Das System der demokratischen Widersprüche #16
Gemeinhin wird Demokratie mit Selbstregierung oder sogar Selbstbestimmung gleichgesetzt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als solch eine Gleichsetzung. Zum Abschluss meiner Serie über das System der demokratischen Widersprüche bringe ich hier eine Zusammenfassung meiner Argumente.
Fragen wir uns, wann bzw. unter welchen Umständen in einer Demokratie ein staatliches Eingreifen angefordert werde. Die Antwort fällt ernüchternd aus: Dann fordert jemand das Eingreifen des Staats, wenn ihm das Ergebnis einer freiwilligen Interaktion missfällt. Es kann nicht anders sein, denn insoweit er mit dem Ergebnis der freiwilligen Interaktion zufrieden ist, sieht er keinen staatlichen Handlungsbedarf. Sei es, er möchte erreichen, dass die Preise der Konkurrenz höher sind (erreichbar etwa durch Zölle oder Zusatzsteuern) oder seine eigenen ohne Einkommensnachteile niedriger (erreichbar etwa durch den Erhalt von Subventionen); sei es, er möchte erreichen, dass andere Menschen kein Haschisch rauchen oder keinen Alkohol trinken dürfen (erreichbar etwa durch Prohibition), ohne dass er sie eigens überzeugen muss, von dem nach seiner Meinung lasterhaften Genuss zu lassen; sei es, er möchte erreichen, dass er selber oder andre mehr verdienen, als ihm oder den in Frage stehenden Anderen angeboten wird (erreichbar etwa durch Mindestlohn); sei es, er möchte erreichen, dass mehr Mitglieder eines speziellen Geschlechts in Parlamenten vertreten sind, ohne die Wähler dahin zu bewegen, ihre Stimme in erwünschter Weise abzugeben (erreichbar etwa durch eine Quote), und dergleichen mehr.
Um zur tatsächlichen staatlichen Maßnahme zu gelangen, bedarf es jedoch mehr, als dass eine einzelne Person unzufrieden ist mit dem Ergebnis der freiwilligen Interaktion. Sie muss solche Unzufriedenheit auch auf genügend weitere Menschen übertragen, die dann entsprechend abstimmen. Dies ist das Verfahren, welches Pierre Bourdieu «Verallgemeinerung von partikularen Interessen» nennt: Sie kennzeichne (moderne, demokratische) Staaten.
Da demzufolge die Staatstätigkeit immer dann und nur dann angerufen wird, wenn es darum geht, das Ergebnis freiwilliger Interaktionen mit einer gewaltsamen Intervention zu korrigieren, besteht unweigerlich die Folge darin, den Bereich freiwilliger Interaktion immer weiter einzuschränken. Das Symbol dieser Einschränkung ist das «Wir»; das «Wir» ist das Symbol der erfolgten und erfolgreichen Verallgemeinerung: Wenn es in «der Öffentlichkeit» (demnach: in der veröffentlichten herrschenden Meinung, der Meinung der Herrschenden) heißt, «Wir» wollen das so oder so, ist dies stets der Ausdruck dessen, dass mit Gewalt gegen freiwillige Interaktionen vorgegangen wird.
Gegen Willy Brandts bekannten Slogan von «mehr Demokratie wagen» – das bedeutet in der von Ideologie entkleideten Form nicht anderes als: «mehr Gewalt einsetzen«» – stellt die libertäre Demokratiekritik die Forderung weniger Demokratie zu wagen. Darin eingeschlossen sind selbstredend auch die Formen von sogenannten Massen- oder Volksdemokratien, die durch die westlichen parlamentarischen Demokratien als «undemokratisch» abqualifiziert werden. Auch sie operieren mit tyrannischem «Wir», bloß dass die Strukturen, in denen faschistische, kommunistische oder theokratische Staaten das «Wir» konstituieren, nicht auf freien und geheimen Wahlen basieren, sondern auf der Mobilisierung von Massen.
Dagegen sind andere Merkmale, die als demokratisch gelten und den Vorzug der Demokratie belegen sollen, wie vor allem Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, keine kausal notwendigen Zutaten der Demokratie, wie man schnell hieran ersehen kann, dass sowohl Meinungsfreiheit als auch Rechtsstaatlichkeit nicht bloß theoretisch leicht durch Mehrheiten ausgesetzt werden können, sondern historisch dies sogar oft der Fall war und aktuell ist. Daran ändert auch nichts, wenn in Verfassungen ein Junktim zwischen Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit ausgedrückt wird. Nicht nur lassen Verfassungen sich durch Mehrheitsentscheidungen weitgehend ändern oder durch Gerichtsentscheidungen dem jeweiligen Zeitgeist anpassen, sondern, wenn die Mehrheit entsprechend gewillt ist, werden verfassungsmäßige Rechte schlicht ignoriert und übergangen. Wer will die Mehrheit aufhalten?
Der Verweis von Demokraten, wegen schlechter historischer Erfahrungen mit unbeschränkten Mehrheiten habe man die Verfassung so formuliert, dass die Mehrheit die wesentlichen Grundrechte nicht antasten dürfe, ist nichts anderes als ein peinliches Eingeständnis. Denn wenn die Mehrheit nicht in einer politischen Frage wie etwa der Meinungsfreiheit entscheiden darf, warum darf sie über existenzielle Fragen wie etwa die des Zwangs zur Organspende abstimmen? Vor allem aber zeigt die verfassungsmäßige Grenze für die Macht der Mehrheit, dass der Mehrheit nicht zu trauen sei. Daran schließt sich die Frage an, warum dann Entscheidungen überhaupt der Mehrheit unterworfen sein sollten.
Aus den genannten historischen Erfahrungen leiten Demokraten ebenfalls die Maxime ab, es dürfe «keine Toleranz für Feinde der Verfassung» geben. Auch diese Aussage stellt sich bei näherer Beleuchtung als Bumerang dar. Um die Feinde der Verfassung zum Schweigen zu bringen, muss die Meinungsfreiheit aufgehoben werden, also das, was man als primär zu schützen vorgibt.
Nicht bloß das. Sobald die Feinde der Verfassung eine genügend große Masse hinter sich wissen, lassen sie sich nicht mehr verbieten, weil sie die politische Macht an sich bringen können. Die Vorstellung der Demokraten, man könne die Entstehung einer verfassungsfeindlichen Bewegung mittels des Verbots «der Anfänge» unterbinden, verkennt die Dynamik sozialer Bewegungen. Es ist doch keineswegs ein «Verführer», der die Grundlagen legt, sondern ein entsprechendes Interesse der möglichen Anhänger. Aber selbst wenn es den «Verführer» gäbe, wäre dies bloß ein weiteres, stichhaltiges Argument gegen die Demokratie: Der Mehrheit ist eben nicht und niemals zu trauen. Insofern liefern die Verfechter gegenwärtiger Demokratie ihre eigene Widerlegung.
Es stellt sicherlich das Hauptproblem der Demokratie dar, dass sie die Mehrheitsbildung anregt, dass sie das Gefühl der Mehrheit formiert. Zwar gibt es eine natürliche Tendenz der Menschen, sich mit gewissen Gruppen zu identifizieren sowie in diesen Gruppen eine gewisse Konformität an den Tag zu legen und eine solche Konformität auch einzufordern. Diese Gruppen sind jedoch immer das Ergebnis freiwilliger Interaktion. Das trifft sogar dann zu, wenn eine Person in eine Gruppe «hineingeboren» wurde wie etwa in einen Volks- und Sprachraum, in eine Religionsgemeinschaft, in eine Familie. Ob diese Person sich dann dauerhaft mit ihrer angestammten Gruppe identifiziert, wie weit sie sich konform verhält und ab welchem Grad an Nonkonformität die Gruppe eine Person ausschließt, ist weder eine Sache der formalen Abstimmung noch kann die fortwährende Mitgliedschaft oder gar das Gefühl der Identifikation erzwungen werden, ausgenommen die Staatsgewalt greift ein.
Anders gesagt: Wenn eine Gruppe ein Mitglied, das austrittswillig ist, zur weiteren Mitgliedschaft zwingt, wie das einigen religiösen Sekten vorgeworfen wird und wie es im Islam nach wie vor üblich ist, ist dies klarerweise ein krimineller Akt und geht gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Ein weiterer derartiger Fall liegt dann vor, wenn ein Partner den Anderen mit Androhung von Gewalt daran hindern will, die Ehe aufzukündigen. Allein der Staat nimmt sich das Recht heraus, die Mitgliedschaft zu erzwingen, sofern man sich auf dem von ihm beanspruchten Territorium aufhält.
Anders als die Theorie der Demokratie es behauptet, hebt die Mehrheitsherrschaft den Zwang nicht auf. Dies lässt sich schnell beweisen. Nehmen wir eine Sekte, die den Mitgliedern verwehrt, dass sie «vom Glauben abfallen»« oder aus anderen Gründen austreten. Für dieses Gebaren kritisiert, antworten die Sektenvertreter, keineswegs handele es sich um Gewalt, denn alle Mitglieder der Sekte hätten ein demokratisches Mitspracherecht, es gäbe ein Parlament der Sektenmitglieder und über wichtige Fragen fänden sogar direkte Abstimmungen statt. Sicherlich würde eine solche Verteidigung belächelt und nicht dazu führen, dass man der Sekte erlaubt, das Austrittsrecht zu verweigern.
Umgekehrt werden wir auch sofort zugeben, dass bei einer freiwilligen Mitgliedschaft in irgendeiner Gruppe es keinerlei Rolle spielt, ob es im Binnenverhältnis demokratisch zugeht oder nicht. Ob es eine große Organisation wie die Katholische Kirche oder ob es der Schachklub von nebenan ist: Wie diese Menschen sich organisieren, geht mich, sofern ich kein Mitglied bin, schlicht und einfach gar nichts an. Wenn ich aber ein Mitglied bin, mit den Binnenverhältnissen jedoch nicht einverstanden und zugleich nicht in der Lage, die Anderen davon zu überzeugen, es zu ändern, dann kann ich halt austreten.
Genau dieses meine ich, wenn ich fordere: weniger Demokratie wagen.
Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Verschwinde Staat: Weniger Demokratie wagen, Berlin 2019.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Gegen den Strich gelesen – 12 überraschend freiheitliche Denker“ veröffentlicht.
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