Der überforderte Staat und die Wehrpflicht 

Die Rückkehr der Wehrpflicht ist kein organisatorischer Schritt, sondern ein politisches Symptom. Sie zeigt nicht Stärke, sondern Verlegenheit. Sie entsteht nicht aus Planung, sondern aus dem Fehlen von Planung. Wo der Staat jahrelang versäumt hat, die Strukturen einer modernen Verteidigung aufzubauen, verfällt er nun in die Logik des Ausnahmezustands – und sucht den Zugriff auf den Bürger, bevor er den Zugriff auf die eigenen Probleme gewinnt.

Der Staat tritt einmal mehr autoritär auf die Bühne. Nicht als Garant der Freiheit, sondern als Organisator der Gefahrenabwehr. Und wer Gefahren abwehrt, beansprucht Vollmachten. Wer Vollmachten erhält, gibt sie ungern wieder ab. Freiheit schrumpft nicht an einem einzigen Tag, sie wird scheibchenweise abgegeben, stets begleitet von Versicherungen, es handle sich nur um Maßnahmen „auf Zeit“.

Die Sprache des schleichenden Ausnahmezustands

Hayek hätte die gegenwärtige Stimmung sofort erkannt. Die Sprache verrät den Beginn des schleichenden Ausnahmezustands. Alternativlose Notwendigkeit ersetzt Argumentation, Sicherheit ersetzt Freiheit, und Debatte wird zur Nebensache. Die Regierung spricht mit der selbstgewissen Ruhe dessen, der sich im Besitz einer höheren Einsicht glaubt. Und der Bürger beginnt, sich hinten anzustellen.

Besonders gefährlich ist der Reflex der Angst. Zwischenfälle, Sabotage, Drohnen, Raketen – all das wird zum Treibstoff für eine politische Psychologie, der Hayek zutiefst misstraute: Dem Wunsch, geführt zu werden. In Zeiten der Unsicherheit neigt der Mensch dazu, Freiheit als Störfaktor zu betrachten. Genau in diesem Moment betritt eine Gesellschaft den schmalen Grat, der sie von einer gelenkten trennt.

Einheit als politische Forderung

Kriegstüchtigkeit verlangt Einheit. Freiheit verlangt Vielfalt. Der Staat bevorzugt die Einheit.

Die Logik der militärischen Mobilisierung duldet keine Abweichung. Wer die offene Gesellschaft erhalten will, darf ihr nicht die Denkweise eines Generalstabs aufzwingen: geordnet, straff, planbar. Doch genau das geschieht, wenn Politik beginnt, die Bevölkerung in Kategorien kollektiver Notwendigkeit zu denken. Das Individuum wird zum Werkzeug eines übergeordneten Plans – und Hayek hat klar beschrieben, wohin solche Planlogiken führen.

Diese Dynamik zeigt sich heute mit besonderer Schärfe, weil sie sich mit staatlichen Versäumnissen überschneidet. Drei Jahre lang verpasste Deutschland die Gelegenheit, Drohnenabwehr aufzubauen, Munitionsbestände zu sichern, Strukturen zu modernisieren. Und jetzt, da die Defizite sichtbar sind, wird plötzlich die Wehrpflicht zum Instrument der Stunde. Nicht als Konzept, sondern als Reflex. Masse statt Klasse, Pflicht ersetzt Kompetenz. Mobilisierung ersetzt Modernisierung.

Die stille Gewöhnung an das neue Normal

Noch gefährlicher als der offene Krieg ist jedoch die stille Gewöhnung: an den Ausnahmezustand, an die Eile, an jene Alternativlosigkeit, die jede Regierung zu einem moralisch überhöhten Monopol der Entscheidung erhebt. Ein Phänomen, das nicht nur die deutsche Verteidigungspolitik trifft, sondern sich durchgängig in allen Politikfeldern derzeit findet.

„Wir müssen“, „es geht nicht anders“, „jetzt ist nicht die Zeit für Diskussionen“, diese Sätze sind die eigentlichen Totengräber der Freiheit. Sie lassen keinen Raum für Einwand, für Zweifel, für die Unordnung, die eine lebendige Gesellschaft ausmacht. Die Wehrpflicht passt in dieses Muster: Sie wird nicht als Teil eines modernen Verteidigungskonzepts präsentiert, sondern als alternativlose Antwort auf selbstverschuldete Schwächen.

Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen bereit sind, Freiheiten „temporär“ zu opfern. Und ebenso erstaunlich, wie selten diese Opfer je zurückgenommen werden. Die Geschichte beweist: Der Staat wächst nicht aus Bosheit. Er wächst, weil die Logik der Macht keine Selbstbegrenzung kennt, sobald der Ausnahmezustand erst einmal zur Routine geworden ist.

Die wahre Front 

So entsteht die wahre Gefahr nicht an den Grenzen Europas, sondern innerhalb seiner politischen Kultur. Denn eine Gesellschaft, die sich an das Denken der Gefahr und der Alternativlosigkeit gewöhnt, verliert das Denken der Freiheit. Sie verliert das Vertrauen in den Einzelnen, in die Kraft der Dezentralität, in den Wert des Dissenses.

Europa mag wehrhaft werden müssen. Aber wenn es darüber seine Fähigkeit verliert, frei zu bleiben, dann hat es schon verloren, bevor ein einziger Schuss fällt. Die freie Ordnung stirbt nicht durch äußere Bedrohungen. Sie stirbt an ihrem eigenen Bedürfnis, sich davor zu schützen.

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