Gewissen gegen Staat: Thoreau

Henry David Thoreau zog sich an den Walden-See zurück und formulierte mit „Civil Disobedience” ein radikal individuelles Moralprinzip. In einer Zeit, da der Staat in Deutschland so übergriffig ist wie selten zuvor, gewinnt seine Idee vom Gewissen über dem Gesetz erschreckende Aktualität.

Vom Harvard-Absolventen zum Eremiten

Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren. Nach einem Studium in Harvard arbeitete er unter anderem als Lehrer, Landvermesser und Schriftsteller. Im Jahr 1845 zog er in eine selbstgebaute Hütte am Walden-See, einem Gletschersee nahe seiner Heimatstadt, wo er zwei Jahre in weitgehender Zurückgezogenheit lebte. Sein Erfahrungsbericht „Walden” gilt heute als Klassiker der amerikanischen Literatur. Thoreau wollte zeigen, dass ein einfaches, bewusstes Leben in Einklang mit der Natur möglich und Ausdruck einer politischen Haltung ist. 

Abbildung: Henry David Thoreau um 1856 –Foto: Benjamin D. Maxham, Library of Congress, Public Domain.

1846 verweigerte er die Zahlung der Kopfsteuer an den Staat Massachusetts. Er protestierte damit gegen Sklaverei und den von ihm als imperialistisch kritisierten Krieg der USA gegen Mexiko. Für diese Weigerung wurde er kurzzeitig inhaftiert, bis ein Verwandter die Summe ungefragt beglich. Thoreau lehnte die Zahlung ab, da sie seiner moralischen Überzeugung widersprach. 

Aus dem Vorfall entwickelte er seinen Essay „Civil Disobedience”, erstmals  1849 veröffentlicht. Darin formulierte er die Idee eines gewaltfreien Widerstands gegen staatliche Gesetze, die dem eigenen Gewissen widersprechen – ein Gedankengut, das später Denker wie Gandhi, Martin Luther King oder Hannah Arendt inspirierte.

Kerngedanken und Konsequenzen

Im Zentrum von „Civil Disobedience” steht die Überzeugung, dass das Individuum die höchste moralische Instanz über dem Staat bleibt. Gesetze allein begründen für Thoreau keine Gerechtigkeit, vielmehr müsse jeder Mensch eigenverantwortlich prüfen, ob staatliches Handeln mit dem eigenen Gewissen vereinbar sei. Wenn das nicht der Fall ist, ist Ungehorsam nicht nur erlaubt, sondern geboten. 

Hier hat er einen berühmten Vorläufer, der es ähnlich formulierte, wenn auch mit anderem Hintergrund: Augustinus von Hippo. 

Thoreau plädiert für einen gewaltlosen, aber konsequenten Rückzug der Zustimmung: Wer Unrecht erkennt, dürfe sich nicht mitschuldig machen – etwa durch Steuerzahlungen, die Kriege oder Unterdrückung finanzieren. Er fordert dabei eine höhere Form der Staatsbürgerlichkeit, die Prinzipien über Bequemlichkeit stellt.

Dabei ging es ihm nicht darum, Gesetze aus Eigennutz zu brechen, sondern aus Pflicht gegenüber dem eigenen Gewissen. Wer gegen ungerechte Gesetze handelt, müsse bereit sein, Strafe zu erdulden, um so öffentlich zu zeigen, dass moralische Verantwortung schwerer wiegt als persönliche Bequemlichkeit. Thoreau glaubte, dass dieses stille, standhafte Nicht-Mitmachen – gerade weil es das Gesetz bricht, aber keine Gewalt anwendet – letztlich das wirksamste Korrektiv gegen staatliches Unrecht sei.

Thoreau fordert in seinem Essay weit mehr als nur die Verweigerung von Steuerzahlungen. Für ihn darf ein Einzelner keine Form der Zusammenarbeit mit einem Staat eingehen, der offenkundig Unrecht unterstützt, weder durch die Übernahme eines Amts noch durch blinde Teilnahme an Wahlen, die er spöttisch als „eine Art Glücksspiel mit leicht moralischem Anstrich“ bezeichnet. Jeder müsse sich zumindest weigern, Unrecht praktisch zu unterstützen, wenn er es schon nicht aktiv bekämpfen könne. Er schrieb: 

„Under a government which imprisons any unjustly, the true place for a just man is also a prison.“ / „Unter einer Regierung, die jemanden zu Unrecht einsperrt, ist der wahre Platz für einen gerechten Menschen ebenfalls das Gefängnis.“

(Henry David Thoreau, “Civil Disobedience”, 1849) 

Gewissen als Maßstab

Für Thoreau ist der mündige Bürger kein Rädchen im Staatsgetriebe, sondern ein eigenständig urteilender Mensch. Der Bürger ist also der Souverän. Sein Maßstab ist nicht das Gesetzbuch, sondern das Gewissen – jene innere Instanz, die uns mahnt, Unrecht auch dann nicht zu dulden, wenn es von Institutionen sanktioniert wird. 

Gewissen entsteht dabei nicht allein aus Erziehung oder Konvention, sondern aus dem mutigen Akt, selbst zu denken und zu fühlen, wo Recht und Gerechtigkeit auseinanderfallen. Thoreau fordert, dass jeder Bürger sich dieser Verantwortung stellt: Gesetze mögen Mehrheiten widerspiegeln, aber Moral wurzelt tiefer. Erst wer bereit ist, das eigene Handeln kritisch zu prüfen und notfalls in Opposition zum Staat zu treten, erfüllt für ihn die Idee einer wahrhaft demokratischen Bürgerschaft.

„The only obligation which I have a right to assume is to do at any time what I think right.“ / „Die einzige Verpflichtung, die ich übernehmen darf, besteht darin, jederzeit das zu tun, was ich für richtig halte.“

(Henry David Thoreau, “Civil Disobedience”, 1849)

Thoreau war, genau genommen, ein radikal individualistischer Denker, der die Freiheit des Einzelnen über die Ansprüche des Staates stellte. Damit lässt er sich als libertär bezeichnen, allerdings fernab moderner ökonomischer Verkürzungen. Libertär meint hier das Primat des Gewissens und der Selbstverantwortung gegenüber staatlichem Zwang, nicht die Verteidigung entfesselter Märkte. Eine „liberale” Mischung aus marktförmiger Deregulierung einerseits, verzahnt mit staatlich angeordneten Steuerungsmaßnahmen der Wirtschaft und einer Verbindung von Politik, Unternehmen und Lobbyisten hat mit Thoreaus Denken wenig zu tun. Sie gleicht eher einem Korporatismus, den er entschieden abgelehnt hätte. Er misstraute jeder konzentrierten Macht, sei sie politisch oder wirtschaftlich. Sein Freiheitsbegriff wurzelte in moralischer Selbstprüfung, nicht in Profitinteressen. Gerade das macht ihn zu einem frühen Mahner gegen jede Form der institutionellen Bevormundung.

Romantik und Verantwortung

Thoreaus Gewissensethik speiste sich nicht aus kirchlichen Dogmen, sondern aus einer intuitiven, fast naturmystischen Überzeugung von einer höheren Ordnung, der sich der Einzelne unmittelbar verantwortlich wusste, allein im stillen Dialog mit sich selbst und der Welt. Diese Haltung trägt unverkennbar Züge der Romantik: die Idee, in der unberührten Natur einem moralischen Urgrund zu begegnen, der den Menschen zugleich erhebt und bindet. 

Doch anders als europäische Romantiker verknüpfte Thoreau diese Schwärmerei mit einem nüchternen, fast handwerklichen Moralismus. Sein Rückzug an den Walden-See war weniger Flucht aus der Welt als ein radikales Experiment, um zu zeigen, wie eng persönliche Freiheit und Verantwortung für das Richtige tatsächlich verbunden sind.

Gerade heute, da politische Fehlentscheidungen die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands gefährden und das soziale Gefüge brüchig wird, auch die Meinungsfreiheit unter Druck gerät, gewinnt Thoreaus Appell eine beklemmende Aktualität. In einer Gesellschaft, in der antisemitische Übergriffe zunehmen und zugleich eine wachsende Zahl schwerer Straftaten von bestimmten, aus dem Ausland stammenden Tätern begangen wird, zeigt sich ein beunruhigender Erosionsprozess der inneren Sicherheit. Darüber hinaus hat der Staat, wie wir ihn kennen, derzeit nur eine Antwort auf diese Probleme, und diese lautet: weitere Eingriffe in das Leben der Bürger.

Ganz gleich, wo man sich politisch verortet: Eine Demokratie, die nicht bereit ist, solche Entwicklungen klar zu benennen und ihnen entschlossen zu begegnen, setzt das Vertrauen in ihre Rechtsordnung, das Zusammenleben und ihre moralische Integrität aufs Spiel. 

Thoreau mahnt, dass hier nicht der Staat gefordert ist, sondern jeder Einzelne: durch Wachheit, moralische Entschiedenheit und die Bereitschaft, Unrecht zu widersprechen, wo immer es auftritt. Dabei ist es gleichgültig, ob dieses Unrecht von Mehrheiten, Minderheiten oder der eigenen Regierung ausgeht. 

Sein Gedanke des Gewissens über dem Gesetz ist damit kein bloßes historisches Dokument, sondern die letzte Bastion, an der sich die Würde des Menschen und die Freiheit des Gemeinwesens entscheiden. Eine solche Entscheidung für Würde und Freiheit ist nicht nur an verbalen Widerspruch, sondern auch an Taten gekoppelt.

Hinweis: Im Sandwirt erschien im Januar 2024 ein weiterer Artikel über Thoreau, nämlich von David Engels.

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