Auf dem Plattenspieler: Shiloh Dynasty

Künstler: Shiloh Dynasty 

Song: So Low – veröffentlicht auf Shiloh Dynastys Instagram-Kanal, 2015

In der Musikgeschichte gibt es Künstler, deren Werk so präsent ist, dass wir ihren Namen fast schon so gut kennen wie den eigenen – und wiederum auch solche, von denen wir gar nicht wirklich wissen, wer genau eigentlich hinter der Stimme steckt. Shiloh Dynasty zählt in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig zur letzteren Gruppe.

Man kann sie wohl als die „bekannteste unbekannte Sängerin“ der jüngeren Musikgeschichte betiteln – eine rätselhafte Figur, deren Einfluss bis heute spürbar ist, obwohl sie eigentlich kaum etwas hinterließ. 

Zwischen 2015 und 2016 veröffentlichte Shiloh Dynasty mehrere Aufnahmen auf Instagram und der inzwischen eingestellten Plattform Vine. Es handelte sich meist nicht um vollständige Songs, sondern eher um kurze Schnipsel: Einfache Gitarrenbegleitungen, dazu fragmentarischer Gesang, oft in einem Mix mit Sprechgesang und meist kürzer als eine Minute. Die Aufnahmen waren Lo-Fi – was für „Low Fidelity“ steht – also, völlig roh und unbearbeitet. Sie wirkten wie zufällig festgehaltene Gedanken, nicht als Releases im klassischen Sinn konzipiert. Trotzdem – oder gerade deshalb – entwickelten sie eine eigene Wirkung.

Ende 2016 löschte Shiloh Dynasty ihre Accounts abrupt und kommentarlos. Was blieb, waren lediglich diese kurzen Schnipsel. Diese zirkulierten dann weiter auf Plattformen wie Youtube, Soundcloud und später TikTok, wo sie in Videos und Remixen auftauchten, in Compilations, als Sample-Grundlage und als Soundtrack für eine bestimmte Ästhetik der digitalen Melancholie. 

Besonders verbreitet wurde ihre Stimme in sogenannten „Sad Edits“ – kurzen Videos mit melancholischen Szenen aus Zeichentrickserien wie „Bojack Horseman“, „Die Simpsons“ oder „Adventure Time“, kombiniert mit verlangsamter, sanfter Musik, leichten VHS-Effekten und atmosphärischen Verzerrungen.

Dass Shilohs Musik in diesen Kontexten auftauchte, war kein Zufall. Ihre reduzierten Aufnahmen passten perfekt zu zwei Subgenres, die sich im gleichen Zeitraum etablierten: Lo-Fi-Hip-Hop und Emo-Rap. Beide entwickelten sich parallel zur digitalen Beschleunigung, aber inhaltlich gegen sie gerichtet – als Rückzugsräume, in denen es nicht um Repräsentation ging, sondern um Innenwelten, Verletzlichkeit und Distanz. 

Lo-Fi-Hip-Hop entstand zwar nicht erst in den 2010ern, nahm aber in dieser Zeit eine neue Form an: als Internetmusik, die sich durch Unvollkommenheit definierte. Knistern, Rauschen, einfache Akkorde, oft endlose, unsauber geschnittene Loops – statt Hochglanzproduktion dominiert ein bewusster Mangel an Perfektion. Die Tracks sind selten textlastig; oft gibt es sogar überhaupt keine Vocals – stattdessen vermittelt sich das Gefühl rein über die Atmosphäre. Es ist Musik, die nicht konfrontiert, sondern begleitet – oft gehört im Hintergrund, beim Lernen, Lesen oder Entspannen. 

Emo-Rap entstand fast zeitgleich als inhaltliches Gegenmodell zu klassischen Rap-Themen wie Status, Konsum oder Selbstbehauptung. Künstler wie XXXTentacion, Lil Peep, Juice WRLD oder Trippie Redd – die Vorreiter dieser Sparte – verbanden die Struktur und Basslastigkeit neumoderner Hip-Hop-Beats mit instrumentellen Elementen von Punk, Rock und Metal, und sprachen in ihren Texten über Depressionen, Angstzustände, Verlust, Sucht, Einsamkeit. Auch hier passten Shiloh Dynastys Gesangfragmente nahtlos hinein – nicht als Beiwerk, sondern als emotionaler Kern vieler Tracks.

XXXtentacion war einer der ersten, der Shilohs Samples prominent nutzte. Auf seinem Debütalbum „17“, das 2017 erschien, finden sich gleich mehrere Tracks mit ihrer Stimme: „Jocelyn Flores“, „Carry On“, „Everybody Dies In Their Nightmares“. Diese Songs wurden zig millionenfach gestreamt und mit Gold und Platin ausgezeichnet – „Jocelyn Flores“ allein erhielt in den USA mehrfach Platinstatus und gilt bis heute als Inbegriff dieses bestimmten, introspektiven Hip-Hop-Sounds der späten 2010er Jahre.

Auch andere Künstler griffen auf ihre Clips zurück: Russ, Young Thug, Swell – um nur ein paar weitere zu nennen. Shiloh Dynasty wurde dadurch zu einer Art „Grundrauschen“ dieser musikalischen Phase: eine wiedererkennbare Stimme, die durch verschiedenste Produktionen hindurchklang, aber nie selbst im Mittelpunkt stand. 

In gewisser Weise war sie die Konstante in einem Genre, das sonst stark von persönlichen Krisen, Brüchen und – tragischerweise – dem frühen Tod vieler seiner Protagonisten geprägt war. Drei der vier erwähnten Vorreiter verstarben binnen weniger Jahre im Rampenlicht: Lil Peep und Juice WRLD wurden nur 21, XXXTentacion sogar nur 20 Jahre alt …

Dass Shiloh all das mit einem minimalen Output erreicht hat, halte ich für unfassbar bemerkenswert. Es gibt keine einzige offizielle Single- oder Albumveröffentlichung von ihr, es gab nie Konzerte, keine Musikvideos – wirklich nichts von all dem, was man eigentlich für eine Karriere in der Musikindustrie für unabdingbar hält. Lange war nicht einmal klar, wer sie überhaupt ist! 

Dieses völlige Schweigen, trotz des enormen Erfolgs ihrer Werke, sorgte dafür, dass sich zahlreiche Mythen um sie bildeten. Lange Zeit wurde beispielsweise vermutet, sie sei gestorben – ein Gerücht, das sich hartnäckig hielt. In ihren Texten geht es um Einsamkeit, innere Leere, Beziehungsabbrüche, depressive Zustände – dass eine Künstlerin mit diesen Thematiken wortlos aus der Öffentlichkeit verschwindet, hat zwangsläufig Raum für Spekulationen dieser Art geschaffen.

Erst 2020 gab es ein Lebenszeichen: Unter dem Namen Shiloh Dynasty LLC wurde ihre Musik offiziell urheberrechtlich registriert. Seitdem ist auch bekannt, dass sie mit bürgerlichem Namen Ciara Nicole Simms heißt, 1993 geboren wurde und zurückgezogen in Maryland, USA, lebt. Doch auch nach diesem „Schachzug“, durch den sie seit dato ein gewisses Einkommen mit ihrer Musik generieren darf, veröffentlichte sie keine neue Werke – bis heute.

Ihre Abwesenheit wurde zu einem Teil ihrer Wirkung. Was sie nicht sagte, wurde interpretiert. Was fehlte, wurde ergänzt. Das Ungeklärte schuf eine Projektionsfläche für das, was die Hörer selbst fühlten. In den Loops ihrer Stimme, die so oft in völlig neuen Zusammenhängen auftauchten, spiegelte sich etwas Zeittypisches: ein Gefühl von Entfremdung, Rückzug, Überforderung – aber auch das Bedürfnis, sich verletzlich zeigen zu dürfen; wenn schon nicht im eigenen Namen, dann eben wenigstens durch diese eine Stimme.

Shiloh Dynasty steht für eine Art von Kunst, die sich dem direkten Zugriff entzieht – und bei vielen gerade deshalb haften bleibt. Ihre Musik will nicht gefallen, sie erklärt nichts, sie bietet keine Auflösung. Sie stellt sich nicht zur Schau, sondern lässt Leerstellen. Und genau darin, in dieser radikalen Reduktion, liegt ihre Stärke: Sie hinterlässt nicht mehr, als nötig ist. Aber genug, um eine Vielzahl von Menschen zu begleiten, die – wie ihr musikalisches Schaffen an sich – gelernt haben, „in Fragmenten“ zu leben …

Hören Sie hier einen der wenigen vollwertigen Songs von Shiloh Dynasty, „So Low“, auf Youtube.

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