Selbstverteidigung: Muss das sein?

Es gibt zig Bücher zum Thema Selbstverteidigung und entsprechend viele Artikel und Videos. Und dennoch treffe ich täglich auf völlig falsche Vorstellungen, Selbstüberschätzung, Wegsehen, Oberflächlichkeit, Naivität, Fatalismus. Dieser Artikel soll eine Herangehensweise an die mentale Seite der Selbstverteidigung sein, das Durchdenken von Szenarien und die eigene Vorbereitung auf eine mögliche Notwehrsituation auch unter rechtlichen Aspekten, ohne eine Enzyklopädie zu schreiben. 

Eine klare Aussage vorneweg: Wer Skrupel hätte, einem anderen Menschen richtig weh zu tun, der lasse bitte die Finger von jeglicher Selbstverteidigung. Diese Einstellung ist zu akzeptieren, denn Zögern und Inkonsequenz gefährden einen in solchen Situationen selbst am meisten. Und nein, Singen und Übelkeit vortäuschen sind keine Alternativen.

Notwehr hat in Deutschland als Grundlage den §32 StGB, §15 OWiG und §227 BGB. Ich werde hier die ganz unterschiedlichen Gesetze in Österreich oder der Schweiz nicht berücksichtigen. Mich interessiert hier hauptsächlich die Selbstverteidigung unter Anwendung des §32 StGB:

„Bei der Notwehr handelt es sich um diejenige Verteidigungshandlung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“

Es zählt jedes (!) Wort und ich kann im Rahmen des Artikels leider nur oberflächlich darauf eingehen. Der Wiki Artikel zur Notwehr ist ein sehr guter Einstieg in das Thema (Wiki, ich weiß…). Hochwertige Quellen zu allen Aussagen gibt es dort zuhauf.

Plan A … und dann?

Da es keine Garantie für eine erfolgreiche Selbstverteidigung in allen Lebenslagen gibt, sollte man sich wenigstens für die wahrscheinlichsten Szenarien vorbereiten. Hinweise gibt es in hunderten YouTube Videos. Ihr möglicher Angreifer kommt vielleicht aus dem Land des Videos, das Sie gerade sehen und vielleicht am liebsten als völlig unrealistisch abtun. Leider hat der Angreifer die Initiative und entscheidet selbst über sein Ziel und seine Vorgehensweise und nicht wir. Gegen einen heimtückischen Angriff wie der neulich gegen Iryna Zarutska in Charlotte, North Carolina, gibt es übrigens kaum eine Abwehr. Leider begegnen dem viele mit Fatalismus, ohne genauer hinzusehen und Lehren daraus zu ziehen.

Eine Lehre, die man aus diesem feigen Mord durchaus ziehen kann: Sie können ein Bewusstsein für mögliche Gefahren entwickeln, um sich selbst Raum und Zeit für eigene Reaktionen zu verschaffen. Natürlich, man muss das alles nicht tun, denn es lebt sich ruhiger ohne. Bis das St.-Floriansprinzip an die eigene Tür klopft …

Im Bereich der Selbstverteidigung sollten Sie einen Plan A, B und C haben. Viele setzen durch die Wahl ihrer Mittel oder ihrer Taktik alles auf eine Karte, die aber im Ernstfall vielleicht nicht funktioniert: Der Boxer kann sich mit blockierten Händen wiederfinden, das Pfefferspray wirkt nicht, die (Schreckschuss-)Pistole versagt. Selbstverteidigung ist eine Gesamtstrategie und beschränkt sich nicht nur auf einen bevorzugten Weg.

Die meisten Menschen, die sich Gedanken um eine Selbstverteidigungsstrategie machen, setzen das 1:1-Szenario voraus und bereiten sich darauf vor bzw. trainieren es. Was aber, wenn es mehrere Angreifer sind? Deutlich überlegene Gegner? Keine Fluchtmöglichkeit oder Kampf am Boden? Es gibt keinen Schiedsrichter, der das dann stoppt. Hoffentlich einen guten Samariter. Aber vielleicht sind Sie das gar selbst für andere. Klappt dann noch der Plan A?

Wehrhaftigkeit beginnt im Kopf

Selbstverteidigung beginnt schon da: Wie stehen Sie zu sich selbst, wieviel Selbstbewusstsein haben Sie und wie viel Sicherheit strahlen Sie aus? Das kann man Menschen ansehen. Mindestens unbewusst. 

Machen Sie einen einfachen Test: Setzen Sie sich in eine Fußgängerzone und beobachten Sie die Menschen. Deren Gang. Jeder geht anders am gleichen Ort zur gleichen Zeit. Warum wohl? Es sind Individuen mit eigenem Charakter, der in dem persönlichen Gang Ausdruck findet. Was sagt nun dieser Gang über diese Menschen? Versuchen Sie, ihnen Charaktereigenschaften zuzuordnen, Ihr persönliches Bauchgefühl in Worte zu fassen. 

Das ist ein erster Schritt, zur Entwicklung eines Bewusstseins für die Menschen, die Ihnen begegnen, ganz ohne verbale Kommunikation. Sie werden erkennen, dass Menschen ängstlich, forsch, gelassen, gelangweilt, arm, reich, zielstrebig, selbstbewusst, wie auch immer wirken. Manche wirken leider auch wie potentielle Opfer. 

Angreifer scannen ebenfalls. Die suchen fast immer Opfer. Beschäftigen Sie sich mit Ihrem eigenen Auftreten und vermeiden Sie, als Opfer gesehen zu werden. Vermeiden Sie Gegenden, die Ihnen ein ungutes Bauchgefühl bereiten, schaffen Sie sich Raum und Zeit zur Reaktion oder Flucht. 

Ich wurde mal von zwei Tunesiern am Bahnhof angesprochen und nach dem Weg gefragt. Der erste redete mit mir, der zweite bewegte sich langsam nach links aus meinem Blickfeld hinter mich, Richtung Rucksack. Ich trat klar nach rechts aus der Achse der Beiden heraus und entschärfte so die Situation. Wenn es ein Angriffsversuch war, brachen die beiden ihn jedenfalls sofort ab. Kleinigkeiten … doch ohne Bewusstseinsschärfung kann sowas auch übel enden. 

Meiden Sie öffentliche Verkehrsmittel oder halten Sie sich wenigstens den Rücken frei!

Wodurch wird Selbstverteidigung effektiv?

Sind Sie bereit, einem Menschen ernsthafte Schmerzen zuzufügen? Ihn für den Rest seines Lebens in den Rollstuhl zu schicken? Nur weil er Sie angegriffen hat? Diese grundsätzliche Bereitschaft ist die Grundvoraussetzung einer aktiven Selbstverteidigung, denn schon ein Schubser kann das Gegenüber zu Fall bringen und wenn dessen Kopf auf der Bordsteinkante aufschlägt, könnte eine ernsthafte Verletzung oder Behinderung die Folge sein.

Schmerz ist ein Mittel, einen Angriff zu stoppen. Es wirkt nur nicht immer. Man kann das benötigte Schmerzniveau verfehlen, der Angreifer kann polsternde Kleidung tragen oder durch Drogen oder Alkohol relativ schmerzunempfindlich sein. Strategien und nichttödliche Waffen wie etwa ein Kubotan, die auf Schmerzen bauen, können unzuverlässig sein.

Vielleicht reicht ja die Abschreckung mit einer Waffe? In vielen Kulturkreisen macht der Spruch „DAS ist ein Messer!“ Eindruck. Der vermiedene Kampf wäre schließlich der beste Kampf. Was jedoch, wenn es nicht reicht und der Angreifer über die Schreckschusspistole lacht und beim Ziehen des Messers erst recht Lust auf den Kampf hat?

Wichtig: Der Angreifer entscheidet, wie unsere defensive Drohung auf ihn wirkt, nicht wir!

Was stoppt den Angreifer denn nun tatsächlich? Nun, entweder seine Beine sind kaputt, so dass er rein mechanisch nicht mehr vorwärts kommt oder die unterbrochene Blutzufuhr zum Gehirn oder eine starke Erschütterung des Gehirns führt zum KO. Wenn er nichts mehr sehen kann, ist auch schon viel gewonnen.

Alle Selbstverteidigung will den Gegner stoppen und setzt dabei immer auf: Aggressivität, Schnelligkeit, Technik. Genau in dieser Priorität.

Wodurch wird Selbstverteidigung effizient?

Es geht also darum, körperliche Nachteile, Unterzahl oder das Überraschungsmoment durch Hilfsmittel auszugleichen und einen Angreifer endgültig abzuwehren. Jedes Hilfsmittel kann zur Waffe werden: Stuhl, Tisch, Kleiderständer, Teller, Jacke, was auch immer.

Man muss die Hilfsmittel lediglich griffbereit haben, sie konsequent einsetzen wollen und sie müssen zielführend, also erfolgversprechend sein. Hier die wichtigsten:

  1. Hände, Füße, Körper hat man immer dabei, doch müssen die trainiert sein, um sich nicht durch einen Faustschlag selbst mehr zu verletzen, als den Gegner. Was ist denn nun der beste Kampfsport zur Selbstverteidigung? Eigentlich keiner. Man hat dort Regeln und verinnerlicht diese. In der Selbstverteidigung kann das nachteilig sein. Als ehemaliger Karateka kann ich sagen, dass man damit Ungeübten gegenüber gewisse Vorteile hat, einem Straßenkämpfer jedoch schnell unterliegt. Die erforderlichen Fähigkeiten sind nur nach vielen Jahren intensiven Trainings zu erreichen. Hollywood ist hier kein Maßstab. Am ehesten wären zu empfehlen: Boxen, Thai-/Kickboxen, Brazilian Jiu-Jitsu, Mixed Martial Arts, Sambo. Falls Ihnen jemand militärischen Nahkampf zur Selbstverteidigung empfiehlt: Vergessen Sie das ganz schnell! Dort ist die Vernichtung des Gegners das Ziel und jeder Richter hierzulande schickt Sie lange in den Knast, damit Sie üben können. Unlustig. Für die Selbstverteidigung am tauglichsten erachte ich Wing Tsun, Krav Maga und Mastro Defense System. Man muss herausfinden, was zu einem passt. Vielerorts gibt es Schnuppertrainings. Hüten Sie sich vor Scharlatanen, die in Krankenhäusern mit wedelndem Handtuch Messer abwehren. Kein Witz.
  2. Stock, Gehstock, Baseballschläger sind keine Waffen nach WaffG und können zumindest im Auto bequem mitgeführt werden. Ein Gehstock sogar im Flugzeug und ja, auch damit gibt es Selbstverteidigungsmöglichkeiten und Lehrvideos. Sehr effektiv im Einsatz, mit Reichweitenvorteil. Schlagstock, Teleskopschlagstock oder Tonfa sind bei uns leider als Waffen klassifiziert und müssen zu Hause bleiben. Achtung: abgeschlossen aufbewahrt. Ja, ich weiß … Der Tierabwehrstock hat leider noch kein BKA-Gutachten. 
  3. Ein Regenschirm in stabiler Ausführung kann sehr hilfreich sein, ist aber auch trainingsintensiv.
  4. Eine handliche Taschenlampe ist besonders abends und nachts hilfreich, denn wer damit „geblitzdingst“ wird, guckt Sie erstmal nicht mehr an. Die alte Maglite ist zu schwer, aber effektiv, wenn man trifft. Wenn … 
  5. Der Kubotan, ein stabiler Kuli, der Schlüsselbund sind eher Hilfsmittel nach dem Prinzip Hoffnung und recht unzuverlässig. Nur im Nächstbereich einsetzbar, also eher Plan D oder E. Eine zusammengerollte Zeitschrift ist wirkungsvoller.
  6. Das CS-Spray unterliegt dem WaffG, ist in den Waffenverbotszonen verboten und in der Wirkung fraglich. Tierabwehrspray in unterschiedlichen Größen ist völlig frei erwerb- und führbar. Auch in den meisten Waffenverbotszonen, wenn die Polizei das auch weiß. Die Wirkung ist allerdings verzögert und nicht zuverlässig (Alkohol, Drogen, zehn Prozent haben natürliche Immunität). Diese Firma stattet die meisten Behörden aus. Ähnliches gilt auch für die vielen CS-/Pfefferabschussgeräte.
  7. Ein Hund, kann sehr hilfreich sein, muss aber nicht. Sie vertrauen im Notfall auf die richtige Aktion Ihres Gefährten und dass der Angreifer wie erwartet reagiert. Gleich zwei Unsicherheiten. Hunde sind leicht auszuschalten und ich würde das nicht testen wollen.
  8. Der Bereich Blankwaffen, Übungsschwerter, Messer ist wirklich nur für die wenigen Leute effektiv, die damit umgehen können. Das eigene Messer im Hals des Gegners hat vermutlich eine Anklage wegen Mordversuchs zur Folge, also Vorsicht!
  9. Verbotene Gegenstände wie Schlagring, Totschläger, Stahlrute, Stockdegen, Gürtelmesser, Butterfly, Springmesser sollte man besser erst gar nicht besitzen (Straftat!). Wer so etwas in einem Kampf unter Zeugen geübt einsetzt, hat hinterher ernsthafte Probleme vor Gericht.
  10. Schreckschusswaffen sind mit Kleinem Waffenschein führbar und über 860.000 überprüfte Bürger tun dies auch. Fällt für mich aber unter die Kategorie: „Was, wenn der Täter nicht beeindruckt ist?“ Ohne Plan B und C wird das dann hässlich.
  11. Eine scharfe Schusswaffe ist in den meisten Fällen der Selbstverteidigung das effizienteste Mittel. Wenn a) erlaubt!, b) dabei!, c) im Umgang geübt! – Bei uns in Deutschland gibt es leider kaum private Waffenscheine. In Tschechien führt jeder 30. älter als 21 Jahre eine Schusswaffe in der Öffentlichkeit. Dort weiß man genau, wenn jemand eine Waffe zieht, dann ist die echt. Das vermeidet die allermeisten Schussabgaben zur Selbstverteidigung und ist daher extrem effizient. Hier auch zur Klärung: Wer eine illegale Waffe in Notwehr einsetzt, dem wird deswegen trotzdem Notwehr anerkannt. Wegen des Verstoßes gegen das WaffG (Straftat) wird man sich natürlich dennoch verantworten müssen.

Für alles oben Gesagte gilt: „Lieber haben und nicht brauchen!” Und: „Übe so, wie du kämpfst!“

Bleiben Sie sicher und gesund. Und tun Sie was dafür!

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1 Kommentar. Leave new

  • Das Schlimme ist, ein körperlich unterlegener Verteidiger hat nur eine Chance, sich gegen einen überlegenen Angreifer zur Wehr zu setzen, indem er sofort massiv eskaliert und den Angreifer so schnell wie möglich so schwer verletzt, dass der kampfunfähig wird – also genau das tun, was im Strafrecht „Notwehrexzess“ heißt.
    Ein ebenbürtiger oder überlegener Verteidiger – abgesehen davon, dass der gar nicht erst angegriffen würde – braucht fast gar nichts zu tun, er kann den Angreifer einfach wegstoßen und es ist Ruhe. Ironischerweise kann er den Angreifer schonen.
    Wer das will, muss jahrelang trainieren – kurz, sein Leben der Gewalt widmen.

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