Wen Tianxiang

Es wäre erstaunlich, wie wenig die Europäer über jene Männer und Frauen wissen, die in den langen Jahrhunderten der chinesischen Geschichte für Freiheit, Würde und nationale Selbstbehauptung einstanden, wenn das Abendland wenigstens noch die Erinnerung an seine eigenen Helden lebendig halten würde. So aber ist das offensichtliche Desinteresse an den großen Gestalten Ostasiens, deren Kämpfe in Adel und Tragik den unseren in nichts nachstehen, nur eine Facette des großen Ausscheidens unserer Zivilisation aus der gelebten Geschichte in das ewige „Jetzt“ der posthistorischen Konsumgesellschaft.

Dies scheint umso gefährlicher, als das geopolitische und bald wohl auch kulturelle Gleichgewicht unserer Welt sich zunehmend nach Osten verlagert und China bald (erneut) seinen Platz als dominanter ruhender Pol der Menschheit einnehmen dürfte: Der Kampf um die Selbstbehauptung des Abendlands ist angesichts dieser Aussichten zwar völlig legitim, es wäre aber absurd, ihn zu führen, ohne auch nur den Schein einer Ahnung von der Größe und den Besonderheiten unserer Nachbarn in Ostasien zu haben, wie dies leider gegenwärtig der Fall ist.

Zu den unzähligen großen Gestalten Chinas gehört zweifellos Wen Tianxiang, einer der letzten Minister der Song-Dynastie, dessen Lebensweg zwischen Widerstand, Folter, Entehrung und unerschütterlicher Treue bis heute als Inbegriff chinesischen Patriotismus verehrt wird und auch uns Abendländern ein Vorbild in schwierigen Zeiten sein sollte.

Ein Porträt von Wen Tianxiang.

Die späten Song – eine Kultur unter Druck

Wen Tianxiang lebte in einer historischen Epoche, die in China zu den schmerzlichsten gehört. Die Song-Dynastie, die über Jahrhunderte hinweg durch ihre kulturelle Raffinesse, ihre Verwaltungskunst, ihre Gelehrsamkeit und ihren technischen Fortschritt geglänzt hatte, befand sich im 13. Jahrhundert in einem ungleichen Ringen mit den Nomadenvölkern des Nordens. Die Khitan, die Jurchen, schließlich die Mongolen – sie alle standen der seßhaften Hochkultur der Han-Chinesen trotz einer oberflächlichen Übernahme chinesischer Technologie weiterhin in tiefer Fremdheit gegenüber: Ihre Reiche gründeten sich auf hochmobile Reiterkrieger, Stammesloyalitäten und den Kult persönlicher Stärke; der Staat der Song dagegen auf Literaturprüfungen, höfische Ritualistik und ein Ethos der zivilen Selbstkultivierung.

Ein solcher Kontrast war freilich nichts Neues, sondern vielmehr ein alter Charakterzug chinesischer Geschichte, mitsamt allen damit einhergehenden Gefahren: Die blühenden Perioden der Kultur und Wissenschaft gingen oft einher mit zunehmender militärischer Schwäche; und die Völker der Steppe sahen in der chinesischen Kunstfertigkeit nicht nur ein Objekt der Begierde, sondern auch ein Zeichen der Dekadenz, die es auszunutzen galt. Ob es nun die traumatische Niederlage der Westlichen Zhou war oder die allmähliche Vernichtung der Nachfolgereiche der Han durch die nördlichen Nomaden, die zu einer weitgehenden Mongolisierung des ursprünglichen Kerngebiets der chinesischen Zivilisation geführt hatte – immer wieder mußte die seßhafte, bürokratische chinesische Bauernkultur sich vor dem Ansturm der zahlenmäßig wenig beeindruckenden, aber kriegerischen und hochmobilen nördlichen Barbaren schützen; ein Kampf, der nicht ohne Grund in den stets erneuerten und ausgebauten „Großen Mauern“ seinen beeindruckendsten Niederschlag fand.

In den letzten Jahrzehnten der südlichen Song war die Lage besonders prekär. Innerlich ermüdet, äußerlich von den Jurchen bedrängt, mußte das Reich bereits große Gebiete im Norden aufgeben; und dann schließlich brach der Sturm los: Die Mongolen, angeführt von Dschingis Khans Enkel Kublai Khan, setzten an, China vollständig zu unterwerfen, um endlich ihr Ziel einer Eroberung des gesamten eurasischen Kontinents zu erreichen.

Ein Gelehrter wird zum Widerstandskämpfer

Wen Tianxiang wurde 1236 in einer angesehenen, aber nicht reichen Familie in Jiangxi geboren. Früh schon zeigte sich seine Begabung; er bestand die kaiserlichen Prüfungen mit Auszeichnung und wurde schrittweise in die höchsten Verwaltungsämter berufen – eine Laufbahn, die normalerweise mit einem ruhigen und zurückgezogenen Leben im Dienst des Reiches verbunden war. Doch die politischen Umwälzungen der Zeit ließen ihm keine Ruhe, und während viele seiner Kollegen am Hof der Song für einen Frieden oder doch eine Verständigung mit den Mongolen unter Kublai Khan eintraten, wollte Wen Tianxiang bedingungslos den Befreiungskrieg erreichen, was ihn zeitweilig sogar in Gegensatz zur herrschenden Dynastie brachte. 

Als 1276 die Mongolen Lin’an, die Hauptstadt der südlichen Song, einnahmen, bot Wen sich freiwillig als Gesandter an, um über die Bedingungen für eine mögliche friedliche Unterwerfung zu verhandeln, wie die Mongolen sie bereits vielen eroberten Völkern gewährt hatten. Die Mission war gefährlich: Sie sollte die Bevölkerung vor weiteren Zerstörungen retten, aber gleichzeitig die Würde der Dynastie nicht preisgeben und somit den Ausgangspunkt eines späteren erneuten Aufschwungs liefern.

Zur Überraschung der Mongolen erschien Wen nicht als Bittsteller, sondern als Fordernder: Er verlangte den Rückzug der Invasoren nach Norden als Vorbedingung eines möglichen Tributvertrags und wurde prompt wegen Insubordination gefangengenommen, während die Kaiserinwitwe ihrerseits die bedingungslose Kapitulation verkündete. Wen konnte dann aber fliehen, sammelte schließlich verstreute Song-Truppen um sich und wurde zu einer der letzten Stimmen des Widerstands; denn während sich viele Hofbeamte mit den neuen Herren arrangierten und die geschlagene Dynastie verrieten, weigerte sich Wen standhaft, die Mongolen als legitime Herrscher Chinas anzuerkennen. Er sah sich dabei nicht als Rebell, sondern als Bewahrer einer Ordnung, die bereits Jahrtausende Bestand gehabt hatte: Die Pflicht eines Ministers, so glaubte er, galt der Idee von Reich und Thron, nicht lediglich der Ausübung der Verwaltungsgeschäfte für jeden beliebigen Herrscher, der die Staatsmacht in seine Gewalt gebracht hatte.

In den Jahren 1276–1278 führte er daher einen unermüdlichen und verzweifelten Kampf, zunehmend aufgerieben und schlecht ausgerüstet, aber immer wieder getragen von der moralischen Überzeugung, nicht nur einen politischen, sondern auch einen zivilisatorischen Krieg zu führen. Er rettete dabei nicht nur die letzten kaiserlichen Prinzen, sondern sorgte auch für ihre Flucht nach Süden und versuchte, dort eine neue Basis des Widerstands aufzubauen. Doch die militärische Überlegenheit der Mongolen im Verbund mit der Resignation der Bevölkerung und der Verwaltungselite war schließlich überwältigend: Eine nach der anderen fielen die letzten Bastionen der Song; und schließlich geriet auch Wen erneut in Gefangenschaft. Es ist wohl auch diese Zeit des aussichtslosen Kampfes, die Wen zu folgendem Gedicht inspirierte:

Ich vertiefte mich in das Buch der Wandlungen, überwand große Schwierigkeiten

und kämpfte vier lange Jahre lang verzweifelt gegen den Feind.

Wie trostlose Weidenkätzchen sah das vom Krieg verwüstete Land aus.

Ich ging unter oder schwamm wie Wasserlinsen im Regen;

wegen der Gefahren am gefährlichen Strand stöhnte und seufzte ich;

auf der einsamen See fühlte ich mich jetzt trostlos und einsam.

Doch seit jeher gilt: Welcher Mensch hat gelebt und ist nicht gestorben?

Ich jedenfalls will einen treuen Namen in der Geschichte hinterlassen.

Gefangenschaft, Folter und unbeugsame Treue

Kublai Khan allerdings schätzte bekannterweise Talent und Kompetenz, die zur Verwaltung der gewaltigen eroberten Gebiete auch dringend notwendig waren, und versuchte daher, Wen zur Zusammenarbeit zu überreden. Immer wieder bot man ihm hohe Ämter an, sichere Stellungen und Reichtümer, wenn er sich nur zur Kollaboration entschließen wollte – eine Karriere, wie so manche seiner Kollegen sie längst angenommen hatten. Doch Wen Tianxiang lehnte jedes Angebot entschieden ab, selbst, als seine eigene Familie Druck auf ihn ausübte. Seine Antwort ist in ganz China berühmt geworden; ein Gedicht, das er in der Gefangenschaft verfaßte und das nach seinem Tode aufgefunden wurde:

Konfuzius sprach davon, Güte zu erlangen,

Mencius sprach davon, Gerechtigkeit zu wahren.

Doch nur wenn Gerechtigkeit vollständig verwirklicht ist,

kann Güte wirklich erreicht werden.

Nachdem wir die Klassiker der Weisen gelesen haben,

was haben wir gelernt?

Mögen wir von diesem Tag an

danach streben, ohne Scham zu leben.

Nach drei Jahren in der Gefangenschaft verloren die Mongolen schließlich die Geduld und verhängten das Todesurteil, zumal der Widerstand in Südchina immer stärker wurde und eine Rebellion mit dem Ziele der Befreiung des standhaften Ministers losgebrochen war: 1283 wurde Wen Tianxiang in Peking hingerichtet.

Die Nachwirkung – ein chinesischer Märtyrer

Wen Tianxiang wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem Symbol des chinesischen Patriotismus: Schon 1376, nachdem die Mongolen endlich vertrieben worden waren, errichtete Kaiser Hongwu der Ming-Dynastie dem standhaften Minister ein bis heute erhaltenes Denkmal an der Stätte seiner Hinrichtung; konfuzianische Gelehrte sahen in ihm das vollendete Beispiel eines Ministers, der seinem Land im Angesicht des Usurpators treu geblieben war; Volkslieder besangen seinen Mut; Tempel wurden ihm geweiht; seine Schriften gehörten lange Zeit zum moralischen Bildungskanon der Elite.

Denn der Fall der Song war nicht nur ein politischer Umbruch, sondern ein kultureller Schock. Viele empfanden den Sieg der Mongolen als Zeitenwende – das Ende einer zivilisatorischen Epoche, die sich von der schweren Zeit nach dem Sturz der Han über die Größe der Tang bis hin zum Glanz der Song erstreckte und nun in der nationalen Erniedrigung der Eingliederung des „Lands der Mitte“ in ein mongolisch dominiertes eurasisches Großreich einen jähen Abbruch gefunden hatte. 

Die Gestalten, die in jener Übergangszeit für die alte Ordnung einstanden und die Saat für die Vertreibung der Mongolen legten, gewannen dadurch eine fast übernatürliche Bedeutung. Wen Tianxiang wurde zu einer Art moralischem Nordstern und diente späteren Dynastien immer wieder als Beispiel dafür, daß China nicht durch Gewalt, sondern allein durch Loyalität und eine geteilte Zivilisation zusammengehalten werden konnte – und daß die Würde eines Volkes nicht allein am militärischen Erfolg gemessen werde, sondern am Mut, im entscheidenden Augenblick „Nein“ zu sagen.

Selbst in der Moderne, durch Republik und Kommunismus hindurch, behielt Wen seinen Platz als überparteilicher moralischer Bezugspunkt. Seine Gedichte und letzten Worte sind in China fast so bekannt wie die großen alten Klassiker; seine Standhaftigkeit gehört zu den Grundsteinen des nationalen Selbstverständnisses.

Doch Wen Tianxiangs Leben ist nicht nur aus einer innerchinesischen Perspektive interessant, verweist es doch auf eine Einsicht, die in jeder Epoche und jeder Zivilisation neu verstanden werden muß: nämlich daß nicht jede Regierung, die sich legal an die Macht bringt, damit auch moralisch legitim ist. Die Mongolen hatten gesiegt, aber sie waren in den Augen vieler Chinesen darum trotzdem keine rechtmäßigen Herrscher. Ein Volk hat das politische Recht, seiner eigenen Kultur gemäß regiert zu werden, und die völkerrechtliche Pflicht, sich allen Formen der Herrschaft zu widersetzen, die seine Identität bedrohen – selbst wenn der Widerstand aussichtslos erscheint.

Auch wir leben in einer Zeit, in der Macht oft als Selbstzweck erscheint, in der es so aussieht, als verkaufe eine ganze politische Elite die Interessen ihrer Völker an Menschen völlig fremder Kulturkreise, und in der politische Legitimation zunehmend von Verfahrens- und Machtfragen abhängt, nicht von inhaltlicher Übereinstimmung mit den Bedürfnissen oder gar der Identität der Bevölkerung. 

Wen Tianxiang erinnert uns daran, daß Legitimität einen moralischen und zivilisatorischen Kern hat, der nicht durch Gewalt, Bürokratie oder Zahlen ersetzt werden kann. Er erinnert uns ebenso daran, daß es Situationen gibt, in denen es moralisch falsch wäre zu kapitulieren oder sich mit der Macht zu arrangieren. Nicht jeder Widerständler siegt, aber jeder aufrechte Mensch schafft einen Raum, in dem die Wahrheit überdauern kann. Und manchmal, wie in Wens Fall, ist es gerade das Scheitern, das ein ganzes Volk zum Widerstand veranlassen kann.

Dawid Engels - Widerstand und EhreDer Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Widerstand und Ehre – 12 neue Lebensbilder der Freiheit veröffentlicht.

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