Emersons vergessene Botschaft

Hundert Tage Friedrich Merz – und es macht sich Ernüchterung breit. Der Kanzler, mit großen Worten von „Bürokratieabbau“ und „wirtschaftlicher Entfesselung“ angetreten, hat bisher wenig eingelöst. Unternehmen wie Bürger hatten gehofft, nach Jahren grüner Reglementierung und energiepolitischer Zickzacklinien würde nun ein frischer Wind wehen. Doch von den Wahlversprechen ist nichts übrig geblieben, das Muster ist dasselbe wie vorher: Ankündigungen vor der Wahl, die konsequente Ampelisierung nach der Wahl.

Dabei hätte der Befreiungsschlag bitter nötig getan. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte das vollständige Kernkraft-Aus in enger Abstimmung mit Think Tanks wie der Agora Energiewende forciert – eine Politik, die nicht nur von Bürokratismus und Vetternwirtschaft durchdrungen war, sondern auch Zweifel an der wissenschaftlichen Redlichkeit weckte. Studien, die ein Festhalten an der Kernkraft nahelegten, wurden übergangen oder kleingeredet. Gesetze wie das Heizungsgesetz entpuppten sich als Symbole einer Politik, die mehr auf Verbote und Lenkung setzte als auf Vertrauen in Eigeninitiative und Märkte.

Und nun? Nützen Wahlen überhaupt etwas? Unter Merz bleibt die deutsche Politik fixiert auf Verwaltung, Kontrolle, Regulierung. Wahlen haben das Gesicht der Regierung verändert, aber nicht die Politik. 

Genau an diesem Punkt hilft ein Rückgriff ins 19. Jahrhundert. 1894 erstmals ins Deutsche übersetzt formuliert Ralph Waldo Emersons Essay „Self-Reliance” eine Botschaft, die eine Antwort auf den gegenwärtigen Etatismus gibt: Freiheit ist kein Geschenk des Staates, sondern ein moralischer Zustand, der im Einzelnen selbst beginnt. Insofern könnte die gegenwärtige Politik als vollkommen unmoralisch bezeichnet werden.

Ein ungebetener Gast aus Amerika

Da kam eine Stimme aus dem Amerika des 19. Jahrhunderts herüber, die im preußisch geprägten Deutschland wie ein seltsamer Gast wirkte. Heute löst er in der angeblich progressiven Gesellschaftsblase des Landes entweder Befremden aus, oder wird vereinnahmt. Dabei war dieser Individualist ein Prediger, der die Kanzel verlassen hatte, um das Einzelwesen zur eigenen Kanzel zu machen. 

Emerson, Sohn und Enkel protestantischer Geistlicher, hatte Theologie studiert und stand kurz im Dienst der Kirche, bevor er sich von ihr löste. Der Grund war nicht Gottlosigkeit, sondern die Überzeugung, dass religiöse Wahrheit nicht in Riten oder Institutionen wohnt, sondern im Gewissen jedes Einzelnen. Und was die Kirche dem Amerikaner des 19. Jahrhunderts war, ist heute dem Deutschen der Glaube an die Institutionen.

Emersons war nicht zufällig ein Prophet des Individuums. Er wuchs in einem geistigen Klima auf, in dem Predigt, Bibelauslegung und moralische Selbstprüfung tägliche Praxis waren. Schon als Kind hörte er auf der Kanzel seines Vaters, dass der Mensch vor Gott für sich selbst stehen muss. Später, als unitarischer Pastor in Boston, predigte er die Nüchternheit einer Vernunftreligion, die ohne übernatürliche Drohungen auskommt. 

Doch je länger Emerson im Amt war, desto mehr dachte er: Eine Kirche, die Gott nur noch durch formalisierte Riten vermittelt, verfehlt das Wesentliche nun. Ist eine Wahl mittlerweile unter Umständen auch eine säkularisierte Form eines formalisierten Ritus?

Der Bruch kam 1832, als er das Abendmahl verweigerte – nicht aus Ablehnung des Glaubens, sondern weil er es für ein leeres Symbol hielt. Emerson verließ die Kanzel, aber blieb Prediger, fortan im öffentlichen Leben. Seine neue „Kirche“ war der Vortragssaal, seine „Bibel“ das Gewissen des Einzelnen. Wenn er sagt „Trust thyself“ – vertraue dir selbst –, dann spricht er nicht vom Selbst als Bauchgefühl oder kurzfristige Emotion, sondern vom Selbst als dem innersten Ort, an dem das Göttliche unmittelbar anwesend ist. Und weil dieses Göttliche nicht von außen oktroyiert werden kann, ist Freiheit niemals Verwaltungsstatus oder politische Gefälligkeit, sondern ein moralischer Zustand, der aus innerer Wahrhaftigkeit erwächst. „Nothing can bring you peace but yourself. Nothing can bring you peace but the triumph of principles.“, so schließt die englische Originalfassung des Essays „Self-Reliance”. Der Frieden, von dem Emerson spricht, ist nicht käuflich, nicht delegierbar. Er entsteht aus der Treue zu den eigenen Überzeugungen.

Gemeinschaft von innen nach außen

„Whoso would be a man must be a nonconformist.“ – wer ein Mensch sein will, muss ein Nonkonformist sein. Das ist der Punkt, an dem Emersons Denken seine eigentliche positive Idee entfaltet: Freiheit als Haltung eines moralisch integren Individuums. Nicht Institutionen, nicht Gesetze, nicht Mehrheitsmeinungen können von sich aus eine gerechte Ordnung schaffen, sie sind nur so stark wie die Menschen, die sie tragen. Gemeinschaft muss von innen nach außen gedacht werden: Erst wenn der Einzelne aus eigener Einsicht und innerer Wahrhaftigkeit handelt, kann er sich sinnvoll mit anderen verbinden. 

Gemeinschaft ist daher kein Ausgangspunkt, sondern Ergebnis, freiwilliges, auf moralischen Prinzipien basierendes Zusammenwirken von Menschen, die in sich gefestigt sind. Ein Staat, der aus solchen Individuen besteht, braucht weniger Zwang und Bürokratie, weil er auf der Stabilität und dem Verantwortungsbewusstsein seiner Bürger ruht.

„The centuries are conspirators against the sanity and authority of the soul.“ – die Jahrhunderte verschwören sich gegen die Vernunft und Autorität der Seele. Dieser Satz findet sich relativ weit am Anfang des Schriftstückes. Emerson schrieb ihn 1841 in einem Amerika, in dem Demokratie nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als tägliche Übung galt. 

Hierzulande ist das Wort Demokratie selbstverständlich, aber die Grundhaltung eine andere: einerseits hat der Bürger die Erwartung, dass der Staat die Probleme löst, gleichzeitig gibt es die Skepsis staatlicher Institutionen, wenn Bürger selbst aktiv werden. Man sieht es im Glauben an politische Maßnahmen wie der Mietpreisbremse, die Mieten senken soll, ohne Wohnraum zu schaffen, oder in der erwähnten Energiewende, die aber nichts zum Klimaschutz beiträgt. 

Selbst dort, wo Eltern anpacken wollen – etwa um in einer Grundschule veraltete Toiletten zu sanieren –, werden sie durch ein Dickicht aus Vorschriften blockiert. All das folgt der Logik, dass Verbesserungen nur von oben oder außen legitim sind – eine Denkweise, die für Emerson nichts anderes ist als die Einladung, Verantwortung abzugeben.

Vom Klassenzimmer bis zur Werkbank

Die Freiheit, von der Emerson spricht, duldet kein bequemes Worten auf Hilfe oder gütiger Verteilung von Privilegien. Sie kann schon gar nicht gedeihen im Klima eines Etatismus, der im Grunde Gift für geistigen und technologischen Fortschritt ist. Wo der Staat oder übergeordnete Institutionen jeden Impuls kontrollieren, genehmigen oder verhindern, notfalls auch juristisch, erstickt Eigeninitiative, bevor sie überhaupt Form annehmen kann. Ein solcher Staat lähmt seine Grundlage, weil er die Bürger zur Passivität erzieht. Man wartet, bis „oben“ entschieden wird, statt unten anzufangen.

Das Beispiel der Schultoiletten zeigt es drastisch: Eltern, die Zeit, Geld und Fachkenntnis einbringen wollen, scheitern nicht an der Arbeit selbst, sondern an einem Dschungel aus Vorschriften, Ausschreibungspflichten und Haftungsfragen. Das Ergebnis: nichts geschieht – und der Stillstand wird zur Normalität.

Diese Logik findet sich auch im Geistigen: Diskurse und Ideen werden als „unbotmäßig“ verworfen, Menschen mit Meinung erhalten kein Gehör oder es wird gegen sie persönlich argumentiert. Eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Sachfragen möchten weder der starke Staat noch seine medial präsenten Panegyriker.

Im technischen Bereich zeigt sich dasselbe: Unternehmen, die aus Erfahrung und Ingenieurskunst heraus Technologien wie den Verbrennungsmotor oder Kernkraft effizienter und umweltverträglicher machen könnten, werden durch politische Vorgaben – etwa EU-Beschlüsse zur kompletten Abschaffung bestimmter Antriebsarten – nicht zur Verbesserung, sondern zur Aufgabe gezwungen. 

Wahlen bedeuten nicht Freiheit

Noch mehr als zu Zeiten der Ampel zeigt sich in Deutschland, wie tief der Reflex sitzt, Veränderung „von außen“ zu erwarten. Protestbewegungen, die sich als Verteidiger der Demokratie verstehen, werden über undurchsichtige Finanzierung von staatlichen Stellen oder staatsnahen Institutionen unterstützt. Eine Antwort auf diese Fragen, wie diese Finanzierung funktioniert, bleibt die Regierung bis heute schuldig, auch das ein gebrochenes Versprechen. Es erzeugt Enttäuschung und nicht selten den Drang, bei der nächsten Wahl „ein Zeichen zu setzen“.

Doch genau hier liegt für Emerson der Irrtum: Wahlen sind nicht der zentrale Punkt. Denn verwaltete Freiheit und verwaltete Rechte sind weder Freiheit noch Rechte – sie sind institutionell verliehene Privilegien, die schlicht wieder entzogen werden können. Innovation, echte Gemeinschaft und echte Demokratie beginnen nicht mit staatlichen Programmen oder wechselnden Mehrheiten, sondern mit Menschen, die Verantwortung für ihr Leben und ihr Urteil übernehmen.

Für Emerson ist das Individuum keine isolierte Monade, sondern der Ursprung jeder tragfähigen Ordnung. Seine Werte sind Klarheit des Denkens, Unabhängigkeit des Urteils, moralische Integrität und der Mut, sich auch gegen den Konsens zu stellen. Nur aus solchen Menschen wächst eine Gemeinschaft, die frei ist, weil sie ihre Freiheit aus sich selbst schöpft. Genau das ist die Botschaft von „Self-Reliance”, die heute für Deutschland noch wichtiger erscheint als 1841 für die Vereinigten Staaten. 

Beitrag teilen …

Der nächste Gang …

Dietrich-Eckardt-Blog

Der Schutz des positiven Rechts

Dawid Baran Blog

Auf dem Plattenspieler: The-Dream

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte geben Sie eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed

Autoren