, Strafrecht) an. Viel Erfolg! …
Wann ist es denn nun Notwehr?
Eine Vielzahl von Punkten sind zu beachten:
- Eine Notwehrlage wird durch einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ein rechtlich geschütztes Individualrechtsgut begründet, also: Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Eigentum. Ohne Angriff also keine Notwehr.
- Der Angriff muss gegenwärtig sein, also unmittelbar bevorstehen, gerade stattfinden oder andauern. Alles andere fällt dann in den Bereich Selbstjustiz beziehungsweise Gewaltkriminalität. Große Vorsicht hier! Ein Diebstahl ist übrigens solange gegenwärtig, bis der Täter einen gefestigten Gewahrsam am Tatobjekt erlangt hat. Oft wird das pauschal mit dem Verlassen des Grundstückes gleichgesetzt. Nicht jedoch, wenn ich ihm in fünf Metern Abstand hinterherlaufe.
- Der Angriff muss rechtswidrig sein. „Hey, du Depp, komm her, dann hau ich dir aufs Maul“ provoziert einen Angriff und ist keine Notwehr. Das Gericht wird es dann ausführlich und verständlich erklären. Notwehrprovokation ist allerdings hochkomplex, denn mein Gegenüber hätte sich nicht provozieren lassen oder mich angreifen müssen. Ich kann mich des Weiteren auch nur schlecht auf Notwehr berufen, wenn ein Hoheitsträger (Polizei etc.) mich im Rahmen einer hoheitlichen Diensthandlung körperlich angeht.
- Die Notwehrhandlung selbst kann als Schutzwehr oder als Trutzwehr ausgeübt werden. Bei ersterem beschränkt sich der Angegriffene auf die Abwehr des Angriffs. Bei letzterem geht er darüber hinaus aktiv gegen den Angreifer vor. Etwa einem Einbrecher die Tür vor der Nase zuschließen versus ihn wegstoßen.
- Die Notwehrhandlung muss erforderlich sein. Es ist das mildeste und gleichzeitig effektivste Mittel zu wählen, um den Angriff abzuwenden. Wichtig hierbei: In Deutschland muss bei der Abwehr keine Verhältnismäßigkeit herrschen! Das wird sogar von Juristen häufig falsch dargestellt. Das mildeste Mittel kann eine tödliche Abwehr gegen eine Serie von Faustschlägen sein. Es kann aber auch die Bitte sein, die Straße freizumachen, wenn ich mit einem medizinischen Notfall in eine Blockade fahre und nicht das Überfahren des Blockierers, weil mein Notfall gerade in Lebensgefahr ist. Wäre vielleicht verhältnismäßig.
Was keinesfalls sein darf, ist ein extremes Missverhältnis bei der Wahl der Abwehrmittel. Hier kommt das berühmte Beispiel, dass man den Kirschendieb nicht aus dem Kirschbaum schießen darf. Gesunder Menschenverstand kann durchaus hilfreich sein …
- Ein unter Juristen umstrittener Bereich ist die Gebotenheit der Notwehrhandlung. Musste man auf den Angreifer losgehen? Hätte man ausweichen können? Den Schlag nur abwehren? Es sind berechtigte Fragen, die klar mit dem Grundsatz „Recht braucht Unrecht nicht weichen“ kollidieren und vor Gericht dennoch gerne gestellt werden.
- Wichtig und stets zu beachten ist, dass Notwehr bei einem Kind, einem Geisteskranken oder einem Volltrunkenen praktisch nicht zieht. Es sind sogenannte erkennbar schuldlos Handelnde. Wie mit international (Schweden) verstärkt auftretenden Kindern als gedungenen Mördern (wegen Straffreiheit) umzugehen ist, werden unsere Gerichte noch herausfinden müssen. Der Gesetzgeber auch.
Besonderheiten der Notwehr sind die Putativnotwehr und der Notwehrexzess. Die Putativnotwehr beschreibt eine vermeintliche Notwehrlage, wo der Verteidiger irrtümlich von einem Angriff ausgeht und sich wehrt. Da kein Vorsatz vorliegt (§16 StGB) kann der Verteidiger höchstens wegen Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden. Der Notwehrexzess (§33 StGB) gesteht dem Verteidiger die Überschreitung der Grenzen der Notwehr aus Gründen der Verwirrung, der Furcht oder des Schreckens zu. Dies gilt also offensichtlich nicht, wenn man jemanden mit seiner Abwehr zu Boden bringt, danach auf dessen Kopf herumtrampelt und grinsend ein Selfie postet. Oder bei der Aussage gegenüber der Polizei detailliert damit angibt, wie man den wehrlosen Angreifer noch vollends fertig gemacht hat. Soll es schon gegeben haben.
Jeder Fall ist unterschiedlich
Nach all den aufgezählten Punkten, wird hoffentlich klar, dass es recht komplex sein kann, einen Notwehrfall festzustellen. Ein Wort bei der Zeugenaussage, ein Detail beim Tatablauf oder am Tatort können darüber entscheiden, ob es sich um Notwehr handelt oder nicht. Pauschale Aussagen sind daher meistens falsch. Im Notwehrfall geht es maximal um Sekunden, um Bruchteile davon, Staatsanwaltschaft und Gerichte nehmen sich allerdings Monate Zeit zur Bewertung.
Hausbesitzer erschlägt Einbrecher mit Beil. Ist das Notwehr? Er behauptet, jener sei mit einem Messer auf ihn losgegangen. Findet sich ein Messer am Tatort? Gibt es denn Fingerabdrücke des Einbrechers auf dem Messer oder wurde es ihm untergeschoben? Ein fiktiver Fall, doch man sieht, es kommt auf jedes Detail an …
Ein tatsächlicher Fall war, als ein Jäger einen Einbrecher erschoss. Notwehr? Er erschoss ihn von hinten … Notwehr? Der Einbrecher hatte einen Geldbeutel mit 700 € gestohlen, also weit über der (gesetzlich nicht geregelten) Geringwertigkeitsgrenze von 50-200 €. Notwehr? Es wäre Notwehr gewesen, wenn der Jäger das gewusst hätte. Wusste er aber nicht und sagte es unmittelbar nach der Tat so der Polizei …
Ein Rocker kam mit Notwehr durch, als er einen SEK-Beamten durch seine Haustür erschoss. Es gibt wirklich nichts, was es nicht gibt.
Es kann durchaus von Vorteil sein, wenn in der heutigen Zeit bei allen möglichen Ereignissen Kameras laufen. So hat man Beweismittel, die die eigene Notwehrhandlung im richtigen Licht darstellen.
Der Notwehrfall ist eingetreten. Was nun?
Im Fall der Fälle gibt es einige wichtige Punkte zu beachten, doch Ruhe bewahren wäre schon mal ein guter Anfang. Des Weiteren:
- Sicherstellen, dass es keine weiteren Angriffe des Täters oder von weiteren Tätern gibt. Also auch Waffen oder Gegenstände außerhalb seiner Reichweite deponieren (wegkicken). Vorsicht beim Anfassen wegen Fingerabdrücken und DNA!
- Polizei rufen und am Tatort bleiben.
- Zeugen bitten, vor Ort zu bleiben.
- Gegebenenfalls erste Hilfe leisten.
- Der Polizei Personalien angeben, nur das Nötigste sagen („ich wurde angegriffen und habe mich in Notwehr verteidigt”) und ansonsten vom Aussageverweigerungsrecht als Beschuldigter (nach Belehrung durch die Polizei) Gebrauch machen. Die Polizei wird übrigens einen umfassenden Bericht schreiben und auch erwähnen, ob Sie zufrieden grinsend eine Zigarette geraucht haben oder ob man ein Häuflein Elend angetroffen hat, der sich Gedanken um das Wohlergehen des Täters machte und der auch sonst von den Ereignissen sehr mitgenommen schien.
- Einen Rechtsanwalt (Strafrecht!) hinzuziehen. Und bitte keinen, der auf seiner Website etwas von der Verhältnismäßigkeit im Notwehrrecht schreibt. Ernst gemeint.
- Mit dem Rechtsanwalt zusammen gegebenenfalls eine umfangreiche Aussage bei der Polizei tätigen.
Es hat seine Gründe, warum ich das so schreibe. Wenn Sie gar nichts bei der Polizei aussagen, der Täter verstirbt, keine Zeugen vorhanden, dann beantragt die Staatsanwaltschaft vielleicht einen Haftbefehl. Dies geht nicht, wenn Sie Notwehr geltend machen. Vielleicht haben Sie ja auch schon längst die Erkenntnis gewonnen, wie wichtig diese vielen trockenen Details im Ernstfall werden können.
Mein Ziel mit diesem Artikel ist, dass Sie sich mit dem Thema Notwehr in Ruhe beschäftigen und sich in die komplexe Materie zumindest ein Stück weit einlesen. Und zwar bevor Sie es in der Praxis brauchen.
Dieser Artikel ist selbstverständlich keine Rechtsberatung und kann keinen guten Anwalt ersetzen. Dennoch mein heißester Tipp für Sie: Lesen Sie den Wikipedia-Artikel zur Notwehr bitte ein zweites Mal.