Es war schon vor einem Jahr falsch, zum 63. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961. Aber jetzt wird es so richtig peinlich. Unser Außenminister Johann Wadephul, der uns vom nationalen Trauma Annalena Baerbock erlösen sollte, strebt ihr mit voller Kraft nach. Der Zeitung Hürryet erzählte er jüngst bei seinem Besuch in der Türkei: „Es waren Menschen aus der Türkei, die das Wirtschaftswunder möglich gemacht & Deutschland mit aufgebaut haben.“
Ein deutscher Außenminister, der keine Ahnung von der Geschichte wenigstens der letzten 70 Jahre hat? Es steht zu befürchten, dass er nicht der einzige aus der Riege Merz ist, für den Deutschland eine Schimäre ist.
Nichts davon stimmt, was Wadephul sich wohl als Schmeichelei gegenüber Erdogan gedacht hatte. Die Geschichte verlief völlig anders. Es gab damals keinen Mangel an Arbeitskräften in Deutschland, zumal das „Wunder“ sich längst ereignet hatte. Das Abkommen erfolgte nicht aus wirtschaftlichen Gründen, jedenfalls nicht auf Seiten Deutschlands, es war von der NATO gewünscht, der Deutschland 1955 beigetreten war, die Türkei lag schließlich an der Südostflanke zur Sowjetunion. Und die verarmte und rückständige Türkei wusste nicht wohin mit den vielen Arbeitslosen. Die knappe Million ungelernter Kräfte, überwiegend aus Anatolien, bewirkte keinerlei Wunder, sie hielt veraltete Industrien wie den Kohlebergbau am Leben.
Wer oder was also schuf das deutsche Wirtschaftswunder nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs? Die Bombenangriffe der Alliierten legten vor allem Städte und Wohnviertel nieder, nicht etwa Industrieanlagen. Niemand käme auf die Idee, den sinnlosen Angriff auf die Lebenswelt der Zivilbevölkerung als Glücksfall zu bewerten – und dennoch: Er erwies sich als „schöpferische Zerstörung“, er erzwang Modernisierung. Die Infrastruktur war im Zuge des Wiederaufbaus (im Laufe von zehn Jahren!) auf dem modernsten Stand – im Unterschied zu den Siegern wie Großbritannien. Die deutsche Industrie fand damit zunächst Abnehmer im eigenen Land und profitierte bald auch von steigenden Exporten, verursacht durch die geringen Produktionskosten in Deutschland. Das Jahr 1955 wurde zum wachstumsstärksten Jahr der deutschen Geschichte – zehn Jahre nach Ende des Krieges! Die Wirtschaft wuchs um 12,1 Prozent, die Reallöhne stiegen um zehn Prozent, der Konsum wurde angekurbelt – und die Deutschen wurden zur Autofahrernation. Am 5. August 1955 ging der einmillionste VW Käfer vom Band.
Wer also? Wer schuf das Wirtschaftswunder? Die Antwort ist offenbar nicht wohlgelitten: Es waren die Deutschen selbst, unterstützt von Währungsreform, Marshallplan und Erhards sozialer Marktwirtschaft.
Vielleicht half die Motivation vieler Deutscher, die Last der eigenen Schuld und der eigenen Not hinter sich zu lassen und nur noch „nach vorne“ zu blicken. Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen! Verdrängung kann ein gewaltiger Motor sein. Und was 1945 erst als ungeheure Bürde erschien, erwies sich schnell als Segen: die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, die man im Westen unterbringen musste. Acht Millionen mussten bei den Westdeutschen „einquartiert“ werden, was diese fremden Deutschen nicht beliebt machte. Doch sie waren oft gut ausgebildet und konnten und wollten arbeiten. Überdies gab es eine starke Abwanderung aus den sowjetisch besetzten Gebieten und der späteren DDR in die westlichen Zonen, die meisten von ihnen waren überdurchschnittlich qualifiziert: Hunderttausende von Akademikern, Selbstständigen und Handwerkern gelangten bis zum Mauerbau 1961 in den Westen.
Kurz: Man musste mit diesem Arbeitskräftepotential nicht auf die halbe Million türkischer Gastarbeiter warten. Warum also solche Geschichtslügen, verbreitet von der deutschen Regierung? Um sich bei Erdogan einzuschmeicheln? Oder um, wovon ich eher ausgehe, die deutschen Untertanen zu deckeln, deren Leistung offenbar nicht der Rede wert ist?
Der Affekt gegen das deutsche Volk, dem sich die Regierungsmitglieder im Amtseid eigentlich verpflichtet haben, wird langsam zum Grundzug ihrer Politik. Dass von Bismarck (oder Luther!) ein mehr oder weniger gerader Weg zu Hitler führt, war bei linken Historikern, oft aus der DDR inspiriert, schon lange ein Schlager. Das Kaiserreich, in dem Deutschland zu einer führenden Wirtschaftsnation aufstieg, was Frankreich und Großbritannien durchaus nicht gefiel, wird noch immer gern mit Spötteleien über Wilhelm II. abgetan, mit dem britischen Vorwurf eines „preußischen Militarismus“ belegt, garniert mit dem Verweis auf Heinrich Manns „Untertan“, eine Romanfigur, keine realitätsnahe Analyse.
Und wie war das noch mit den deutschen Kolonialverbrechen?
Auch hier wieder das Außenministerium an vorderster Front. Man denke an Annalena Baerbock und Claudia Roth, wie sie stolz auf die eigene Güte am 20. Dezember 2022 in die nigerianische Hauptstadt Abuja reisten, um die „eigene koloniale Vergangenheit“ aufzuarbeiten. Im Gepäck die sogenannten Benin-Bronzen, die besonders wichtig für „die Menschen in Nigeria“ seien, „weil es nicht nur Kunststücke sind, nicht nur kulturelles Erbe, sondern auch ein Stück von Identität“.
Wer, fragt man sich da, arbeitet eigentlich den Außenministern zu, versorgt sie also mit dem nötigen Wissen? Etwa über Nigeria: Es war nie eine deutsche Kolonie. Das Land hat 230 Millionen Einwohner aus etwa 250 Ethnien, man spricht 514 verschiedene Sprachen und Idiome, weshalb die Bronzen, wie der Namen schon sagt, lediglich den Nachfahren des Königreichs Benin irgendwie ein kulturelles Erbe sein könnten oder ein Stück Identität. Dem nigerianischen Volk wurden die Bronzen konsequenterweise keineswegs zugänglich gemacht, sie verschwanden unverzüglich in irgendeiner Kammer der Erben von Benin.
Und dieses Königreich Benin war im 16. Jahrhundert ein Hauptzentrum des Sklavenhandels und berüchtigt durch Menschenopfer bei Festlichkeiten. Die Bronze der Skulpturen gewann man aus den bronzenen Reifen, mit denen die Käufer der Sklaven bezahlten. Eigentlich müssten die Bronzen vor allem den Nachfahren dieser Sklaven als Teil „kultureller Identität“ zugänglich gemacht werden. Immerhin werden in Nigeria jetzt Repliken ausgestellt.
Nun, wenigstens am Genozid an den Herero in Namibia, als Deutsch-Südwestafrika eine deutsche Kolonie von 1884 bis 1915, waren wir schuld! Ein deutscher Historiker, der seine Weisheit offenbar von einem DDR-Historiker bezog, malt eine gerade Linie vom Genozid an den Herero zum Genozid an den Juden. (Jürgen Zimmerer, von Windhoek nach Auschwitz). Die deutsche Schutzmacht, die sich mit den Herero am Waterberg 1904 Scharmützel lieferte, nachdem diese 130 weiße Farmer ermordet hatten, war indes keine unbesiegbare Kampfmaschine, sondern durch Krankheit und Hunger geschwächt. Und wurden die Herero tatsächlich von ihnen in genozidaler Absicht in die wasserlose Omaheke getrieben? Oder entwichen die Herero dorthin, wo sie jedes Wasserloch kannten, um zu den Engländern nach Botswana zu gelangen?
Egal. Was tut man nicht alles für eine knallige These!
Auch die These von der deutschen „Schuld“ am Ersten Weltkrieg hat die treuesten Anhänger in Deutschland, bei jenen, die sich Nationalgefühl oder Patriotismus streng verboten haben, das Land ist es ihnen nicht wert. Dabei ist „Schuld“ eine Kategorie, die bis zum Weltkrieg nicht galt, schließlich kam es im kriegerischen Kräftemessen auf eine Entscheidung an, die nichts über den Wert oder Unwert der unterlegenen Seite besagte. Mittlerweile ist die Moralisierung des Krieges üblich geworden, als Krieg der Guten gegen die Bösen, was eine Einigung zum Frieden notwendigerweise erschwert, ja, es heißt mittlerweile, mit der Gegenseite (etwa Russland) dürfe man gar nicht erst sprechen.
Die Briten erklärten 1914 den „preußischen Militarismus“ zum Kriegsgegner – als so eine Art „Volk unter Waffen“, wobei Clausewitz den „Mahdi der Massen“ abgab, der den „Totalen Krieg“ erfunden habe. Im „Totalen Krieg“ ist der Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten ausgelöscht, weshalb auch die Zivilbevölkerung mit Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen hatte.
Solche (und andere) skrupellose britische Propaganda wurde bereits im Jahre 1928 von Baron Arthur Ponsonby analysiert und zurückgewiesen. Nur viele Deutschen glauben noch heute (fast) jedes Wort. Bei britischen Historikern liest man es schon lange anders, nicht erst seit Christopher Clarks „Schlafwandlern“.
Und dass auch andere Interessen und andere Spieler auf den Krieg setzten – ach nein, wir lassen uns unsere Exklusivschuld nicht nehmen.
Wer so wenig von deutscher Geschichte und Kultur hält, kann keinen Respekt von denen erwarten, die seit 2015 in großer Zahl hier anlanden, und die auf den mangelnden Respekt der Deutschen vor ihrer Geschichte – ach was: vor sich selbst! – mit Respektlosigkeit reagieren. Wie soll man sich in ein Land integrieren, das, außer Sozialleistungen, so wenig zu bieten hat?
Das Denken „in historisch gewachsenen Loyalitäten“ gilt hierzulande als anrüchig, es gibt keine „Erinnerungsgemeinschaft“. Doch wie soll man ohne eine solche sich selbst oder gar noch andere Länder verstehen? Thomas Hartung schrieb: „Wer die älteren Epochen aus dem Geschichtsunterricht verbannt, amputiert die Erinnerung einer Nation.”
Man muss sich ja nicht gleich neue positive Mythen erfinden, aber die negativen Legenden ergeben keine Basis für irgendein Zusammengehörigkeitsgefühl. Deutschland, ein Zombie, ein kultur-, geschichts-, und willenloses Wesen.
Menschen, Akademiker, Denker, Schriftsteller, die das schon lange ungut finden, haben sich in einem jüngst erschienenen, von Cora Stephan herausgegebenen Buch versammelt, um das eine oder andere richtigzustellen: Peter J. Brenner, Rainer F. Schmidt, Mathias Brodkorb, Michael Klonovsky, Alfred Schlicht und Volker Seitz. „Deutsche Legenden – wer schreibt unsere Geschichte?“, erschienen im Buchhaus Loschwitz.