(Der nachfolgende Text über das, was vor genau zehn Jahren am 4. September 2015 geschah, ist ein Auszug aus dem Buch des Autors mit dem Titel „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biografie”, Europa Verlag 2024)
(…)
Mitten in der Diskussion um neue Hilfen für Griechenland, auch über einen möglichen Grexit, zeichnete sich bereits der Migrantenansturm ab, über den Merkel im ZDF Sommerinterview 2015 orakelte: „Diese Fragen werden uns sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage Griechenlands und die Stabilität des Euros.“
Kaum jemand verstand die Brisanz dieser Nebensätze, denn niemand kannte die Berichte der Geheimdienste und die DVD vom Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, die ebenjene Migrantentrupps zeigten, die nach Europa aufgebrochen waren. Wie in einem schlechten Traum versuchte Merkel, das Problem zu verdrängen, indem sie sich mit dem Versuch ablenkte, die Migranten auf Europa zu verteilen, was niemand wollte, anstatt Maßnahmen zu entwickeln, Migranten wirkungsvoll abzuweisen, die Länder, die für die Außengrenzen zuständig waren, wirksam zu unterstützen und Frontex konsequent zu stärken. Doch im Laufe des Jahres strömten immer mehr Migranten aus dem muslimischen und afrikanischen Raum nach Europa, insbesondere nach Deutschland, denn in Deutschland, so sprach es sich im sogenannten „globalen Süden“ herum, bekommt man soviel Geld geschenkt, dass man davon die ganze Familie daheim finanzieren konnte.
(…)
Kalt wurden diese Länder mit dem Schutz der EU-Außengrenzen allein gelassen. In ihren Sommerinterviews sprach Merkel munter davon, dass das Dublin-Abkommen, das besagte, dass „Flüchtlinge“ sich in dem EU-Staat registrieren lassen mussten, wo sie zum ersten Mal EU-Territorium betraten, nicht mehr funktioniert. Da Deutschland von sicheren Drittländern umgeben war, bestand für Deutschland unmittelbar kein Problem.
(…)
Schließlich bauten die Ungarn einen Grenzzaun, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, das Abkommen von Schengen nicht einzuhalten. Die Migranten, die in Ungarn eintrafen und in den von der ungarischen Regierung errichteten Aufnahmelagern registriert werden sollten, wollten ohnehin nach Deutschland weiter. Viele von ihnen verließen Ende August die Aufnahmelager und kamen aber am Bahnhof Keleti in Budapest nicht weiter. Am 31. August und am 1. September ließ Viktor Orbán noch Sonderzüge mit Migranten nach Wien und München fahren. In München trafen am 31. August 900 „Flüchtlinge“ ein, am 1. September kamen schon mehr als 2400 „Flüchtlinge“ an. Sie hielten Schilder mit Germany und Bilder von Angela Merkel hoch.
Auf einer Pressekonferenz sprach Merkel, ohne es vielleicht wirklich durchdacht zu haben, schon gar nicht von seinem Ende, quasi eine Einladung an die „Flüchtlinge“ aus: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“
Im Wege standen die Kritiker, die Realisten, sie wurden medial „aus dem Weg geräumt“. Auf dem Keleti-Bahnhof stürmten derweil „Flüchtlinge“ Züge, die nach Deutschland fuhren. Für Ungarn entstand eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Die ZEIT behauptete, dass „2.000 Asylbewerber auf Budapester Bahnhöfen festsäßen, weil ihnen das offenbar überforderte Einwanderungsamt keine Lager mehr zuweise.“ Doch das stimmte nicht, denn die „Flüchtlinge“ wollten nicht in ein ungarisches Aufnahmelager, sondern nach Deutschland, was die ZEIT im Rahmen der kognitiven Dissonanz sogar im selben Artikel zugab, wenn sie schrieb: „Nach den gemeinsamen EU-Asylregeln ist Ungarn verpflichtet, alle dieser Einreisenden zu registrieren. Viele Flüchtlinge wollen dies aber verhindern und stattdessen gleich nach Österreich oder Deutschland weiterreisen.“
In dieser Situation bat Ungarn Deutschland um Hilfe. Die deutsche Seite zog die Entsendung von Sonderzügen nach Budapest in Erwägung, verlangte aber, dass die „Flüchtlinge“ am Bahnhof Keleti sich registrieren ließen, was diese aber verweigerten, weil sie darin eine Falle witterten.
Sie weigerten sich deshalb, sich in Ungarn registrieren zu lassen, weil sie sich nur in Deutschland registrieren lassen wollten, da sie befürchteten, dass sie in Ungarn bleiben müssten, wenn sie sich hier registrieren ließen. So entstand eine Pattsituation, während immer mehr „Flüchtlinge“ zum Keleti-Bahnhof strömten. Es war die deutsche Seite, die für Verwirrung sorgte.
(…)
Auf der einen Seite wurde jeder ankommende Migrant in München bejubelt wie ein Wunder Gottes. Auf der anderen Seite protestierte die deutsche und die österreichische Regierung in Budapest dagegen, dass Orbán Sonderzüge mit „Flüchtlingen“ schickte, auf der einen Seite galt Dublin, auf der anderen eigentlich nicht mehr so recht. Was wollte Merkel und was wollte Merkel nicht? Sie wusste es selber nicht und stolperte dadurch in eine Krise, die sich bis heute in Deutschland täglich vergrößert.
Auf dem Bahnsteig in Budapest waren nach wie vor viele Flüchtlinge, die auf die Weiterreise in Richtung Westen warteten.
(…)
Die Ungarn sahen sich gezwungen, den Zugverkehr ins Ausland einzustellen. Merkel schien weiter abgetaucht zu sein. Im Kanzleramt versuchte man sich einzureden, dass Orbán den Migranten am Keleti-Bahnhof eine Falle gestellt habe. Doch was sollte das für eine Falle sein?
Zu glauben, dass Viktor Orbán einen wichtigen Bahnhof der Hauptstadt zum Aufnahmelager umfunktionieren wollte? Zu halluzinieren, dass der ungarische Ministerpräsident die Zustände am Keleti-Bahnhof herbeigeführt hätte, entsprach nicht dem politischen Handeln von Viktor Orbán, sondern der zynischen Weltsicht im Kanzleramt. Den Beweis dafür lieferte der nächste Tag.
Am 4. September, einem Freitag, begab sich die Bundeskanzlerin nach der Morgenlage im Kanzleramt auf eine Dienstreise, die sie nach Bayern und nach Köln führen sollte. Freitagsstimmung dürfte geherrscht haben, Kanzleramtsminister Altmaier in Gedanken schon bei einem hübschen Termin in Genf, wohin er aufbrechen sollte, alle anderen bereits in Wochenendstimmung. Nichts Besonderes schien anzuliegen, außer die von Stunde zu Stunde katastrophaler werdende Situation am Keleti-Bahnhof in Budapest, doch die interessierte Merkel und ihre Leute offensichtlich nicht. Hätte nicht spätestens jetzt die Bundeskanzlerin alle Termine absagen und sich mit dem österreichischen Kanzler Faymann und dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán um eine Lösung bemühen müssen, wenn ihr die Menschlichkeit so sehr am Herzen lag?
(…)
Und während sich Merkel auf die Reise nach Bayern begab, beschlossen Tausende von Migranten, die am Keleti-Bahnhof festsaßen, sich ebenfalls auf die Reise zu begeben, und zwar nach Deutschland.
(…)
Sosehr man über ihre Motive für ihr verantwortungsloses Handeln rätselt, kommt man genau auf diesen Punkt: Sie wollte keine Verantwortung für eine Entwicklung übernehmen, die sie nicht abschätzen konnte. Der Mythos der Willkommenspolitikerin Merkel wurde nur mit großer medialer Kraft erzeugt, um ihre Fehler und ihre Flucht vor der Verantwortung in diesen Tagen vergessen zu machen, zu bemänteln.
(…).
Der ungarische Botschafter József Czukor versuchte an diesem 4. September, an dem sich Merkel zu Wohlfühlterminen nach Bayern und nach Köln begab und die „Flüchtlinge“ vom Bahnhof Budapest-Keleti sich auf den Weg nach Deutschland machten, die zuständige Staatssekretärin im Bundesinnenministerium Emily Haber zu erreichen, doch die ging nicht ans Telefon. Deshalb schrieb er ihr einen dringlichen Brief. (Brief liegt mir vor, der im Buch erstmalig zitiert wird.)
Er teilte der Staatssekretärin mit, dass etwa 3000 „sich als syrische Staatsangehörige bezeichnende Menschen zu Fuß“ auf der Autobahn Budapest–Wien und auf den Geleisen unterwegs sind. „Nach gegenwärtigem Kenntnisstand will die entscheidende Mehrheit der Personen, die sich als syrische Staatsangehörige bezeichnen, nach Deutschland weiterfahren. Sie verweigern jegliche Kooperation mit den ungarischen Behörden, indem sie sich darauf berufen, dass sie in Deutschland aufgenommen würden. Ebenso verweigern sie sich einer Beförderung in ein ungarisches Flüchtlingslager durch die ungarischen Behörden.“
Angesichts dieser Situation schreibt der ungarische Botschafter an die deutsche Staatssekretärin: „Es werden die österreichischen und deutschen Behörden wiederholt gebeten, mit den ungarischen Behörden zusammenzuarbeiten und sich um eine gemeinsame Lösung der gegenwärtigen Situation zu bemühen, die allerdings unaufschiebbare Maßnahmen erfordern.“
Anschließend rief József Czukor Kanzleramtsminister Peter Altmaier an, um ihn darüber zu informieren, dass die Ungarn sich in der sich stündlich zuspitzenden Situation nicht mehr an Schengen und Dublin halten könnten. Man müsse Busse organisieren, um die Migranten an die österreichische Grenze zu bringen.
Deutsche Medien haben versucht, Merkels Versagen in eine Hinterlist von Viktor Orbán umzudichten, der angeblich Merkel eine Falle gestellt hatte. Aber was ist das für eine Falle? Jeder sah doch den Druck, der sich auf die EU-Außengrenzen geradezu stündlich erhöhte, jeder sah doch die Situation am Keleti-Bahnhof, jeder, auch Angela Merkel und ihre Regierung. „Wiederholt“ haben die Ungarn Österreich und Deutschland um Zusammenarbeit gebeten, wiederholt! Was tat also Angela Merkel, die allzu menschliche Kanzlerin, die Kanzlerin mit dem „freundlichen Gesicht“? Sie verschloss in ihrer Ratlosigkeit die Augen vor der sich abzeichnenden Katastrophe.
Nachdem sich die Migranten vom Keleti-Bahnhof zu Tausenden, von 4000 bis 6000 war schließlich die Rede, auf den Weg über Straßen und Gleise gemacht hatten, versuchte nun auch Viktor Orbán, Angela Merkel telefonisch zu erreichen. Es ging ihm nicht darum, Hilfe von Merkel zu erbitten, sondern sich mit ihr abzustimmen, wie man in dieser eskalierenden Situation weiterverfahren sollte. Doch Merkel ging nicht ans Telefon. Sie könnte sich zwischen den Terminen mit Viktor Orbán verbinden lassen. Sie könnte, aber sie will für das, was sich zusammenbraut, keine Verantwortung übernehmen, denn es ist doch komfortabler, vom hohen moralischen Ross dem Ungarn die Schuld für alles zuzuschieben, was jetzt geschehen wird.
(…)
Unterwegs erfuhr sie von den Flüchtlingskolonnen, die sich vom Keleti-Bahnhof in Richtung ungarische Grenze aufgemacht hatten. Doch Merkel war immer noch nicht bereit, mit Orbán zu telefonieren, stattdessen sonnte sie sich in Köln in wohlfeiler Moralität, als sie in ihrer Rede zum 70. Jahrestag der NRW-CDU verkündete: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer vor Not, vor politischer Verfolgung flieht, da haben wir die Verpflichtung, auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonventionen, unseres Asylrechts und des Artikel 1 unseres Grundgesetzes Hilfe zu leisten – ob es uns passt oder nicht.“ Es passte ihr aber nicht, mit Viktor Orbán zu telefonieren.
(…)
Aber auch der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann drückte sich vor der Verantwortung wie Merkel und nahm ebenfalls Orbáns Anruf nicht an. Stattdessen versuchte Faymann, Merkel telefonisch zu erreichen, doch vergeblich, denn die redete. Danach plauderte sie noch ein bisschen mit den Parteifreunden.
Inzwischen hatte Orbán, weil Faymann für ihn nicht zu sprechen war, eine Verbalnote ans österreichische Außenministerium gesandt, die offiziell die österreichische Regierung darüber informierte, dass sich „Flüchtlinge“ auf dem Weg nach Österreich befänden, und fragte nach, wie Ungarn sich verhalten solle. Weil Faymann jetzt reagieren musste, aber weiterhin keine Verantwortung übernehmen wollte, antwortete der Sozialdemokrat, dass er mit Orbán telefonieren werde, aber erst am nächsten Tag gegen 9 Uhr.
(…)
Doch der Ungar publizierte Faymanns Antwort, der nun natürlich nicht Orbán, sondern Merkel anrief. Jetzt endlich ging Merkel ans Telefon, aber auch nur, weil Faymann drängelte. Er schlug ihr vor, dass Deutschland und Österreich jeweils die Hälfte der Flüchtlinge übernehmen. Merkel stimmte noch nicht zu, sondern hielt Rücksprache mit Steinmeier und Gabriel, Seehofer erreichte sie nicht mehr. Würde man die Flüchtlinge aufnehmen, würde man die Dublin-Regel brechen. Doch als absolute Ausnahme in dieser Notsituation wäre das nach der Selbsteintrittsklausel möglich.
Der Chef der ungarischen Staatskanzlei entschied gegen 21.15 Uhr, Busse zu schicken, um die „Flüchtlinge“ zur Grenze zu bringen, weil deren nächtlicher Marsch auf der Autobahn zu gefährlich sei.
Gegen 22.30 Uhr informierte Merkel Faymann, dass sie zustimmt. Jetzt endlich meldete sich der österreichische Bundeskanzler bei Viktor Orbán und teilte ihm mit, dass er Busse zur Grenze schicken würde, um die „Flüchtlinge“ abzuholen. Als Viktor Orbán versucht hatte, Angela Merkel zu erreichen, wollte er nicht um Hilfe bitten, noch nicht einmal unbedingt, dass Deutschland die „Flüchtlinge“ übernahm, sondern zuallererst, um sich abzusprechen, Lösungen zu finden, wie man mit dem faktischen Zusammenbruch von Dublin 3 umging, zu diskutieren, auf welche Vorgehensweise man sich einigte. Doch Merkel, der das Problem bekannt war, wollte es so lange wie möglich aussitzen – so wurde aus dem Problem eine Krise. Trotzdem stellte nicht dieser einmalige Akt, der Grenzöffnung genannt wurde, Merkels großes Desaster dar. Es erfolgte eine gute Woche später.
(…)
Es hatte etwas von Karneval. Die Bundespolizei kontrollierte, aber nur um den Asylwunsch aufzunehmen, abgewiesen durfte niemand werden, auch wenn er sich nicht ausweisen konnte. Das deutsche Sozialsystem stand von nun an der ganzen Welt offen. Da Angela Merkel niemals einen Fehler beging, musste nun dieser, ihr Kardinalfehler, begraben werden, unter einer triumphalen Ideologie der Menschlichkeit, der selbst die pathetischsten Töne nicht peinlich waren. Aus der kinderlosen Bundeskanzlerin wurde plötzlich Mama Merkel.
Wer auch nur die geringste Kritik wagte, verlor seine Stellung, mindestens jedoch seine Reputation. Mit der Willkommenspolitik ging die Schleifung des konservativen Flügels in der CDU einher. Konnte Angela Merkel schon nicht mit den Grünen gemeinsam regieren, so machte sie, so gut es ging, aus der CDU eine grüne Partei, in Fragen der Klimapolitik, der Energiepolitik, der Migrationspolitik, der EU-Politik, schließlich der Pandemie-Politik. (…)
Der Kolumnist der liberalen New York Times zeigte sich erschüttert über die Realitätsblindheit der Merkel-Regierung: „Doch die deutsche Regierung scheint sich nach wie vor mehr darum zu kümmern, unruhige Einheimische zu kontrollieren – zuletzt durch eine Vereinbarung mit Facebook und Google zur Einschränkung fremdenfeindlicher Posts –, als um die Kontrolle der Migration. Erst letzte Woche lehnte Merkel einen Vorschlag ab, die Aufnahme von Flüchtlingen (die letztes Jahr über eine Million betrug ) im Jahr 2016 auf 200.000 zu begrenzen.“
Er kam in seinem Artikel „Deutschland am Abgrund“ zu dem Schluss: „Es bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss – damit ihr Land und der gesamte Kontinent für ihre hochgesinnte Torheit keinen zu hohen Preis zahlen müssen.“
Angela Merkel ging nicht, und das Land zahlt noch heute den Preis für ihre Politik.
(Auszug aus dem Buch des Autors mit dem Titel „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit. Eine kritische Biografie”, Europa Verlag 2024, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – der Sandwirt sagt danke!)




