Auf dem Plattenspieler: Phil Collins

Künstler: Phil Collins

Song: In the Air Tonight – veröffentlicht auf dem Album „Face Value“, 1981 Virgin Records/ Atlantic Records

Wir schreiben das Jahr 1975. Die britische Band Genesis hat bereits alles erreicht, was eine Band damals erreichen kann: Millionen verkaufte Platten, unzählige Gold- und Platinauszeichnungen, künstlerische Anerkennung und eine weltweite Fangemeinde, die Stadien füllt. 

Frontmann Peter Gabriel hat sich seit geraumer Zeit zunehmend zurückgezogen, nun steigt er endgültig aus. Der charismatische Exzentriker, stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, möchte seine musikalischen Vorstellungen ohne die kreativen Kompromisse einer Gruppe verwirklichen. 

Die Trennung erfolgt im gegenseitigen Einvernehmen, wirkt jedoch riskant: Man prophezeit Gabriel großen Erfolg, Genesis dagegen den Niedergang. Der neue Frontmann – bislang Schlagzeuger der Band, Phil Collins – gilt zwar als talentiert, aber kaum jemand traut ihm zu, das künstlerische Niveau eines Peter Gabriel halten zu können.

Doch die Skeptiker sollten sich täuschen. Bis 1979 hat Collins Genesis bereits in eine glanzvolle neue Ära geführt – aber was noch erstaunlicher, und doch weniger bekannt ist: In diesem Jahr legt er auch den Grundstein für den Sound der gesamten 1980er-Jahre! Er ist es, der dieses Jahrzehnt bedeutend prägt – auch wenn er dafür selten direkt gewürdigt wird …

Die Geschichte geht wie folgt: Peter Gabriel arbeitet in jenem Jahr gerade an seinem dritten Soloalbum (interessanterweise ein Album ohne offiziellen Titel, wie auch seine ersten beiden Soloalben – ein bewusstes künstlerisches Statement, das die Musik selbst in den Vordergrund rücken soll). Bei einer der unzähligen Studio-Sessions zu der Platte ist neben Produzent Hugh Padgham auch Phil Collins dabei. 

Wie bei fast jeder Session von Gabriel wird auch an diesem Tag durch das Talkback-Mikrofon durchgehend aufgenommen. Ziel dieser kontinuierlichen Aufnahme ist es, auch spontane musikalische Einfälle festzuhalten – damit sie später bei Bedarf „richtig“ nachgespielt werden können, ohne die Idee unbeabsichtigt zu verfälschen. 

Das Talkback-Mikrofon selbst ist ein schlichtes Gerät, das eigentlich nur dazu dient, dass der Produzent direkt mit den Musikern im Aufnahmeraum sprechen kann („Der Take war nicht ideal, mach das bitte nochmal“). Padgham hat darauf zusätzlich einen Kompressor gelegt, der leise Signale verstärkt und laute absenkt, sowie ein Noise Gate, das störende Hintergrundgeräusche herausfiltert.

Während einer Pause, die die Musiker im Aufnahmeraum verbringen, spielt Collins, vollkommen beiläufig, eigentlich in ein Gespräch mit Gabriel vertieft, kurz etwas auf dem Schlagzeug. Das Talkback-Mikrofon fängt den Klang also auf – und plötzlich passiert etwas Unerwartetes … 

Durch die Kombination von Kompressor und Noise Gate entsteht beim Spielen des Schlagzeugs ein Sound, der anders ist als alles, was man bisher gehört hatte: wuchtig, „raumfüllend“, und dann abrupt verstummend – als würde jemand vor einer riesigen Halle, in der laute Musik läuft, plötzlich die schalldichte Tür zuschlagen. 

Was da technisch geschieht, lässt sich recht leicht erklären: Das Schlagzeug erzeugt einen natürlichen Raumhall. Der Kompressor verdichtet ihn. Und sobald der Pegel etwas abfällt, schaltet das Noise Gate den Hall schlagartig ab. So entsteht dieser bemerkenswerte Eindruck, als beginne der Klang in einer Kathedrale und ende in einem Vakuum; das Ohr erwartet am Ende ein natürliches Ausklingen, doch stattdessen herrscht abrupt Stille. 

Genau dieses Wechselspiel aus Größe und Präzision macht diesen Gated-Reverb, wie der Effekt später getauft wird, so besonders. Als Hugh Padgham, Peter Gabriel und Phil Collins hören, was da gerade zufällig entstanden ist, wissen sie sofort: Das ist revolutionär! 

1980 ist der Gated-Reverb erstmals auf Peter Gabriels „Intruder“ zu hören – jenem Stück, dessen Session den glücklichen Zufall im Studio entstehen ließ.

Nur wenige Monate später, während Collins an seinem ersten eigenen Soloalbum arbeitet, setzt er alles daran, diesen beeindruckenden Effekt wiederzuverwenden – und ihn noch intensiver in Szene zu setzen. Er baut das Setup aus Gabriels Session also bewusst nach: ein großer Raum, Kompression, Noise Gate … 

Und dann ergänzt er das eigentlich bereits fertiggestellte Lied „In the Air Tonight“ um diesen legendären Schlagzeugbreak – jenen Moment, in dem die Drums nach circa dreieinhalb Minuten wie eine Explosion einsetzen. Genial!

Wer die frühe, erste Version von „In the Air Tonight“ hört, erkennt sofort, wie entscheidend der Effekt für die Wirkung des Songs ist. Die erste Fassung wirkt melancholisch, ruhig, fast hypnotisch – aber noch „flach“. Einige Elemente sind anders gesetzt – selbst der Text ist größtenteils derselbe, nur in anderer Reihenfolge – sodass auch diese Version bereits eine gewisse Spannung entfaltet. Erst die finale Fassung jedoch, mit dem markanten Drum-Sound als Höhepunkt, verleiht dem Stück seine unverwechselbare Aura.

Entstanden in einer Phase, in der Phil Collins’ Ehe zerbrach, reflektiert der Songtext Wut, Enttäuschung und Resignation – ohne jemals konkret zu werden. Es ist kein „Herzschmerz-Lied“ – Collins transportiert diese Emotionen auf beinahe mystische Weise, in kurzen, dramatischen Szenen und Gedankensplittern, die auf den ersten Blick thematisch völlig losgelöst von einer Liebesbeziehung wirken. 

Und genau diese gewisse Mystik, gepaart mit dem charakteristischen Gated-Reverb, macht „In the Air Tonight“ bei seiner Veröffentlichung umgehend international zu einem überwältigenden Erfolg!

Natürlich bringt Collins daraufhin den Gated-Reverb schnell auch in Tracks von Genesis ein. Auch Peter Gabriel wendet ihn nach „Intruder“ mehrmals wieder an. Und es dauert nicht lange, bis sich der Klang wie ein Virus auf die gesamte Popszene ausbreitet: Duran Duran, Tears for Fears, Kate Bush, Spandau Ballet, Simple Minds, David Bowie, Bruce Springsteen – kaum ein großer Künstler der 80er, der nicht früher oder später auf das zurückgriff, was Collins losgetreten hatte!

Nach „In the Air Tonight“ gewann Collins’ Karriere endgültig an Fahrt: Sein Debütalbum „Face Value“, auf dem der Track erschienen ist, wurde ein weltweiter Erfolg – ebenso die folgenden Alben. Zunächst führte er  erstaunlicherweise parallel auch Genesis immer wieder zu neuen Höhen, in den Neunzigerjahren fokussierte er sich jedoch zunehmend auf seine Solokarriere. 

2022 ging er mit Genesis ein letztes Mal auf Tournee – ein stiller, aber würdiger Abschluss einer außergewöhnlichen Laufbahn. 

Heute lebt Collins wegen gesundheitlicher Probleme weitgehend zurückgezogen. Dennoch gilt er nach wie vor als einer der einflussreichsten Musiker seiner Generation – ein Schlagzeuger, Sänger und Songwriter, der Musikgeschichte geschrieben hat.

Von all den Aspekten, für die man Phil Collins bewundern kann, ist für mich jedoch keiner so entscheidend wie dieser: Er war – neben Peter Gabriel und Produzent Hugh Padgham – der eigentliche Wegbereiter des Gated-Reverb: Einer der Entdecker, einer der Ersten, die mit ihm experimentierten, er war derjenige, der sein Potenzial erkannte und ihn populär machte – und einen Sound schuf, der die Popmusik bis heute beeinflusst …

Hier für Sie auf Youtube: „In the Air Tonight“ von Phil Collins.

Hier, für den äußerst interessanten Vergleich: die ursprüngliche Version von „In the Air Tonight“.

Und hier die beeindruckende Live-Version von 2004.

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