Die Wehrpflichtdebatte und der Tod der Nation

Die Debatte um die Wehrpflicht spaltet derzeit Teile des Lagers rechts der Mitte. Auffällig ist die Vehemenz, mit der die Diskussion gesellschaftlich geführt wird. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Versuche der Wiedereinführung. Für die Anrainer der russischen Einflusssphäre hat die Frage allerdings ein anderes Gewicht als für ein Land in der Mitte Europas, das von einem mittelosteuropäischen Cordon sanitaire geschützt wird. Allein Polen wartet derzeit mit der größten europäischen Armee der NATO auf.

Das polnische Beispiel führt auch vor Augen: Die Größe einer Armee muss nicht mit der Größe der Bevölkerung oder einer Wehrpflicht zusammenhängen. Zwar wird diese im Notfall aktiviert werden. Aber bereits jetzt hat Polen mit seinen 230.000 Soldaten bei 38 Millionen Einwohnern proportional mehr Männer unter Waffen als Deutschland – die Bundeswehr nennt derzeit eine Truppenstärke von 184.000 Soldaten. Bei einer mehr als doppelt so großen Bevölkerung.

Der Dienst ist also jetzt bereits unattraktiv, und die Lösung, um mehr Soldaten für eine unbeliebte Armee zu gewinnen, besteht demnach daraus, mehr Menschen in den Dienst zu zwingen. Das folgt einem klaren Muster deutscher Politik wie schon bei der Energiewende: Wenn der Wind nicht weht, baut man zur Stromgewinnung noch mehr Windkraftanlagen.

Strategische Realität und politische Symbolik

Dass es ein „moralisches“ Problem geben könnte, eben, weil die Bundeswehr nicht mehr die Bundeswehr ist, und Patriotismus, Rollenvorstellungen, Heldentum, Aufopferung und nationale Solidarität eher als Bedrohung, denn als Werte des besten Deutschlands aller Zeiten gelten, ist nur eine Seite der Medaille. Die chronische Materialknappheit desillusioniert die Soldaten. Ebenso wie zahlreiche Experimente, die auch die Bundeswehr lediglich als austauschbaren Managementbereich sehen. Zeitenwende hin oder her.

Warum das alles durch mehr Soldaten besser werden soll? Der italienische Verteidigungsminister Guido Crosetto denkt ebenfalls über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nach, hat aber die Musterung wie in Deutschland bereits jetzt ausgeschlossen. Offiziell, weil man ja keine ungebildeten Jungs an komplizierte technische Geräte lassen will – was man will, das sind Spezialisten, gebildete Elite-Einheiten. Also auch hier höchstens die Chimäre „freiwillige Wehrpflicht“. 

Inoffiziell dürfte das Problem bestehen, dass die italienischen Behörden kaum die Aufgaben der Wehrämter in so kurzer Zeit übernehmen können, um das „alte System“ wiederzubeleben. In Deutschland, wo jüngst die Dresdner Bahn nach fast 30 Jahren endlich über die Schienen fährt, glaubt man dagegen, die Musterung nach preußischer Genauigkeit innerhalb kürzester Zeit wieder einzuführen.

Zivildienst durch die Hintertür?

Angesichts der relativen Gelassenheit in Westeuropa und eher zahmen Vorstößen, sowie der strukturellen Probleme der Bundeswehr kann man auf den häretischen Gedanken kommen, dass Berlin weniger auf den Wehrdienst, denn auf den Zivildienst schielt, dessen Renaissance insbesondere aufgrund der grassierenden Missstände innerhalb der Truppe mal wieder zum Ausweg werden könnte. Bereits bei der Aussetzung der Wehrpflicht war die Zukunft des Zivildiensts der eigentliche Knackpunkt. Die Ausbeutung junger Männer als billige Aushilfskräfte kam an ihr Ende.

Das kolossale Versagen des Staates in allen Belangen der sozialen Vor- und Fürsorge, von der Pflege bis zur Rente, dürfte den Gedanken wecken, dass ein „freiwilliger“ Dienst der Ausweg sein könnte. Insbesondere aufgrund der Überalterung der Boomer-Generation und dem Ende der Illusion, „ausländische Fachkräfte“ würden sich um deutsche Greise kümmern. Die Idee eines verpflichtenden sozialen Jahres für die Gesellschaft prägt seit Jahren linke Programme. Mit CDU-Hilfe könnte dieses Projekt durch die Hintertüre kommen. Auch deswegen ist es nicht verwunderlich, warum zu Beginn der Diskussion auch die „Frauenfrage“ kam. Sie wird wie ein Bumerang zurückkommen.

Der Konflikt im oppositionellen Lager speist sich dagegen aus verschiedenen Quellen. Die häufigste: In den 1990ern konnte man sich noch vorstellen, diesem Staat zu dienen, heute nicht mehr. Die Rechte ist hier jedoch gespaltener als die Linke, da die Aussetzung der Wehrpflicht in Merkels Zeiten bereits als symbolische Zerstörung des „alten Deutschlands“ galt. Sie hängt an der Institution, weil es hier um mehr geht: nämlich um die Identität der Nation als solcher. Die Wehrpflicht wird de facto als konservativ, als rechts geprägt; wer dagegen ist, macht sich verdächtig, auch in anderen Fragen nicht auf Linie zu sein.

Wehrpflicht: Historisch eine linke Erfindung

Dabei ist die Einordnung der Wehrpflicht als „rechte Tradition“ überraschend. Denn sie ist Erbe der Französischen Revolution. Es waren die Revolutionäre, die mit Massenaushebungen das royalistisch-konservative Europa bekämpften. Die meisten „großen Europäer“ auf die sich das Abendland beruft, haben vor dem 19. Jahrhundert nie in der Armee gedient – und wenn, dann freiwillig, wie etwa Miguel Cervantes. Tatsächlich war einer der Gründe des Aufstands in der Vendée, wo sich die katholisch-konservative Bevölkerung gegen die Jakobiner erhob, die Einführung der Levée en masse. 

Die moderne Wehrpflicht eingeführt hat also die historische Linke. Die historische Rechte hat sie anfangs vehement bekämpft. Erst im Zuge der Befreiungskriege wurde sie übernommen. In dem Maße, in dem auf den Tod Gottes der Nationalismus als Ersatzreligion folgte, übernahm die europäisch-aufgeklärte Mentalität das nationalliberale Modell. Der Liberalismus band die politische Linke, der Patriotismus die politische Rechte. Diese Klammer hielt Europa trotz der Gegensätze zusammen. Länder waren nun keine Territorien mehr, Könige keine von sich aus legitimen Herrscher, Oberschicht und Unterschicht nicht mehr partikular: die Nation einigte die Gesellschaft zu einem geschlossenen Körper. Die Vorstellung, dass im Krieg nicht Armeen, sondern Nationen aufeinandertreffen, nicht Soldaten, sondern Völker, stammt aus dieser Zeit.

Bezeichnend für die Gegenwart ist die Auflösung des Nationalliberalismus. Der Prozess ist länger als kolportiert und befand sich schon zur Jahrtausendwende in der Endphase. In Afghanistan konnte sich Deutschland nicht nur nicht dazu durchringen, von einem „Krieg“ zu sprechen (alle Nachteile miteingeschlossen). Der Einsatz in Afghanistan wurde von der Öffentlichkeit ignoriert. Nicht Deutschland stand am Hindukusch, sondern die Bundeswehr. Die Auflösung der Verbindung zwischen Armee, Volk und Nation war schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht passé. Tod und Trauma in Afghanistan sind und bleiben verdrängte Kapitel.

Emanzipation und nationale Sinnstiftung

Die Bundesrepublik hat – wie viele westliche Staaten – in den letzten Jahren den Nationalstaat aufgegeben. Er bezeichnet lediglich eine Struktur, aber nicht mehr die einst ideal gedachte Verbindung von Staat und Volk. Zwar gab es seit der Französischen Revolution stets Minderheiten, die aus dem Raster fielen. Doch gerade der Militärdienst zwängte diese Vielheit in die Einheit. Bekannt ist das Engagement der Juden im Ersten Weltkrieg, die im Graben von Verdun sich ihre eigentliche Emanzipation erhofften. Politische Partizipation und Dienst am Vaterland waren eng verknüpft wie in der Antike.

Solche Emanzipationsnarrative funktionierten jedoch nur, wenn nicht nur der Soldat sein Leben der Nation unterordnete, sondern sämtliche Teile der Gesellschaft die Nation als Wert an sich und übergeordnetes Gut empfanden. Der Dienst an der Nation war Gottesdienst. Die überwältigenden Fortschritte wie die Katastrophen des 19. und des 20. Jahrhunderts wären ohne die Erhebung der Nation zum definierenden Moment europäischer Gesellschaftsgeschichte nicht möglich gewesen.

Historisch betrachtet ist der Kalte Krieg eine konservierende Phase, die erstarrte Konventionen einer sich im Innern wandelnden Gesellschaft aufgepfropft hat. Die Wehrpflicht in den NATO-Staaten war nur nach außen hin eine „nationale“ Angelegenheit. In Wirklichkeit war die Nation seit dem Ende des „europäischen Bürgerkriegs“ tot. Das westliche Bündnis ist weniger national, denn politisch-ideologisch konnotiert. Der „freie Westen“ identifiziert sich durch „westliche Werte“. Die nationale Prämisse, das eigene Volk, den eigenen Staat, eben die Nation primär zu setzen, wird zugunsten einer supranationalen Identität aufgegeben.

Kein Nationalstaat ohne Nationalliberalismus

Das ist nicht nur von „oben“ verordnet gewesen. Der Prozess zeigte sich bereits im Zusammenhang mit der 1968er-Generation, der Friedensbewegung und der „anything goes“-Phase der 1990er bis in die frühen 2000er. Ähnlich dem Kulturkatholizismus gab es weiterhin eine vom nationalen Denken geprägte Gesellschaft; dieser „Kulturnationalismus“ bestand schon in dieser Phase aus Trägern, die längst nicht mehr den einst bestimmenden nationalen Gedanken verinnerlicht hatten. Die Bundeswehrzeit lebt als Geschichte absurder Anekdoten und Bierkameradschaft fort, einen Identifikationsmoment wies sie für die Mehrheit der Bevölkerung schon lange nicht mehr auf.

Die Verfechter des nationalliberalen Modells waren damit schon lange Zeit in der Minderheit, bevor Deutschland mit Verzögerung zu anderen NATO-Staaten die Wehrpflicht aussetzte. Ähnlich wie der klassische Parlamentarismus, der klassische Volksbegriff und die klassischen Freiheiten ist auch der Militärdienst Signet eines über zweihundert Jahre alten, nationalliberalen Modells, das mit Funktionärswesen, Anti-Nationalismus und Dekonstruktivismus an seine Grenzen gekommen ist. Das Modell beherrschte sowohl das „lange 19. Jahrhundert“ wie auch das „kurze 20. Jahrhundert“. Was das 21. Jahrhundert ist, weiß man dagegen bis heute nicht. 

Außerhalb Europas hat sich die Welt massiv gewandelt; die Rückkehr der Wehrpflicht erscheint da wie eine Rückkehr zur Normalität, da sie einer der letzten Grundpfeiler des „alten Staates“ war, den man wieder aufzurichten trachtet. Sie ist damit eine prinzipielle Frage: Wer Nationalstaat sagt, muss auch Wehrpflicht sagen. Das ist ein gefühlter Sieg im Abwehrkampf gegen den Rückbau des Nationalen – nicht nur angesichts Brüsseler Hegemonialbestrebungen. 

Politische Spaltung als willkommener Kollateraleffekt

Im Hinblick auf Drohnenkriege, hybride Kriegsführung, Cyberattacken und KI-Technologie erscheint die Diskussion um die Wehrpflicht jedoch nicht nur anachronistisch. Das zu assimilierende Milieu der breiten Migrantenschicht würde außen vor bleiben. Bereits in der jetzigen Bundeswehr gab es Vorgehen gegen „rechte Kreise“ – und nun will man die Verfassungsfeinde sogar einziehen? Wer soll dann am Ende überhaupt noch dienen – oder gibt es verpflichtenden Zivildienst?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Spaltung des Lagers rechts der Mitte ein „positiver Nebeneffekt“ ist, den man bereitwillig aufnimmt. Dass AfD, Influencer, Medien und Vordenker dieser Blase sich darüber zerstreiten, nehmen die Massenmedien bereits genüsslich auf – etwa, wenn man nun „Rechten“ vorhalten kann, Deutschland im Zweifel nicht verteidigen zu wollen. Dass derselbe Vorwurf im eigenen Lager kursiert, gießt Öl ins Feuer. 

Dabei ist der Punkt doch der folgende: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der politischen Linken hat darauf spekuliert, dass die „Rechten“ im Zweifel ihre Haut für den ungeliebten Staat hinhalten. Wenn sie sich dagegen wehren, haben höhere moralische Werte ihre Bedeutung; will ein Konservativer für die jetzige Regierung nicht kämpfen, dann ist er ein heuchlerischer Verräter. Aber würden denn etwa all jene von der FAZ, die nun ins Horn gegen die AfD wegen vermeintlicher Fahnenflüchtigkeit blasen, selbst zur Waffe greifen und das Vaterland unter einer AfD-Regierung verteidigen? 

Natürlich nicht. Denn das Gefühl der nationalen Einheit ist längst ideologischer Fragmentierung gewichen. Auf allen Seiten. Die Nation ist nur noch eine Option unter vielen. Auch die Wehrpflicht lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. 

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