Das System der demokratischen Widersprüche #14
Ein überzeugter Nichtwähler kriegt in jeder Diskussion irgendwann um die Ohren geschlagen: «Und 1933 hättest du also nicht gegen Hitler gestimmt?» Der Ton besagt, dass das keine Frage ist, sondern ein moralisches Vernichtungsurteil. Fast klingt es so, als habe der Nichtwähler bereits für Hitler gestimmt: Demzufolge tritt der politische Skeptiker für Repression ein, ist angeblich ihre eigentliche Ursache, während alle politisch Agierenden die Repression verhindern könnten.
Dieses Argument wird übrigens genutzt, egal ob man Annalena Baerbock oder Alice Weidel für die Inkarnation Adolf Hitlers hält. Parteien achten auf hohe Wahlbeteiligung. Zwar hängt ihre Wahlkampfkostenerstattung nicht von der Höhe der Wahlbeteiligung ab, vielmehr ausschließlich vom relativen Stimmenanteil. Doch auch schlichten Gemütern in jeder Partei leuchtet ein, dass nur eine hohe Wahlbeteiligung der angestrebten Machtausübung einen Glanz demokratischer Legitimität verleiht.
Nun ist die Vorhaltung – «Ergo hättest du 1933 nicht gegen Hitler gestimmt!» – weit weniger überzeugend, als es auf dem Hintergrund einer fraglosen Glorifizierung der Demokratie zunächst erscheinen mag. Weder damals noch heute gibt es überhaupt eine Option gegen irgendwen zu stimmen, weder Adolf Hitler noch Annalena Baerbock oder Alice Weidel. Es ist möglich, für eine andere Partei zu stimmen. Und an dieser Stelle scheiden sich dann die Geister der jeweiligen Agitatoren sehr schnell. Hätte ich die KPD wählen sollen? 1933 war der Holodomor in der Ukraine noch im Gange. Unter den deutschen Kommunisten, die vor den Nationalsozialisten in die Sowjetunion fliehen konnten, lag die Überlebensrate nicht höher als im NS-Staat.
Was geschehen wäre, wäre 1933 die Macht an die KPD übergeben worden, wissen wir nicht. Dass es wesentlich glimpflicher verlaufen wäre als unter der NSDAP, ist zweifelhaft. Also nicht KPD. Hätte ich die SPD wählen sollen? Folglich die Partei, die wesentlich zu der Entwicklung der Weimarer Republik hin in die Richtung beitrug, dass rund ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung sich einen Adolf Hitler herbeisehnt? Als ein Katholik könnte ich das «Zentrum» wählen. Aber, ups, Franz von Papen, einer der führenden Politiker aus dem Zentrum, fungiert als Hitlers Steigbügelhalter. Andere Parteien sind unbedeutend und entsprechend klein; es macht keinerlei Unterschied aus, sie zu wählen oder es bleiben zu lassen. Sie haben von vorn herein nicht die Möglichkeit und befinden sich nicht in einer Position, um Hitler «aufzuhalten».
Hätte es überhaupt einen Unterschied ausgemacht, wenn ich 1933 hätte wählen können und nicht die NSDAP gewählt hätte? Natürlich nicht. Um einen sichtbaren Unterschied zu bewirken, wären mindestens zwei Millionen Menschen notwendig gewesen, die anders stimmen. Selbst das wäre auf kaum mehr als fünf Prozent hinausgelaufen. Es kommt demnach nicht drauf an, ob oder dass ich zur Wahl gehe und eine Partei «nicht wähle», indem ich für irgendeine andere Partei votiere, sondern dass es Millionen mit mir tun.
Nun bin ich also laut dem Gedankenspiel gar kein einzelner kleiner Wähler mehr, der bloß für sich selber entscheidet, vielmehr weiß ich Millionen hinter mir. Mit Millionen von Anhängern allerdings lässt sich auch ein anderes Gedankenspiel anstellen. Wenn Millionen Menschen nicht zur Wahl gegangen wären, was wäre geschehen? Die Wahlbeteiligung hätte nicht bei nahezu 90 Prozent wie im März 1933 gelegen, sondernwäre vielmehr drastisch gesunken. Die Nichtwähler hätten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die Nase nicht bloß von der Politik, sondern darüber hinaus vom Prinzip des Staats voll haben, dass sie ein radikales liberales Programm wollen, wie Ludwig von Mises es 1927 in dem Essay «Liberalismus» entwarf! Sowohl Hitler als auch die KPD hätten dumm aus der Wäsche geschaut und mit allen übrigen Funktionären sich andere Jobs suchen müssen.
Ist das eine unrealistische Vision? Aber wenn dies eine unrealistische Vision ist, warum ist es keine «unrealistische» Vision, dass 1933 zwei Millionen Menschen, die die NSDAP gewählt haben, dies hätten sein gelassen, einzig und allein aus dem Grund, weil da ein Kerl aus der Zukunft zu ihnen stößt und still und leise und heimlich in der Wahlkabine sein Kreuz anderswo als bei der NSDAP macht? Übrigens weiß ich immer noch nicht, wie ich in der Weise wirksam hätte anders abstimmen können, dass ich Hitlers Kanzlerschaft verhindere.
Das Unrealistische an der Vorstellung, die einzelne Wählerstimme könnte das gesamte Ergebnis beeinflussen und damit womöglich eine zukünftige politische Katastrophe verhindern, ist nicht nur und vielleicht nicht mal vornehmlich die statistische Bedeutungslosigkeit der einzelnen Wählerstimme. Immerhin wäre es mathematisch möglich (obzwar eher unwahrscheinlich), dass selbst bei einer Wahl mit Millionen Stimmberechtigten eine einzelne Stimme den Ausschlag über Sieg oder Niederlage einer Partei gibt. Das Unrealistische ist die Voraussetzung, dass dem Votum für das vermeintlich größere Übel keine Gründe unterliegen. Die Wähler der NSDAP aber haben nicht etwa für Konzentrationslager und den zweiten Weltkrieg gestimmt, sondern für mehr Arbeitsplätze, stabile Währung, Sicherheit und Ordnung, Schutz vor Ausbeutung und vielleicht auch ein wenig Nationalstolz.
Natürlich könnte man sich wünschen, die Wähler hätten eingesehen, dass ihre Ziele sich nicht mit Hilfe des Führers verwirklichen lassen. Allerdings wäre das bloß über die Einsicht möglich gewesen, dass kein politisches System, dass keine Gewalt in der Lage ist, gute Ziele umzusetzen, vielmehr die freie Kooperation freier Menschen. Die übrigen Parteien versprachen damals nämlich nahezu das Gleiche wie die NSDAP, wenn auch jede mit den ihr eigenen Schwerpunkten. Aber diese Parteien hatten gezeigt, dass sie es nicht vermögen, ihre Versprechen umzusetzen. Insofern wäre auch schon damals die erfolgreiche Alternative dazu, Hitler «nicht zu wählen», indem man irgendeiner anderen Partei seine Stimme gibt, die gewesen, die Wahl zu verweigern und das System staatlicher Herrschaft zu delegitimieren.
«Der Mensch ist gut, die Leut’ sind schlecht», fasste mein Vater die Lehre seines intellektuellen Helden Jean-Jacques Rousseau zusammen. Der Philosoph, auf den wegen einseitiger Lektüre (wenn überhaupt Textkenntnisse vorhanden sind) die Legitimation der Demokratie durch die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags zurückgeführt wird, war in Wirklichkeit skeptisch, was die Moral der Masse betrifft.
In seinem Hauptwerk, dem Erziehungsroman «Emile», widmet er sein ganzes Leben dem Zögling Emile und der ihm zugedachten Braut Sophie. Doch in einer leider weit weniger bekannten, erst posthum veröffentlichten Fortsetzung «Emile und Sophie oder die Verlassenen», die den Weg von Emile und Sophie als Erwachsene nachverfolgt, schreibt der erwachsene und mit Sophie verheiratete Emile an seinen Lehrer, wie sie all seiner Erziehung zum Trotz den Verlockungen und Versuchungen der Großstadt erlegen sind: «Wie soll ich [der erwachsene Emile] mit Ihnen [dem Lehrer Jean-Jacques] sprechen über die zwei Jahre, welche wir in dieser unglücklichen Stadt [Paris] zubrachten und über die grausamen Wirkungen, welcher dieser giftvolle Aufenthalt für mein Gemüt und für mein Schicksal gehabt hat?»
Welche Ohnmacht der besten aller denkbaren Erziehung, deren Bemühungen ein kurzer Aufenthalt im Sündenpfuhl zunichte macht!
Demokratie war für Rousseau (wie übrigens auch für James Madison) nicht das Instrument, mit dem die Vorstellungen der Massen sich durchsetzen, sondern im Gegenteil hoffte er darauf, dass die Unterschiedlichkeit der Vorstellungen sich gegenseitig aufhebe und am Ende ein bloß negatives Programm gegenseitigen In-Ruhen-Lassens herauskomme. Doch glaubte er selber nicht so recht an das Gelingen, denn resigniert stellte er im «Gesellschaftsvertrag«» fest, auch mit der optimal eingerichteten Verfassung würde die Regierung irgendwann ins Despotische abgleiten.
Uneingestanden, logisch allerdings unabweisbar macht die heutige Demokratie genau die umgekehrte Voraussetzung wie Rousseau: Der Mensch sei schlecht, die Leute gut. Ob es um die Verwendung von Energiesparlampen statt Glühbirnen, ob es um die Aufnahme von Flüchtlingen, ob es um das Verzehren von Gemüse statt Fleisch, ob es um Natur- und Umweltschutz, ob es um Kleinigkeiten oder um große Fragen des Lebens geht, das moralisch und ökonomisch rechte Verhalten soll dem anscheinend uneinsichtigen oder gar böswilligen Einzelnen durch die Gewalt der Mehrheit aufgezwungen werden.
Schauen wir uns die Konstruktion auf ihre Voraussetzungen an, begegnen wir den folgenden Merkwürdigkeiten: Sofern die politischen Entscheidungsfindungen demokratisch von statten gehen, muss idealtypisch angenommen werden, dass die Mehrheit das Richtige wolle. Denn ansonsten würde sie ja anders stimmen. Die Einzelnen, die zu dieser Mehrheit gehören, also jeder Einzelne, der für das Richtige stimmt, kann demnach nicht uneinsichtig oder böse sein, außer eine uneinsichtige oder böse Einstellung in jedem Einzelnen würde durch einen mysteriösen Verwandlungsprozess bei der Stimmabgabe zu einer guten Einstellung der Mehrheit transformiert. All diese Einzelnen, die die Mehrheit bilden, müssten ja das Richtige ganz ohne Zwang tun können. Wer könnte sie daran hindern?
Das Lästige an den sogenannten «Gutmenschen» ist nicht, dass sie Gutes tun (oder zumindest subjektiv meinen, es zu tun), sondern dass sie es gerade nicht tun; hingegen meinen, andere dazu zwingen zu dürfen, zu sollen, geradezu zu müssen. Gleichwohl stellt sich hier wiederum die Frage nach dem Verhältnis, in welchem die Gutmenschen zu den «Ungutmenschen» vorkommen. Falls die Ungutmenschen als Mehrheit angesehen werden, müssten die Gutmenschen gegen die Demokratie in jeglicher Form sein und nicht nur gegen die direkte Demokratie, wie sie es zunehmend auch tatsächlich sind angesichts der Erfolge rechtspopulistischer außerparlamentarischer Opposition. Sie müssten für eine Erziehungsdiktatur der «Anständigen» eintreten, für einen jakobinischen Tugendterror.
Die Obsession der Gutmenschen, das Gute auf Kosten von Anderen durchsetzen und tun zu wollen (womit sie aber den Begriff des moralisch Guten demontieren), kann sich auch schlecht darauf beziehen, dass die Recht handelnde Mehrheit die uneinsichtige und böse Minderheit ausbeutet. Eine Mehrheit, die die Minderheit ausbeutet, ist schlecht beraten. Ihr Gewinn fiele doch allzu klein aus, wenn das, was Wenige produzieren, unter Zuvielen verteilt werden müsste.
Näher liegt da die Annahme, dass diejenigen, die von dem Zwang des Gutmenschentums in der Demokratie profitieren, eine kleine Minderheit stellen, die sich auf Kosten der Mehrheit gütlich tut. Diese Mehrheit ist wahrscheinlich weniger böse als vielmehr gutgläubig. Sie nimmt das, was die Ausbeuter für Gutmenschentum ausgeben, für bare Münze. Sie verwechselt die Ideologie mit einem realen, ökonomischen Interesse. Anti-Kapitalisten wollen verhindern, dass die Menschen selber entscheiden, mit wem sie arbeiten und mit wem sie handeln wollen, zu welchen Bedingungen. Diese anti-kapitalistische Haltung als «emanzipativ» zu bezeichnen, ist ein (schlechter) Witz. Sie halten die Masse für unfähig, sich selber zu organisieren, aber für fähig, über Andere zu befinden.
Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus, Berlin 2017.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt das Buch „Gegen den Strich gelesen – 12 überraschend freiheitliche Denker“ veröffentlicht.
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Es gab 1933 keine freier Wahl mehr.