Künstler: Blur
Song: Song 2 – veröffentlicht auf dem Album Blur, 1997 Parlophone Records
Februar 1997: Der große Grunge-Hype, losgetreten sechs Jahre zuvor durch Nirvana, scheint nicht abzuebben. Auch lange nach dem Tod Kurt Cobains ist dieser raue, laute, ungeschliffene Sound weiterhin allgegenwärtig – und das weltweit.
In einem Londoner Studio sitzt eine britische Band, die das Gegenteil von all dem ist: Blur. Sie sind vergleichsweise fröhlich, poppig, verspielt – und machen Musik, die aufgeladen ist mit Ironie und ihrem britischen Humor. Und: Sie sind zunehmend frustriert.
Der Britpop-Hype der 1990er-Jahre, den Blur selbst mitbegründet haben, beginnt Mitte der Dekade zu bröckeln. Ihr fünftes Album „The Great Escape“, 1995 veröffentlicht, war zwar noch erfolgreich – aber wurde von ihren Zuhörern bereits als repetitiv wahrgenommen und in der Folge mit deutlich niedrigeren Verkaufszahlen als seine Vorgänger abgestraft.
Blurs „direkte“ Konkurrenz, die Band Oasis, wirkte roher, emotionaler – und vor allem „amerikanischer“; was zu dieser Zeit auch der entscheidende Erfolgsfaktor zu sein schien. Die Medien befeuerten gezielt die Rivalität zwischen beiden Bands, wodurch in der öffentlichen Wahrnehmung ein direkter Vergleich entstand. Und dabei hatten Oasis Blur in kommerzieller Hinsicht längst abgehängt – denn der internationale Markt, insbesondere die USA, blieb für Blur weitgehend verschlossen …
„Grunge zu machen, ist doch keine Kunst“, sagt Sänger Damon Albarn während der ersten Studiosession zur neuen Platte – halb im Scherz, halb aus Frust über die eigene Lage. Alex James und Graham Coxon stimmen zu, greifen daraufhin zu Bass und Gitarre und lassen einen dumpfen, dreckigen Akkord erklingen – so klischeehaft, als käme er direkt aus dem „Grunge-Baukasten“. Dave Rowntree lacht und steigt am Schlagzeug ein, roh und energiegeladen – ebenfalls im typischen Grunge-Stil also. Albarn tritt schließlich ans Mikrofon und schreit ein spontanes „Woo-hoo“. Und ehe sich die Band versieht, stehen auch schon die ersten – absichtlich sinnentleerten – Songzeilen:
I got my head checked
By a jumbo jet
It wasn’t easy
But nothing it is, no
So oder so ähnlich könnte es sich an jenem Tag zugetragen haben – jedenfalls geschah alles sehr schnell und ursprünglich nur aus einem Scherz heraus. Und was da entstand, war „Song 2“ – ein Stück, das von der Band so wenig ernst genommen wurde, dass es nicht einmal einen richtigen Titel erhielt. Es war schlicht der zweite Track in der Reihenfolge der Demo-Aufnahmen.
„Song 2“ ist hörbar angelehnt an „Smells like Teen Spirit“ von Nirvana: Das Werk kracht nach einem kurzen Intro sofort los mit einem dumpfen, verzerrten Gitarrenakkord. Der Bass schleift sich bewusst plump durch die Strophen, das Schlagzeug wirkt fast unkontrolliert überdreht. Alles ist laut, kantig und überzeichnet. Albarns Gesang wechselt zwischen gelangweilt und eruptiv: in den Strophen fast nuschelnd, im Refrain dann die „Explosion“. Blur fangen wirklich exakt den gewissen Grunge-Style auf.
Bei einem Treffen mit dem Management, nach einigen weiteren Sessions, lässt die Gruppe ihr Demoband in voller Länge durchlaufen. „Song 2“ wird dabei lediglich als Scherz, zur Auflockerung der Stimmung, beibehalten.
Die Reaktion auf die Nummer? Große Begeisterung!
Gerade dieser Song wirkt auf Anhieb – und bleibt auch hängen. Die Manager wollen ihn – ausgerechnet ihn! – als Single veröffentlichen …
Die Band versteht die Welt nicht mehr. Sie wollten mit ihrer Parodie zeigen, wie vorhersehbar die Sounds, Strukturen und Klischees des Grunge geworden waren. Doch ihre Überzeichnung trifft den Genre-Ton so präzise, dass offenbar niemand den Witz bemerkt: Statt Ironie wird Echtheit gehört – statt Spott Euphorie!
Als „Song 2“ im April 1997 dann inklusive Musikvideo veröffentlicht wurde, schlug er tatsächlich auch in der breiten Bevölkerung ein wie eine Bombe: Platz 2 in den UK-Singlecharts in der allerersten Woche. In den USA – für Blur bis dahin, wie gesagt, unbetretenes Terrain – schafft es das Lied direkt in die Top Ten der „Billboard Alternative Songs“. Und das war nur der Anfang!
Binnen weniger Monate wird „Song 2“ zu einer Art „kulturellen Waffe“ und dient als Werbejingle, als Stadionhymne,– als Soundtrack für alles, was laut, rebellisch oder energiegeladen wirken soll: EA Sports lizenziert ihn für das Videospiel „FIFA: Road to World Cup 98“ (ein kommerziell erfolgreicher Meilenstein der Serie, der mit seinem Umfang, den Lizenzen und neuen Features das Genre der Fußballsimulationen nachhaltig prägte). Großunternehmen wie Nike und Microsoft nutzen ihn in ihren Werbungen. Er läuft in Filmen, Sitcoms, Sportshows, bei Firmenevents, in Clubs, auf Partys – der Track ist einfach überall.
Und während Blur in Interviews immer wieder betonen, dass das Lied ursprünglich als Scherz gedacht war, und versuchen, die plötzliche Aufmerksamkeit auf ihren eigentlichen Stil zu lenken, wächst „Song 2“ zu einem echten Evergreen heran. Der Track entwickelt ein „Eigenleben“ – unabhängig von der Band, losgelöst von ihrem sonstigen Werk. Bis heute steht er eher für sich allein und wird von den meisten gar nicht bewusst mit Blur in Verbindung gebracht.
Der riesengroße Erfolg von „Song 2“ half Blur nicht nur, endlich auch international wahrgenommen zu werden, sondern er rettete der Gruppe möglicherweise auch intern das Überleben. Die Band war 1996 nämlich am Rande der Auflösung: Streitigkeiten, kreative Differenzen, Erschöpfung.
Der Schritt zu einem neueren, etwas experimentelleren Sound – den die Band auf dem sechsten Album „Blur“ dann auch verfolgte –, angestoßen von Gitarrist Graham Coxon, war also auch ein Rettungsversuch. Und ausgerechnet der Track, der nebenbei, fast „aus Trotz“ entstand, wurde der, der ihnen die Türen wieder öffnete – und zwar breiter als je zuvor.
„Ein Scherz, der zu weit gegangen ist“, betitelte Damon Albarn das Werk einmal in einem Interview. Aber er sagte auch sinngemäß: „Manchmal muss man sich selbst loslassen, um etwas Echtes zu finden.“
Und letztere Aussage passt zum eigentlichen Kern dieser Geschichte. Denn das Lied ist nicht deshalb gut, weil es komplex ist. Es ist gut, weil es alles loslässt: ausgefallenes Konzept, gründliche Planung, ausgefeilte Produktion – wofür Blur zuvor eigentlich bekannt waren. Und gerade dadurch trifft es einen Nerv.
„Song 2“ ist für mich ein ziemlich klares Beispiel dafür, wie oft gerade das Ungeplante die größte Wirkung haben kann. Blur haben gezeigt, dass sogar ein Witz – wenn er aus dem richtigen Gefühl heraus entsteht – mehr auslösen kann als ein perfekt durchdachter Plan.
Der Track steht aber auch für etwas anderes: dass Bewegung immer besser ist als Stillstand. Statt in einer Krisensituation nur zu grübeln und nichts zu machen, ist es grundsätzlich klüger, irgendwas zu machen – selbst wenn nicht klar ist, wohin das führt. Denn genau dieses „Irgendwas“ ist manchmal das fehlende Teil, das plötzlich alles wieder zusammenbringt. Denn Glück trifft nur die, die es herausfordern …
Sehen und hören Sie hier das Musikvideo zu „Song 2“ von Blur auf Youtube.




