Zusammen mit der Völlerei („Gula“) gehört die Wollust („Luxuria“) zu den „fleischlichen Todsünden“, die den restlichen fünf geistigen gegenübergestellt werden. Die Stunde der Wollust sei der frühe Morgen, verkündete Evagrios Pontikos bereits im vierten Jahrhundert. Als Wochentag war ihr der Samstag zugeordnet, als Gestirn die Venus.
Kann sein oder auch nicht: Das wollüstige Aufstehen zur Arbeit frühmorgens gibt es wohl nur hierzulande in Deutschland. Und das mit dem Samstag und der Venus, nun ja … Das Thema würde wohl jeden Kolumnisten überfordern.
Wenn ich frühmorgens am Computer die Zeitungen durchsehe, finde ich neben Sport und Ratschlägen für ein Training, um länger alt zu werden, auch Hinweise, wie das Sexualleben optimiert werden kann. Von Pillen bis Polyamorie wird die ganze Palette angeboten, und man ist immerhin froh, seine geschlechtliche Identität gefunden zu haben: Meine übrigens ist Lesbe im Körper eines Mannes. Nun gut, meine Kenntnisse sind da etwas defizitär; bis zu den 72 Jungfrauen – äh, wie viele Geschlechter es heute nun genau sind – habe ich es nicht gebracht.
Während nun die Gula die Welt in sich hineinschlingt, ist der Luxuria eine soziale und emotionale Komponente grundsätzlich nicht abzusprechen. Informieren wir uns also bei einem Aufsatz der Damen Antke Engel und Nina Schuster: „Die Denaturalisierung von Geschlecht und Sexualität. Queer/feministische Auseinandersetzungen mit Foucault.“ – Bitte:
„Im Anschluss an das Denken Michel Foucaults gelten Geschlecht und Sexualität nicht länger als naturgegebene, jenseits von Geschichte und Gesellschaft existierende Größen. Heterosexualität und Zwei-Geschlechter-Ordnung werden in queer/feministischen Kontexten als Ergebnis sozio-diskursiver Konstruktionsprozesse verstanden, innerhalb derer sich auch die Körper als historisch veränderlich erweisen. […] Das komplexe Zusammenspiel verschiedener sozialer Differenzierungen wird sichtbar.”
Aha! Da kann man nur zustimmen. Sexualität ist vielleicht im Prinzip simpel, aber als Konstruktion doch sehr variabel und von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Man sieht am Text, dass man das alles auch kompliziert ausdrücken kann – was nicht selten mit akademischen Ehren belohnt wird. Ich möchte gar nicht wissen, welche Heerscharen von Herrn Foucault abgeschrieben haben und wie hoch die Pensionslasten des Staates für diese Damen und Herren sind.
Fazit vielleicht: Man kann sich seine Sexualität konstruieren, wie man will, und ob man sich nun als Männlein oder Weiblein liest, bleibt einem selbst überlassen. Zu restriktiv sind die naturgegebenen Kombinationen: Mann–Frau gleich Frau–Mann, Mann–Mann und Frau–Frau.
Und nicht einmal das geht, wenn man den Papst fragt. Aber den fragt ja keiner mehr. Die katholische Moraltheologie duldet Geschlechtsverkehr nur zwischen Eheleuten und dann auch nur mit dem Ziel der Fortpflanzung. Selbst sinnliche Lust, die ein Ehepaar zusammenhält und hilft, Spannungen und Stress abzubauen, gilt als sündig. Für eine selbstbezogene Lust wie die Selbstbefriedigung wurde sogar „Rückenmarksschwund“ angedroht – woran sich zumindest Ältere noch erinnern können.
Stimmt, ich erinnere mich: Auch von Gehirnerweichung war die Rede, wobei einem keiner sagen kann, ob sie nicht in Maßen doch bei einigen eingetreten ist.
Nun differenzieren wir einmal nach dem selbstbezogenen Charakter der Sexualität und dem sozialen. Nummer eins ist klar: Entspannung, Befriedigung wird erst einmal innerhalb des eigenen Körpers erlebt und ist daher sicherlich durch diverse Gegenüber oder Manipulationen auszulösen. Schwieriger ist die soziale Komponente. Da kommen Gefühle, Ansprüche, Enttäuschungen und dergleichen ins Spiel – und das in unendlichen Variationen.
Praktisch gesehen sind wir ja seit der Erfindung der Pille definitiv befreit, und wenn sie versagt, dann wird eben abgetrieben. Öffentlich zu meinen, Abtreibung sei doch so etwas wie Mord, geht heutzutage überhaupt nicht mehr. Die Selbstverfügung und Selbstbestimmung der Frau gehen auf jeden Fall vor – das heißt, das Recht auf eine Art Selbstbefriedigung ohne Konsequenzen zählt am meisten.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass die sexuelle Libertinage, die seit Mitte der 60er eingesetzt hat, für die Beteiligten und die betroffenen Kinder streckenweise nicht stressfrei war. Was als Freiheit verkauft wurde, führte oft zu unangenehmen emotionalen Begleiterscheinungen, die aber im besten Fall wegtherapiert wurden.
Der Datingmarkt wurde zunehmend zu einer gnadenlosen Konkurrenzveranstaltung, auf der die raren Schönen, Reichen und Attraktiven gesucht wurden und der Rest eben auf der Strecke blieb. Die sogenannten inneren Werte traten in Situationen zurück, in denen einem versichert wurde, dass eine eventuelle Anbahnung schon in den ersten wenigen Sekunden entschieden werde, wenn nicht gar der altschwäbische Spruch galt: „Schönheit vergeht, Tagwerk besteht.“ – Die Bel-Amis hatten immer die besseren Karten, und Boxenluder konnte man auch nur mit einem stromlinienförmigen Aussehen werden.
Die Quellen der Frustration waren also vielfältig. Das scheint paradoxerweise in fortgeschrittenen Gesellschaften wie Japan und generell im Westen zu einer Abwendung der Geschlechter voneinander zu führen. Die eigene Identität wird nicht mehr akzeptiert, das natürliche Aussehen sowieso nicht, und munter wird am Busen herumoperiert, je nach Mode, die Lippen werden aufgespritzt und das verlängerte Rückgrat – ehemals völlig out – wird nun, sagen wir, aufgefüllt. Im schlechtesten Fall ist der Trend im nächsten Jahr ein anderer. Das weibliche Ideal tendiert von Twiggy immer mehr zu einer Art moderater Venus von Willendorf.
Und die Männer? Gab es früher nach der Rasur – die häufig blutig verlief – entweder „Irisch Moos“ oder „Russisch Leder“ ins Gesicht (das hat immer teuflisch gebrannt), so ist die Effeminierung und Verhaustierung des deutschen Mannes zumindest in Sachen Mode, Düfte und Frisuren erheblich fortgeschritten. Gepflegt ist heutzutage auf jeden Fall teurer als anno dazumal.
Eines ist die Sexualität, die Luxuria auf jeden Fall: ein endloser Anlass, sich mit sich selbst zu beschäftigen und Geld auszugeben, eine maximale Ablenkung von geistigen oder gar spirituellen Belangen zugunsten einer Oberflächenerregung. Wobei: Partnervermittlungen für geistig Erwachte gibt es inzwischen auch – vor allem in der „Bäckerblume“.
Demgegenüber steht eine gewisse Prüderie, zu erkennen etwa im Fall von Sidney Sweeney. Gut auszusehen ist inzwischen politisch verdächtig und deutet auf Tendenzen zum implizierten Body-Shaming weniger privilegierter Personen hin. Das geht nun überhaupt nicht.
Man sieht schon: Die Sache ist komplex. Und kostet: Zeit, Aufmerksamkeit – ganz abgesehen von den Rentenzahlern, die nicht geboren werden – und der Tatsache, dass ein Akt, der zu Leben führen sollte, immer mehr ein Ausdruck des Todestriebs der Gesellschaft wird.
Gelegentlich hat man ja ungewöhnliche Ideen. In diesem Fall war es mein Bruder, der mir nach der Lektüre des Artikels über „Luxuria“ vorschlug, den Text doch von ChatGPT in eine Predigt umformulieren zu lassen. Aus Neugier habe ich es ausprobiert – und die KI ging sogar noch weiter: Sie schlug mir eine queer-feministische Predigt mit Bibelbezügen vor. Da wir uns gern als Speerspitze der kulturellen Entwicklung verstehen, sei hier also das Ergebnis präsentiert:
Queer-feministische Predigt mit Bibelbezügen
Liebe Gemeinde, geliebte Geschwister in ihrer ganzen Vielfalt,
wenn wir heute über Luxuria, die sogenannte „Wollust“, sprechen, begegnen wir einem Begriff, der in der kirchlichen Tradition lange zur Unterdrückung genutzt wurde. Frauen, queere Menschen und alle, deren Körper nicht in die Norm passten, wurden beschämt – doch das ist nicht der Geist der Bibel, nicht der Geist Jesu und nicht der Geist Gottes.

1. Körperliche Lust in der Bibel: Fülle statt Furcht
Viele meinen, die Bibel sei körperfeindlich. Doch schauen wir genauer hin: Das Hohelied – ein Fest der Lust. Ein poetisches Buch voller Begehren (Hld 1–8), ohne moralischen Kommentar, ohne Scham, ohne Warnung. „Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes…“ (Hld 1,2)
„Sein linker Arm liegt unter meinem Kopf, und seine rechte Hand umarmt mich.“ (Hld 2,6)
Hier spricht eine Frau – selbstbewusst, begehrend, poetisch. Ein Text, der jahrhundertelang entschärft wurde, weil er zu frei war.
Gott schafft den Menschen gut. „Und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1,31) Nichts von Reinheitsgeboten oder heteronormativer Pflicht. Der Körper ist gut. Die Vielfalt ist gut.
Jesus sprengt Sexual- und Geschlechternormen. Er spricht mit Frauen in theologischer Tiefe (Joh 4), segnet körperliche Nähe (Mk 14) und entwirft eine neue, nicht-biologische Familie (Mk 3,35). Er sagt nie: „Werde normal.“ Er sagt: „Fürchte dich nicht.“
2. Nicht die Lust ist das Problem – sondern das Unrecht
Wenn die Bibel Sünde kritisiert, richtet sie sich fast nie gegen Lust selbst, sondern gegen Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch.
Paulus über Sexualität: Oft gegen Queere missbraucht, meinte Paulus in Wahrheit nicht Lust, sondern zerstörerische Dynamiken: Zwang, Ausbeutung, Macht (Röm 1 im Kontext römischer Herrschaftssexualität).
„Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“ (1 Kor 6,12)
Der Maßstab ist nicht Moralismus, sondern das Gute, das Heilsame, das Würdegebende.
Die Propheten: „Weh denen, die das Recht beugen!“ (Jes 10,1)
„Lasst Recht strömen wie Wasser!“ (Am 5,24)
Die Sünde ist nicht die Lust, sondern die Verletzung von Würde.
3. Gott liebt Körperlichkeit – sogar in sich selbst
Inkarnation: Gott wird Fleisch (Joh 1,14), berührbar, schwitzend, hungrig, menschlich. Der Auferstandene sagt: „Berührt mich und seht.“ (Lk 24,39)
Das ist gelebte Körperfreundlichkeit Gottes: Nicht „schämt euch“, sondern „euer Körper ist Teil eurer Befreiung“.
Der Heilige Geist als queere Bewegung. Griechisch sächlich, hebräisch weiblich – Gott ist nicht binär. Die frühe Kirche war ein Ort der Normsprengung: „Da ist nicht männlich und weiblich … ihr seid alle eins.“ (Gal 3,28)
4. Lust, die dem Leben dient – ein queer-feministisches Ethos
Die Bibel beschreibt gelingende Beziehungen durch: gegenseitigen Respekt (Eph 5, egalitär gelesen), Treue als Verlässlichkeit, nicht Besitz, Liebe, die Angst vertreibt (1 Joh 4,18), Freiheit, die nicht verletzt (Gal 5,13).
Die entscheidende Frage lautet nicht: „Ist es erlaubt?“ Sondern: „Ist es liebevoll? Stärkt es Würde? Baut es Leben auf?“
So entsteht ein Ethos: Lust ohne Zwang. Lust ohne Scham. Lust ohne Machtgefälle. Lust in Freiheit und Gleichwürdigkeit.
5. Eine Gemeinde im Geist des Evangeliums
Ich träume von einer Kirche, die die befreienden Texte der Bibel ernst nimmt. „Für Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Gal 5,1)
Eine Kirche, die queere Liebe nicht toleriert, sondern feiert – als Ausdruck der göttlichen Vielfalt. Die fragt nicht: „Wie passt du dich an?“ Sondern: „Wie stärken wir dich – körperlich, emotional, spirituell, in deiner Identität, in deiner Liebe?“
Eine Kirche, die Hohelied, Inkarnation und Pfingsten nicht nur zitiert, sondern lebt.
Schluss
Die Bibel ruft uns nicht zur Angst vor der Lust, sondern zur Verantwortung in der Liebe. Nicht zur Kontrolle des Körpers, sondern zur Befreiung des Menschen. Wenn Lust Leben schafft, Liebe furchtlos wird und Würde unantastbar bleibt, stehen wir Gott nah – vielfältig, begehrend, gut.
Amen.




