Der menschliche Kosmos

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Teil 1: Vorwort und Einleitung

Im Jahr 2016 –  ich hatte gerade das Rentenalter erreicht – machte ein Freund namens Hein der Frau meines Herzens einen unwiderstehlichen Antrag. Sie wies ihn ab. Er hinterließ ihr als Andenken einen Flug im Rettungshubschrauber, allerlei bunte Komaträume und uns beiden viele, viele Gründe uns zu freuen: Dass Shi Qin wieder selbständig atmete, das Bewusstsein wiedererlangte, allerlei Schläuche loswurde, die sie am Leben gehalten hatten, zum ersten Mal vom Rollstuhl aus die Koi im Teich und die wilden Erdbeeren im Park der Klinik betrachtete. Fünf Monate nach dem Antrag machte sie die ersten Schritte ohne Rollator am Ufer der Oos im schönen Baden-Baden, trat in einen Hundehaufen – was angeblich Glück bringen soll, uns aber sogleich erinnerte, dass selbst dieses Paradies nicht frei von Übeln ist.  

Viele wirkliche Glücksmomente kamen seither hinzu, früher Selbstverständliches wurde lustvolles neues Erleben, gar Abenteuer. Wir sind Ärzten, Physiotherapeuten, Logopäden, Pflegekräften, Freunden, zahl- und namenlosen Helfern im Hintergrund von Herzen dankbar, weil es ohne sie dieses Glück nicht gäbe.

Gut möglich, dass es auch die Neufassung dieses Buches nicht gäbe, denn zum einen halfen Kenntnisse und Erfahrungen, die schon die Erstauflage enthielt, bei der Rehabilitation; zum anderen wurde die Strategie des Froschs im Sahnetopf bestätigt: Wenn du dich nicht aufgibst, sondern strampelst, wird aus der Sahne Butter, dann kommst du aus dem fetten Elend heraus: froh und munter, sogar um einiges stärker und klüger.

Und da die Beweggründe nicht entfielen, aus denen ich „Der menschliche Kosmos“ geschrieben habe, weder die Sorgen, Konflikte und Ärgernisse noch die ermutigenden, bewährten Methoden des Perspektiv- und Strategiewechsels, dürfen meine Frau und ich uns aufs Erscheinen von „Kosmos 3.0“ freuen.

Von Anfang an hatten wir sachkundige Hilfe und danken unseren Freunden und Verlegern: Hans-Jürgen Salier nahm schon 2004 mein Manuskript in seinem Hildburghäuser Verlag Frankenschwelle an, sein Sohn Bastian publizierte es als eines der ersten im 2006 neugegründeten Salier Verlag in Leipzig – der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit. Hans-Jürgen war selbst ein Autor von großer Begabung; wir haben 2007 gemeinsam am Radiofeature „Wikipedias Urgroßvater – der Lexikon-Meyer“ für den SWR gearbeitet. Bastian ging – wie 1874 Carl Josef Meyers Sohn Hermann Julius – nach Leipzig und hat dort meine Romane, 2020 ein E-Book mit dem ergänzten „Kosmos“ verlegt.

Inzwischen bin ich weit jenseits der 70. Der Blick aufs Weltgeschehen bietet nur hartgesottenen Ignoranten rosige Aussichten, und nur Frösche, die gern in fetter Sahne ersticken wollen, können die Füße ruhig halten. Keine Ahnung, wie lange Zeit und Kräfte für anhaltend munteres Strampeln ausreichen. Keine Ahnung, wie groß der Topf ist, wieviele andere am rettenden Boden unter den Füßen mitarbeiten. Immerhin gibt es sie, einer ist mein Freund Oliver Gorus, Herausgeber von „Der Sandwirt“. Vielleicht gehören Sie, geneigte Leser, zu seinen Lesern, gar Unterstützern: Es wäre uns eine große Freude. Freund Hein, alias „der Gevatter“ darf im Buch nochmal auftreten – er hat aber auch hier nicht das letzte Wort.

Wollen Sie mir folgen?

Das Schicksal des Menschen ist der Mensch – Ist es nicht so?

Wie lange trauen Sie sich zu, isoliert leben zu können? Müssen Sie nicht essen, trinken, sich warm halten und soziale Grundbedürfnisse befriedigen? Brauchen Sie nicht auch andere, wenn Sie gedeihlich leben wollen – Sie können sie sich nicht immer aussuchen, und Sie werden sich immer wieder einmal fragen müssen, was sie Ihnen bedeuten und wie Sie miteinander umgehen.

Das gilt auch für die Gattung in einer immer enger werdenden Welt mit knappen Ressourcen und begrenzten Räumen. Zwar werden natürliche Katastrophen die Spezies immer gefährden – niemals werden sich Erdbeben, Überflutungen, Brände, Seuchen, Einschläge von Asteroiden oder kosmische Strahlung gänzlich beherrschen lassen – aber wir Menschen stehen heute mehr denn je vor der Frage, ob nicht unser Handeln, ob nicht unsere Formen sozialer Interaktion das eigentliche Problem sind. 

Fragen Sie sich nicht auch, ob Konflikte zwischen konkurrierenden Gruppen – Nationen, Kulturen, Ethnien, Religionen, Konzernen, Banken, Regierungen, Parteien oder sonstiger (an Stämme der Steinzeit erinnernder) Organisationsformen – unvermeidlich immer wieder in Gewalt münden müssen? Führen aggressive Strebungen, Dominanzwünsche und Gewalt als elementare Strategien des Überlebens unausweichlich zur Destruktion? 

Lob der Schwärme 

Gewalt als Schlägereien, Revolten, Kriege und Terrorattacken hat es immer gegeben, sie dauern fort und finden neue Formen im Cyberspace. Die naturwüchsige Strategie des Zusammenschlusses zu Herden, Schwärmen, Sippen, Horden, Banden, zu Staaten, Unternehmen und Verbänden oder auch zur spontanen Meute, zum Mob verbessert die Chancen des Einzelnen, alle profitieren vom Schutz, von Geborgenheit in der Gemeinschaft. Das Schicksal des Verlierers trifft immer den Einzelnen. Er hat wenig mehr als den Zufall auf seiner Seite, wenn es ums Überleben geht.

Mit der Entwicklung moderner Staaten und Firmen samt Heeren von Arbeitern und Angestellten wird das Phänomen struktureller Gewalt interessant: Es gibt Organisationen, die nach außen und innen rücksichtslos ihre Interessen zur Selbsterhaltung durchsetzen – gegen Leib und Leben des Einzelnen, gegen die Konkurrenz, das Gemeinwesen und gegen die Natur. Sie trachten danach, sich mit besonderen Rechten auszustatten – auf nationaler, zunehmend supranationaler Ebene – so dass weder sie selbst noch irgend eines ihrer Mitglieder für Fehlleistungen, gar Kriminalität, in Haftung zu nehmen wären. Solche Organisationen versuchen sowohl mit legalen wie illegalen Mitteln, die Grundlage allgemeinen Rechts zu usurpieren: das „Gewaltmonopol“ des Staates. Dass Konflikte eskalieren, dass sie in vollkommene Zerstörung münden, nehmen sie schlimmstenfalls in Kauf. Sie stellen die ihnen zugehörigen Menschen von Verantwortung frei und machen sie zu willfährigen Handlangern.

Verharmlost und verklärt: Gewalt

Der Vorgang wird an den totalitären Systemen des Kommunismus und Nationalsozialismus ebenso deutlich wie an Formen organisierten Terrors. Religiöse oder andere ideologische Verklärungen von Gewalt gab es seit je – hier nahmen und nehmen sie im Deckmantel von  Heilsversprechen an ihre Gefolgschaft die Dimension von Genoziden und Weltkriegen an. Angesichts globaler Auswirkungen, wie sie seit dem 20. Jahrhundert sowohl mit Kriegen unmittelbar, als auch mit Angriffen auf Energie- oder Finanzwirtschaft, Informations- und Versorgungssysteme einhergehen, ist zu fragen, ob Konflikte zwischen Menschen auch künftig so unvermeidlich und unbeherrschbar destruktiv bleiben müssen wie Naturereignisse.
Lässt sich das Verhalten von Milliarden Menschen nicht auf ein friedliches, ausbalanciertes Zusammenleben hin beeinflussen, auf kooperative Strategien der Individuen und ihrer Organisationen, zum Nutzen der Gattung mit ihrer Kultur (Technik) und der sie umgebenden Natur? Derzeit erscheint das – mit dem Blick auf politische Realitäten – als Wunschtraum.
Zweierlei zumindest ist sicher:

  • Konflikte sind unvermeidlich; sie erzeugen die Dynamik zwischen Gruppen von Menschen ebenso wie zwischen Individuen und dem gesamten Umfeld, mit dem alle interagieren: mit der Realität.
  • Konflikte werden in Zukunft häufig alle betreffen. Die globale Wirtschaft wird es absehbar weiterhin geben, also wechselseitige Abhängigkeiten aller von (fast) allen. Das betrifft die natürlichen Ressourcen ebenso wie den Informationsaustausch.

Angesichts dieser mit dem abgedroschenen Begriff „Komplexität“ unzulänglich beschriebenen Lage ist nichts verdächtiger als Heilslehren.

Gewalt – Macht – Lust

Die Frage nach dem Überleben der Menschheit ist – spätestens seit dem nuklearen Gleichgewicht des Schreckens – die Frage nach einem Umgang mit Konflikten, der Gewalt begrenzt. Wie soll das gehen?

Natürlich lässt sich eine Elementarstrategie, wie die Gewalt es ist, nicht einfach abschaffen. Sie hat zum Überleben der Gattung beigetragen wie die Paarung zur Fortpflanzung. Menschen erleben andauernd, welches Glücksgefühl entsteht, wenn ein „Befreiungsschlag“ gelingt, wenn Fesseln gesprengt werden, wenn das Übermächtige und Bedrohliche zu Boden stürzt und zerschmettert werden kann – wie Hitlers Führerbunker und der Stacheldraht um die Arbeitslager Stalins, wie die Berliner Mauer, wie der israelische Panzer, Hamas-Tunnel oder Taliban-Bunker, der in die Luft fliegt, wie der Kinderschänder, der einer rächenden Meute in die Hände fällt. Gewalt macht Lust, wenn sie „das Böse“ austilgt, und dieser Lust überlassen sich tagtäglich, zu jeder Stunde und Minute, in jedem Augenblick Millionen Menschen im Fernsehen, im Kino, im Theater, im Stadion oder im Panzer, mit der Steinschleuder in der Hand, im Düsenjäger, mit dem Messer oder der Maschinenpistole – oder im Bordell bei einer Minderjährigen. Oder auch mit dem Federhalter überm Papier, dem Mikrofon vor der Nase, der Kamera auf der Schulter, dem Programm zum Verarbeiten von Text und Bildern oder dem 3-dimensional animierten Killerspiel auf dem Monitor. GEWALT MACHT LUST.

„Das Böse“ sind immer die anderen.

„Gewalt Macht Lust“ – das ist ein Dreigestirn von fast ebenso metaphysischer Dimension wie „Glaube Liebe Hoffnung“. Aber mit der Moral und Metaphysik von Gut und Böse ist ihm ebenso wenig beizukommen, wie mit dem Schraubenzieher des mechanischen Zeitalters, das den Menschen als vernunftbegabtes Tier und den Kosmos als Räderwerk aufeinander folgender Ursachen und Wirkungen ansieht.

Gewalt ist weder gut noch böse, dazu macht sie nur und ausschließlich menschliche Wahrnehmung. Ebenso wenig ist sie „gerecht“ oder „ungerecht“ – dazu macht sie ausschließlich die Wahrnehmung und Interpretation ihrer Opfer oder Nutznießer.
Eines aber ist Gewalt ganz sicher: sie ist immer an ein Ziel gebunden, sie ist eine Elementarstrategie zum Erlangen eines Ziels. Das Ziel kann sein, zu vermeiden, dass ein anderer sein Ziel erreicht.

Wer dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt entkommen will, muss vor allem aufhören, zwischen „böser“ und „guter“, „gerechter“ und „ungerechter“ Gewalt zu unterscheiden. Er darf nicht nur nach vermeintlich rechtfertigenden Ursachen fragen, er muss vielmehr die ZIELE der Handelnden erkunden. 

Der Einzelne – wie das als Subjekt handelnde Kollektiv – wird seine Wahrnehmung mittels wechselnder Perspektiven ertüchtigen müssen. 

Der gekränkte Mensch 

Das Bild des Menschen von sich und seiner Umwelt wandelt sich fortwährend, selten freiwillig. Sigmund Freud und manche gegenwärtigen Autoren sehen etwa in der „Kopernikanischen Wende“, in Darwins Evolutionslehre, in Freuds Psychoanalyse  „Kränkungen der Menschheit“. Neue Kränkung sei von der Künstlichen Intelligenz zu erwarten. 

Kränkung oder nicht: Seit je offenbaren Vorstellungen vom Menschen vor allem  erstaunliche, bisweilen erschreckende Redundanz, selten dagegen neue Farben und Konturen. Beachtliche Beiträge lieferten etwa der amerikanische Philosoph Alva Noë mit seinem Buch „Du bist nicht Dein Gehirn“ – zu einer „radikalen Philosophie des Bewusstseins“ und Rüdiger Safranski mit „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“. 

Die Physik erweiterte ihr Weltbild seit Beginn des 20. Jahrhunderts um Relativitäts- und Quantentheorie. Sie revolutionierte das wissenschaftliche Denken, Forschung und Technik, auch die Philosophie, vor allem aber die Informationstechnologie. Mit dem Boom der digitalen Kommunikation, der globalen Netzwerke und deren Allgegenwart verschoben sich Konkurrenzen um die Macht zwischen deren materieller und informeller Dimension.

Wirtschaft und Politik – natürlich auch die ihnen hörigen Medien – folgen aber gewohnheitsmäßig  den Mustern mechanischer Dominanz. Sie zeigen das Universum als ununterbrochene zeitliche Abfolge von Vorgängen, durch Ursache und Wirkung verknüpft.  Der Mensch ist herausgehobenen Beobachter, der seine Sicht mittels immer besserer Instrumente zu einem „objektiven“ Bild, zur „objektiven Wahrheit“ vervollkommnet. Um die vermeintliche Wahrheit wird erbittert konkurriert – es ist nicht mehr und nicht weniger als der Kampf um informelle Macht. In deren Besitz wähnte sich der Marxismus-Leninismus und beanspruchte die Weltherrschaft mit dem Versprechen, das Wohl der Menschheit mittels Planwirtschaft durchzusetzen. Leicht abgewandelt ersetzen heutige kollektivistische Bewegungen den „Godmode“ objektiver Erkenntnis durch die „Weisheit der Vielen“, „Schwarmintelligenz“ oder – so kurz wie kindisch – durch das simple „Wir sind mehr“. 

Dieses Vorgehen hat sich in der Wechselwirkung zwischen Sinnen, Umgebung und Gehirn durchaus bewährt. Es hat der Menschheit und ihrem Instrumentarium enorme Erfolge ermöglicht – es hat sie allerdings auch an den Rand der Selbstvernichtung geführt. Die Frage „Warum“ ermöglichte, Krankheitserreger und „Schädlinge“ auszurotten, Schuldige zu identifizieren, zu bestrafen in der Hoffnung, andere Missetäter abzuschrecken. Die Masse folgte dem Erfolg fast jederzeit, ohne sich über die Theorie dahinter und mögliche weitere Folgen Gedanken zu machen. So ließen Ausrottungsfeldzüge – etwa mit  Antibiotika – immer gefährlichere Krankheitskeime heranwachsen, manche „Schädlingsbekämpfung“ vergiftete die Umwelt bis zur Unbewohnbarkeit. Kriminalität ließ sich durch grausamste Verfolgung nie beherrschen, stattdessen organisiert sie sich längst in weltweit agierenden Netzen und Konzernen. Derweil zerstören Überwachung, Denunziation, Folter, Lagerhaft, Übergriffe von Staats wegen das Vertrauen vieler Bürger nicht nur in autoritär sondern auch in demokratisch verfasste Regierungen. Der Zugriff auf die „Ursachen“ löste immer nur Teile eines Problems und erschuf neue. Die Frage „Warum“ führt zu Antworten von sehr begrenztem Wert. 

Wie wäre es,  stattdessen öfter zu fragen „WOZU“? Genau das versucht dieses Buch.

Vielleicht ist es ein besonders unvollkommenes Buch, aber es bietet Ihnen, den Lesern und Hörern an, es zu verbessern. Als ich es vor über 20 Jahren begann, war klar, dass es niemals fertig wird. Drum sind Ihre Kommentare willkommen, dank Internet ist es möglich, während Sie es Folge für Folge lesen oder hören, direkt mitzuwirken. Sie können einfach nur sagen „Artikel zu lang“ oder „zu kurz, mehr in einer Folge!“ oder Argumente posten, wie’s zu verbessern wäre. Abonnieren Sie – den Wurlitzer-Podcast bei Spotify, Apple, einem anderen Anbieter oder schauen sie einfach Donnerstags beim Sandwirt vorbei. Die Gäste sind unser wichtigster Ansporn. Jeden Tag.

 

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